Im Jahr 2001 hielt Toni Morrison in Cambridge, Massachusetts, einen Vortrag unter dem Titel "Schluss mit alldem". Zu Beginn schilderte die Autorin eine sehr aufschlussreiche Episode. Morrison war zu einem Fernsehinterview eingeladen worden. Im Vorfeld kam ihr die Idee, den Moderator zu bitten, jegliche Fragen zum Thema ‚Rasse‘ einfach mal auszuklammern und sich auf Fragen nach ihrer Arbeit, ihrem Schreiben, Unterrichten und ihrem Leben, zum Beispiel als Mutter, zu konzentrieren. Der Journalist stimmte zu. Aber dann lief alles anders – oder besser gesagt, in den üblichen Bahnen der rassischen Differenz:
"Worauf ich hinaus will, ist, dass weder er noch sein Publikum sich für irgendwelche anderen Aspekte von mir außer den rassisch konnotierten interessierten. Enttäuscht und verärgert kramte ich in meinem Baukasten für die Medienversion eines Dialogs zwischen den Rassen hervor: Ur-Enkelin von Afrikanern, Ur-urenkelin von Sklaven; (…) Nutznießerin des amerikanischen Traums – es endete damit, dass ich durch einen blassen, richtungslosen, zutiefst uninteressanten Dialog schlafwandelte. Ich hatte eine ungeheure Sehnsucht nach einer Umgebung, in der ich sprechen und schreiben konnte, ohne dass jeder Satz als bloßer Protest oder bloße Interessenvertretung verstanden wurde."
Rasse, so Morrison, lasse sich offensichtlich nie von Politik trennen. Alles laufe in den USA auf die Unterscheidung hinaus, ob man eine schwarze oder eine amerikanische Schriftstellerin sei. Eine schwarze Amerikanerin als Autorin sei schlichtweg nicht vorgesehen:
"Also wurde mein Projekt, die von jeher rassisch konnotierte Welt unauflöslich mit dem künstlerischen Blick zu verbinden, der sie anschaut, und dabei eine Lektüre zu fördern, die beide seziert. (…) Mich beeindrucken die Fruchtbarkeit und die Bedeutung gelehrter und literarischer Herausforderungen, die nach weiteren Möglichkeiten suchen, wie sich "Rasse" zugleich markieren und unschädlich machen, ihre Bedeutung anerkennen und ihre zersetzende Wirkung auf die Sprache begrenzen lässt."
Das unausgesprochene Unaussprechliche
Es ist nicht übertrieben, diesen umfangreichen Band mit ausgewählten Essays, Reden und Vorträgen Morrisons von den 70er Jahren an bis fast zu ihrem Tod 2019 als das Vermächtnis der Autorin zu bezeichnen, wie der Verlag es tut. Dabei geht es nicht nur um die thematische Bandbreite, die Texte zum 11. September 2001, zur Sprache des Krieges, zur Kunst als Lebensform, wie zur Verbindung von Kapitalismus, männlicher Vorherrschaft und Frauenfeindlichkeit in den USA berücksichtigt. Das Vermächtnis von Morrisons essayistischem und literaturtheoretischem Schaffen ist vor allen Dingen im Mittelteil des Buches zu finden. In Texten wie "Schwarze Angelegenheiten" oder "Das unausgesprochene Unaussprechliche: Die afroamerikanische Präsenz in der amerikanischen Literatur" leistet die Literaturnobelpreisträgerin genau das, was im obigen Zitat als ihr Grundanliegen deutlich wurde: Den Rassismus - oder wie Morrison es nennt – den "amerikanischen Afrikanismus" als Grundpfeiler der US-amerikanischen Identitätsbildung hervorzuheben und diesen zur "weißen" wie zur "schwarzen" Literatur in Beziehung zu setzen.
Die helle Idee der Freiheit, der Autonomie und der immer wieder beschworenen Einzigartigkeit des amerikanischen Siedlungs- und Staatenprojekts, so ist Morrison zu verstehen, hatte sich genährt aus der Fabrikation einer dunklen afrikanischen Gegenfigur:
"Das Ergebnis war ein Spielfeld der Phantasien. Und was aus dem kollektiven Bedürfnis erwuchs, die inneren Ängste zu befrieden und das äußere System der Ausbeutung zu rationalisieren, war ein Afrikanismus – ein zusammenfabuliertes Gebräu aus Dunkelheit, Andersartigkeit, Angst und Faszination -, den es in dieser Form nur in Amerika gibt."
"Das Ergebnis war ein Spielfeld der Phantasien. Und was aus dem kollektiven Bedürfnis erwuchs, die inneren Ängste zu befrieden und das äußere System der Ausbeutung zu rationalisieren, war ein Afrikanismus – ein zusammenfabuliertes Gebräu aus Dunkelheit, Andersartigkeit, Angst und Faszination -, den es in dieser Form nur in Amerika gibt."
Abgrenzendes Denken in der Literatur
Als "Reise in das Innere der Angst" und bevorzugtes Ausdrucksmittel zu deren Bändigung führt Morrison den Abenteuerroman in den frühen Jahren der USA an. Mehr oder weniger deutliche Spuren des abgrenzenden Denkens und des rassistischen Traumas seien jedoch auch in Werken von Mark Twain, Edgar Allan Poe, Ernest Hemingway oder William Faulkner zu finden. Wobei diese Spuren auch als Kampf mit dem Erbe des Rassismus in Erscheinung treten könnten, wie Morrison es am Beispiel des Sklaverei-Gegners Herman Melville und seines Romans "Mobby Dick" deutlich macht. Der weiße Wal als Synonym für die amerikanische Rassenideologie, an der Ahab, aber auch die Gesellschaft zerbricht. Anders sieht es bei Gertrude Stein und ihrer dreiteiligen Novelle "Drei Leben" aus. Morrison vertritt hier eine interessante These: Stein habe die die schwarze Frau im Mittelteil des Buches benutzt, um gesellschaftliche Tabus auszuhebeln. Denn nur in Bezug auf schwarze Haut sei es der Avantgardistin im Erscheinungsjahr 1909 möglich gewesen, über Sexualität, sprich: über dunkle, animalische Triebe schreiben zu können.
Man muss diesen Deutungen nicht in jeder Hinsicht folgen. Erhellend ist jedoch, wie sich Morrison in diesen Essays und Vorträgen rassistischen Stereotypen nähert. Sie dekonstruiert Sprachbilder, Codes und Textstrukturen, um die afroamerikanische Präsenz in der "weißen Literatur" aufzudecken. Nicht selten, so Morrison, widerspräche dabei die Form dem Inhalt. Psychologisch gewendet könnte man sagen, da läuft bei nicht wenigen Werken weißer Autoren und Autorinnen entgegen bester Absicht eine unbewusste Tonspur rassistischen Denkens mit.
Was ist schwarze Literatur?
Nicht weniger interessant ist natürlich die Frage nach dem Unterschied von amerikanischer, also weißer, und afroamerikanischer Literatur – beziehungsweise die Frage: "Was genau macht ein Werk schwarz?" An dieser Stelle hätte man gern Textkritisches zu Werken schwarzer Literatur gelesen, zum Beispiel zu den Romanen von James Baldwin. Enthalten aber ist in dieser Sammlung nur Morrisons Trauerrede anlässlich von Baldwins Tod 1987. Allerdings leistet Morrison in mehreren hier abgedruckten Texten intensiv Sprach- und Motivarbeit am eigenen Werk. Dabei geht es ihr nicht nur darum, auf rassenspezifische Zuschreibungen zu reagieren:
"Es ist mir ein starkes persönliches Anliegen herauszufinden, wie sich bildhafte, metaphorische Sprache so handhaben, verändern und kontrollieren lässt, dass etwas entsteht, was man rassenspezifische, rassenfreie Prosa nennen könnte."
Wie ist das zu verstehen - rassenspezifisch und rassenfrei?
Zum einen hat Morrison in ihren Werken immer wieder ‚Rasse‘ konterkariert, in dem sie zum Beispiel die Möglichkeit der Zuordnung ihrer Figuren zu einer schwarzen oder weißen Hautfarbe absichtlich verwischte. Ein produktives Verfahren, das bei der Leserschaft für Irritation sorgt. Zum anderen geht es ihr auch um Formen der Erinnerung schwarzer Erfahrung und Kultur. Ihr Roman "Menschenkind" zum Beispiel zielt unter anderem darauf, Sklaven aus ihrer Rolle als gesichts- und geschichtslose Objekte zu befreien und diese Anstrengung in der Erzählstrategie sichtbar zu machen. Es gehe um nichts weniger als um Selbstachtung und Würde, so Morrison. Dazu gehöre auch, von ästhetischen Traditionen der afroamerikanischen Kultur und ihrer Kunstformen bewusst Gebrauch zu machen.
Zum einen hat Morrison in ihren Werken immer wieder ‚Rasse‘ konterkariert, in dem sie zum Beispiel die Möglichkeit der Zuordnung ihrer Figuren zu einer schwarzen oder weißen Hautfarbe absichtlich verwischte. Ein produktives Verfahren, das bei der Leserschaft für Irritation sorgt. Zum anderen geht es ihr auch um Formen der Erinnerung schwarzer Erfahrung und Kultur. Ihr Roman "Menschenkind" zum Beispiel zielt unter anderem darauf, Sklaven aus ihrer Rolle als gesichts- und geschichtslose Objekte zu befreien und diese Anstrengung in der Erzählstrategie sichtbar zu machen. Es gehe um nichts weniger als um Selbstachtung und Würde, so Morrison. Dazu gehöre auch, von ästhetischen Traditionen der afroamerikanischen Kultur und ihrer Kunstformen bewusst Gebrauch zu machen.
Das Jonglieren mit dem Begriff "Rasse" mag nicht zuletzt für diese hochreflektierte Autorin unbefriedigend gewesen sein. Aber er spiegelt bis heute die gesellschaftliche Wirklichkeit in den USA wieder. "Race" markiert – anders als beispielsweise in Europa – eine Grenzziehung zwischen den Hautfarben im umfassenden Sinne: ökonomisch, sozial, politisch und nicht einfach nur biologistisch. Toni Morrisons Verdienst ist es, diese tiefe Kluft historisch und mit ihren vielen Facetten ausgelotet zu haben. Dabei gab sie entscheidende Anstöße zur kritischen Betrachtung der amerikanischen Literaturgeschichte, die lange Zeit nur die weiße Perspektive kannte und damit schwarze Erfahrungen ausgrenzte. Ihr Anspruch war es darüber hinaus, zur Entwicklung einer Literaturtheorie beizutragen, "die der afroamerikanischen Literatur wirklich Raum gibt", wie sie schrieb, was nichts weniger bedeuten würde, als die Forderung, den amerikanischen Kanon neu zu interpretieren. Dieser Band bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial. Wie sich die junge US-Literatur von Weißen und von Schwarzen in unseren Tagen in diesen Kontext einfügt, das müssen nun andere erforschen.
Toni Morrison: "Selbstachtung. Ausgewählte Essays, Reden und Betrachtungen"
aus dem Englischen von Thomas Piltz, Nikolaus Stingl, Christiane Buchner, Dirk van Gunsteren und Christine Richter-Nilsson
Rowohlt Verlag, Hamburg. 544 Seiten, 24 Euro.
aus dem Englischen von Thomas Piltz, Nikolaus Stingl, Christiane Buchner, Dirk van Gunsteren und Christine Richter-Nilsson
Rowohlt Verlag, Hamburg. 544 Seiten, 24 Euro.