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Toulouse Lautrec jenseits von Moulin Rouge

Jane Avril eine der herausragenden Tänzerinnen des Moulin Rouge. Exotisch und exzentrisch wie ihr Tanz war ihre Persönlichkeit. Sie zierte Ende des 19. Jahrhunderts viele Poster des Zeichners, Grafikers und Malers Henri Toulouse Lautrec. In London ist nun die Geschichte einer künstlerischen Freundschaft zu sehen.

Von Hans Pietsch |
    "Maler und Modell schufen zusammen eine wahre Kunst unserer Zeit, sie durch Bewegung, er durch Repräsentation” - so schrieb der Kritiker Arsène Alexandre 1893 in einem Artikel, dem er den Titel "Diejenige, die tanzt” gab. In ihm beschreibt er die Wirkung, die die Kunst von Jane Avril und Henri Toulouse-Lautrec auf ihre Zeit hatte. Dass die beiden irgendwann zusammenkommen würden, schien ihm unvermeidlich, bestand Avrils Kunst doch, wie er schreibt, "gleichermaßen aus Instinkt und Willen”, so wie Lautrecs Kunst "spontan in ihrer Ausführung, kalkuliert in ihrer Konzeption ist.”

    Man kennt die Plakate, die der kleinwüchsige Maler aristokratischer Herkunft von der Tänzerin und für sie produzierte. Eines zeigt sie in grell-orangenem Kleid auf der Bühne des Jardins de Paris den Can-Can tanzend. Das rechte Bein nach oben gestreckt, die Unterröcke entblößt, kokett geschwungene rote Lippen. Das Ganze eingerahmt vom Hals eines Kontrabasses. Auf einem anderem stellt er sie als Zuschauerin im Divan Japonais dar, ganz in Schwarz diesmal. Auf der anderen Seite des Orchestergrabens, auf der Bühne, eine kopflose Sängerin: die berühmte Yvette Guilbert, zu erkennen an ihren langen schwarzen Handschuhen.

    Mit diesen Plakaten, mit ihren glatten Oberflächen, fließenden Linien und starken Farben, macht der Maler Werbung für Jane Avril und die Etablissements, in denen sie auftritt. Mit Erfolg, denn das Publikum lernt sie lieben, und kommt zuhauf. Doch dann sind da auch seine Ölporträts von ihr, die so gar nicht ins Bild passen wollen. Eines von ihnen gehört dem Courtauld Institute selbst und zeigt sie im Eingang zum Moulin Rouge. Gedämpfte Farben, unzählige vertikale Pinsel- und Kreidestriche bauen die stumpfe Bildfläche auf. Fast verloren steht sie da, die Augen geschlossen, die Hände verschränkt, angespannte Schultern. Obwohl sie nicht viel älter als 20 war, ist ihr Gesicht das einer alten Frau. Oder das Porträt von 1891/92 - der Maler zeigt sie hier frontal, das hagere Gesicht kreideweiß, mit wachen, harten Augen schaut sie den Betrachter direkt an, "scheu und klug zugleich”, wie Arsène Alexandre schreibt.

    Um diese ungewöhnlichen Porträts zu verstehen, muss man sich vielleicht die Geschichte der rätselhaften Tänzerin etwas näher ansehen. Als Jeanne Beaudon wurde sie 1868 geboren, die Tochter einer Kurtisane. Sie wuchs bei den Großeltern auf und besuchte zwei Klosterschulen, um der Mutter bei ihrer Arbeit nicht im Weg zu sein. Dann ging das Geld aus, sie musste putzen gehen, auf der Straße singen. Als Dreizehnjährige rannte sie von zuhause weg und suchte Zuflucht bei einem früheren Liebhaber der Mutter. Ein Arzt diagnostizierte die Bewegungsstörung Chorea, im Volksmund Veitstanz genannt, bei der unwillkürliche, unregelmäßige Bewegungen der Extremitäten auftreten. Fast zwei Jahre verbrachte sie deswegen in der berühmt-berüchtigten Pariser Heilanstalt Salpétrière, wo sie nach eigener Aussage das Tanzen lernte. Auch vor Publikum, denn einmal im Jahr veranstaltete die Klinik einen "Bal des Folles”, einen Ball der Verrückten also, wo die Insassen sich verkleideten und vor geladenen Gästen tanzten. Das erklärt vielleicht auch ihren ungewöhnlichen Tanzstil: wild, abgehackt, fast wie in Trance. Kritiker sprachen von ihrer "lasterhaften Jungfräulichkeit”, lobten ihren "bewundernswert boshaften Körper” und nannten sie "die bezaubernde Blume künstlerischer Verderbtheit und kränklicher Anmut”. Ihr Leben lang blieb sie, trotz ihres Erfolgs, wie Toulouse-Lautrec, ein Außenseiter. Wie für ihn die Malerei, so war für sie der Tanz eine Art Befreiung. Wie das Zusammenspiel dieser beiden verwandten Seelen, die eng befreundet waren, Ende des 19. Jahrhunderts zu einem künstlerischen Höhepunkt führte, das zeigt die kleine, aber feine Schau in der Courtauld Gallery.