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Tommy Park in Toronto
Versteckte Naturschätze

Der Tommy-Thompson-Park im kanadischen Toronto ist eine echte Attraktion: Er liegt auf einer schmalen, künstlichen Halbinsel, dem Leslie-Street-Spit, die fünf Kilometer in den Ontario-See hineinragt. Auf der Insel verbergen sich wahre Naturschätze.

Von Anke Ulke |
    Ein Vogel sitzt auf einem Ast, der über einem See hängt, in der Dämmerung, nur Silhouette ist zu erkennen.
    Die Natur am Ontario-See ist sehr vielfältig. (imago/stock&people)
    Raus aus Downtown Toronto, ab ans Ufer des Ontariosees und dann immer nach Osten. Mit dem Rad dauert es etwa eine halbe Stunde bis zum Leslie-Street-Spit, der Halbinsel, die den Tommy-Thompson-Park beherbergt. Am Eingang sieht es ein bisschen aus, wie auf einer Baustelle.
    Tagsüber kontrolliert ein Ranger in einer kleinen Bauhütte den Eingang, Baufahrzeuge dürfen passieren, Besuchern ist der Eintritt nur am Wochenende und in Ferienzeiten erlaubt, von morgens neun bis abends sechs. Ich bin mit Andrea Chreston verabredet, die für die Toronto and Region Conservation Authority arbeitet und die Geschichte des Parks gut kennt. In den späten 50er Jahren entstand die schmale Landzunge aus Aushub - der Schiffsverkehr auf dem Ontariosee und seine Infrastruktur sollten mehr Platz bekommen.
    "Nach zehn Jahren Bauarbeiten war klar, dass der Schiffsverkehr nicht so zunehmen würde wie erwartet, also mussten neue Ideen her. Der Bau der Landflächen ging aber weiter - jetzt - 50 Jahre später, sind sie noch immer dabei, doch die endgültige Form ist erreicht. In den 60ern hat die Provinz Ontario dann die Toronto and Region Conservation Authority beauftragt, einen Masterplan für einen Public Park zu entwickeln."
    Wir stoppen zuerst an einem Betonunterstand am Straßenrand, in dem fröhlich zwitschernd Rauchschwalben ein und aus fliegen. Die Rauchschwalben gehören zu Ontarios bedrohten Arten und sind im Tommy-Thompson-Park durchaus erwünscht.
    Die alten Scheunen und Ställe, in denen sie früher nisteten, gibt es kaum noch.
    Hier, auf der Landzunge der "urban wilderness", der städtischen Wildnis Torontos, haben viele von ihnen ein neues Zuhause gefunden. Und - frech und vorwitzig - diesen Unterstand "besetzt". Doch in diesem Outdoor-Klassenraum sind die Schwalben und vor allem ihre fleckigen Hinterlassenschaften weniger erwünscht:
    "Eigentlich wurde dieser Raum für die Studenten gebaut! Leider reichen die Trennwände nicht bis unter die Decke und so kommen die Vögel dahin. Deshalb haben wir den Draht angebracht, um die Vögel davon abzuhalten sich hier auszuruhen. Das hat nicht so gut geklappt, sie haben es trotzdem geschafft, sich hier niederzulassen - also, wir müssen uns irgendetwas anderes ausdenken, um die Vögel von hier zu verscheuchen."
    Grandioser Blick auf Downtown Toronto
    Ein schmaler Pfad führt durch Gras und Gebüsch vom schwalbenbesetzten Unterstand aus zu Becken 1 - einem von drei Teichen, die zum Ontariosee hin abgeschlossen sind. Die Toronto and Region Conservation Authority, kurz TRCA, hat Tausende einheimische Wasserpflanzen rund um die Ufer der Becken gesetzt. Doch ein Eindringling macht sich zwischen den erwünschten Rohrkolben und anderen Pflanzen breit und breiter - Phragmites australis - das gemeine Schilfrohr. Andrea Chreston ist besorgt:
    "Das ist dieses hohe Gras - die Samenstände sehen sehr fedrig aus und jeder einzelne hat über 1.000 Samen. Es ist eine Pflanze, die sehr sehr schwer zu kontrollieren ist. Die Wurzeln sind rhizomartig, das heißt, dass sie sich im Boden ausbreiten und immer mehr Pflanzen aus einer einzigen Wurzel herauswachsen. Schneidet man die Pflanzen ab, ist die Wurzel noch immer im Boden und treibt wieder aus."
    Der Mensch soll möglichst wenig in Nordamerikas größte städtische Wildnis, als die der Park inzwischen gilt, eingreifen. Einheimische Pflanzen wurden angesiedelt, Vögel und andere Tiere, die den Park inzwischen bevölkern, nicht. Fremde Arten wie das Schilf oder der Karpfen im Ontariosee sind unter Beobachtung, werden bekämpft oder herausgehalten. Wir fahren weiter auf der einzigen Straße durch den Park, immer in Richtung Spitze der Landzunge. Und halten an Einbuchtung und Halbinsel D mit grandiosem Blick auf Downtown Toronto. Hier hat die TRCA ein Küstenfeuchtgebiet gebaut. Auf einer künstlichen Plattform brüten Seeschwalben.
    "Normalerweise brüten Seeschwalben auf flachen, steinigen Inseln, aber der Wasserstand in Lake Ontario ist wegen der Schifffahrt künstlich hochgehalten. Die Inseln, auf denen die Seeschwalben seit jeher genistet haben, sind untergegangen; deshalb hat das TRCA dieses Floß gebaut - eine schwimmende hölzerne Plattform, auf der die Seeschwalben ihre Nester bauen und Junge aufziehen können. - Oh ein Nachtreiher ist direkt vor uns aufgeflogen!"
    Das Küstenfeuchtgebiet war bis vor Kurzem noch zum Ontariosee hin geöffnet. Doch eingewanderte Karpfen und ihre Ernährungsgewohnheiten haben es beinahe völlig zerstört.
    "Dieser Fisch zerstört die Feuchtbiotope, indem er die Wurzeln der Wasserpflanzen anfrisst, die Pflanze kann nicht mehr wachsen. Dann gräbt er sich durch das Sediment, spuckt es wieder aus und pickt sich nur kleine Bissen heraus. Davon wird das Wasser ganz trüb. Darunter leiden die Feuchtbiotope. Vor drei Jahren wuchsen hier keine Wasserpflanzen am Ufer. Aber jetzt haben wir den Zugang zum See geschlossen, haben ein Fischgatter installiert - es ist nach wie vor offen zum Ontariosee, aber es hält den Karpfen davon ab, in die Feuchtbiotope einzuwandern."
    Es den Kormoranen so angenehm wie möglich machen
    Wir beobachten einen Silberreiher, sehen verschiedenen Entenarten, einen Trompeterschwan, den großen Kanadareiher und natürlich Kanadagänse, bevor es weitergeht zur größten Kormoran-Kolonie im östlichen Nordamerika!
    Abertausende von Kormoranen sitzen in fast kahlen Bäumen auf oder neben unzähligen Nestern in denen viele Küken hocken. Über unseren Köpfen fliegen die schwarzen Fischjäger wie auf einer Luftstraße hin und her. Die Kormorane, einst fast ausgerottet, sind ein Problem. Damit nicht noch mehr Bäume durch den Kot der Vögel absterben, tricksen die Parkmitarbeiter. Denn die meisten der Vögel hier brüten am Boden. Und da sollen sie bleiben. Andrea Chreston:
    "Wir halten sie im Frühjahr davon ab, ihre Nester in die Bäume zu bauen, indem wir in die Kolonie gehen, Lärm machen, sie einfach stören. Dafür ist in der Bodenkolonie kein Mensch, wir versuchen, es so angenehm wie möglich für die Kormorane zu machen. Es scheint zu funktionieren: In derselben Zeit, in der die Kolonie am Boden gewachsen ist, ist sie in den Bäumen geschrumpft - wahrscheinlich, weil Bäume verloren gehen. Wir ermutigen die Vögel, ihr Verhalten zu ändern - vom Nisten in Bäumen zum Nisten auf dem Boden- so bauen wir eine viel nachhaltigere Zukunft für die Kormorane im Tommy-Thompson-Park auf."
    Wir wandern wieder auf die Ostseite des Parks, zu einem kleinen, ziemlich schlammigen Teich, den verschiedene Schildkrötenarten bevölkern:
    "Da ist eine! Direkt gegenüber kannst du eine sehen, wie sie ihren Hals herausstreckt! Das ist eine Amerikanische Sumpfschildkröte. Wir haben Schmuckschildkröten, manchmal haben wir Landkarten-Höcker-Schildkröten, Schnappschildkröten, das sind so die üblichen, die wir hier haben. Wie allerdings die Sumpfschildkröten hiergekommen sind - keine Ahnung. Wir sind skeptisch ob sie von allein und woher sie gekommen sind."
    Auf dem Weg zum mit seerosenbedeckten Triangel-Teich mit seiner Biber-Lodge blickt Andrea immer wieder nach oben, in die Bäume, entdeckt seltene Singvögel, die ich kaum sehen kann. In den sieben Jahren hier im Tommy-Thompson-Park hat sich ihr Blick für die Natur sehr geschärft:
    "Es ist ein Ort, an dem ich gelernt habe, Vögel wirklich zu bewundern und Vogelbeobachtung zu einer Leidenschaft geworden ist. Es ist ein fantastischer Ort, um im Frühjahr Vögel zu beobachten, wir haben 316 Arten im Park dokumentiert, und im Frühjahr und Herbst ist einfach unglaublich viel los!"
    Auf dem Rückweg zieht plötzlich ein betörend süßer Duft durch die Autofenster - das Milkweed - eine Seidenpflanzenart - beginnt zu blühen. Mit seinem verführerischen Duft lockt es Abertausende von Monarchfaltern an, die hier teils ihre Eier ablegen, teils Nahrung sammeln auf ihrem langen Weg nach Mexiko, ins Überwinterungsgebiet. Milkweed galt lange als eine Art Unkraut, weil es giftig ist:
    "Wenn man ein Blatt zerbricht, strömt ein weißer, milchiger Saft aus. Den fressen die Raupen und deshalb sind Monarchfalter giftig. Im Tommy Thompson Park warten die Monarchfalter, genau wie die Zugvögel im Herbst, auf die richtigen Wetterbedingungen, um den Ontariosee zu überfliegen. Es gibt nur wenige Tage im Jahr, an denen das passiert, aber es sind dann Tausende von Schmetterlingen hier, die regelrecht von den Bäumen fallen."
    Einzigartige Erfahrung für Ontario
    Zwei Tage später fahre ich noch einmal zum Tommy-Thompson-Park. Es ist ruhig am frühen Samstagmorgen, Wellen schwappen träge ans Ufer des Ontariosees. Ein Grüppchen Hobbyfotografen hat Blütenpflanzen vor der Linse und eine weitere Gruppe zählt - Schmetterlinge. Gruppenleiter John Carley ist mit der Ausbeute noch nicht ganz zufrieden, aber geduldig. Ungeduldig wird er, wenn es um den Park geht. John gehört zu den "friends of the spit", den "Freunden der Landzunge", der Bürgerinitiative, die den künstlichen Landzipfel vor Marinas und Bebauung retten konnte und so die städtische Wildnis erst möglich machte. Doch der Kampf der Freunde ist noch lange nicht zu Ende. John ist gegen Gebäude, mehr Radwege und Mülleimer - all das gehöre nicht in die Wildnis.
    "Wenn man es "urban wilderness" nennt, dann nimmt man seinen Müll wieder mit nach draußen. Man wandert, geht spazieren, die Leute mögen das, nicht an die Stadt erinnert zu werden. Wenn man rausgeht, an zwei Seiten von Wasser umgeben, ist das eine einzigartige Erfahrung für Ontario. Die Leute können Wildnis erfahren, ohne in den Norden fahren zu müssen, denn sie haben es genau hier."
    John und seine Bürgerinitiative kämpfen weiter, gegen Pfade durch den Wald, gegen Kanäle:
    "Die Leute können unbebautes Land nicht einfach mal in Ruhe lassen, sie müssen immer etwas damit tun, es entwickeln oder bebauen. Es muss einen "Nutzen" haben. Und wir versuchen ihnen zu sagen, der beste Nutzen ist "leeres", also unbebautes Land. 300.000 Menschen pro Jahr kommen gerne hierher. Sie bringen ihren Kindern hier Rad fahren bei, ohne dass sie überfahren werden, beschäftigen sich mit der Natur, sitzen bei einer Flasche Wein hier und bewundern den alten See. Aber wenn es diese Menge Menschen nicht gäbe, dann wäre es schon längst ausgebaut."