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Tomi-Ungerer-Retrospektive
Kinderbücher, Werbung, Kulturclash

Tomi Ungerer verbindet das Gefällige und Akkurate mit dem politisch Brisanten und dem erotisch - im wahrsten Sinne - Aufgepeitschten. Im New Yorker Drawing Center ist eine Retrospektive des 83-jährigen Künstlers zu sehen.

Von Sacha Verna |
    Das Blatt zeigt eine trauernde Freiheitsstatue, deren eine Hand blutig ans Kreuz genagelt ist, während die andere einen Stapel Zeitungen umklammert. Daneben steht in blau-roten Grossbuchstaben: Liberté crucifiée – Gekreuzigte Freiheit. Die Zeichnung ist am 9. Januar dieses Jahres entstanden, zwei Tage nach dem Massaker in der Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. Sie bildet die jüngste Arbeit in der Retrospektive auf den Illustrator und Kinderbuchautor Tomi Ungerer im New Yorker Drawing Center.
    "Es sei eine Reaktion auf die Ereignisse in Paris, erklärte Tomi Ungerer der Kuratorin Claire Gilman, als er ihr die Zeichnung überreichte. Aber, so fügte er hinzu, sie hätte jederzeit entstehen können."
    Ungerers Dämonen
    Das stimmt. Gleich links davon hängt ein Plakat in Weiss und Gelb mit schwarzem Hintergrund, das Ungerer 1992 für die Organisation "Reporter ohne Grenzen" entworfen hat: Der nackte gefesselte Oberkörper eines kahlen Mannes mit verbundenen Augen, dem das Schriftgut in den Mund gestopft worden ist. Rassismus, Faschismus, Extremismus, Terrorismus und vor allem sämtliche Formen der Gewalt – sie bezeichnet Tomi Ungerer als seine Dämonen.
    Diese Ausstellung präsentiert das Werk des 83-jährigen in seiner ganzen Vielfalt. So sind neben den Vorlagen zu Kinderbuchklassikern wie "Der Mann im Mond" und "Die drei Räuber" die Entwürfe für Werbekampagnen zu sehen, die Ungerer für Bonduelle, das famose Zartgemüse aus der Dose illustriert hat. Es gibt Skizzen vom Einzug der Deutschen Wehrmacht in seine Geburtsstadt Strassburg und das geheime Tagebuch aus den Kriegsjahren, in dem der Junge mit dem virtuosen Strich den Führer karikierte.
    Als Tomi Ungerer 1956 nach New York zog, machte er sich überraschend schnell einen Namen. Man schätzte die schlichte Direktheit seines Stils, eine Qualität, die Ungerer beibehalten hat. Aus den 1960er Jahren stammen die Poster, die er für die New York Times und die Village Voice konzipierte. Die Columbia University beauftragte ihn mit einer Serie gegen den Vietnamkrieg. Das Flugzeug, das Geschenke und Bomben abwirft, die Lady Liberty, die einem Vietnamesen in den Rachen gerammt wird, waren den Verantwortlichen dann aber zu riskant.
    Persona non grata in den USA
    Als riskant, jedenfalls in den Vereinigten Staaten, erwiesen sich auch die Arbeiten, die im Drawing Center in einem separaten Raum untergebracht sind. Wegen seiner erotischen Werke sei er in den USA zur Persona non grata erklärt worden, sagt Tomi Ungerer. Da sind Damen in verschiedenen Posen der Unterwerfung oder mit Peitsche und ein Superman, der aus verschiedenen Penissen gleichzeitig schiesst. Sie wirken eher kitschig als krass. Doch beschuldigte man Ungerer auf einem Kinderbuchkongress, ein Doppelleben zu führen, worauf er nach Kanada und dann nach Irland übersiedelte. Seine Bücher verschwanden nach und nach aus den amerikanischen Schulen und Bibliotheken.
    "Heute wüssten manche Amerikaner nicht einmal, dass Tomi Ungerer noch aktiv sei."
    Kein Wunder also ist diese Retrospektive im Drawing Center die erste in Amerika. Dem Titel "All in One", "Alles in Einem" wird sie gerecht.
    Statt für Nostalgiker nur mit Schweinepapa Mellops oder Teddybär Otto aufzuwarten, vermittelt die Ausstellung den Facettenreichtum eines Zeichners, der in seinen besten Arbeiten Düsternis, Witz und soziales Engagement vereint. Das ist keine Kombination, die in den Vereinigten Staaten gegenwärtig Konjunktur hat. Eine Ungerer-Renaissance wäre daher durchaus ein Grund zur Hoffnung auf andere Zeiten.
    The Drawing Center, New York: "Tomi Ungerer: All in One". Bis 22. März