Es war ein episches Radsportereignis. Der Himmel über dem Tourmalet war grau. Tief hingen die Wolken. Nebel machte die Straße fast unsichtbar. Das Publikum aber peitschte die Rennfahrerinnen vorwärts. Als Erste bog die Niederländerin Demi Vollering in die Kurve vor dem Ziel. Fast zwei Minuten hinter ihr kam die Polin Kasia Niewiadoma an. Noch eine halbe Minute hinter ihr erreichte Annemiek van Vleuten das Ziel. Die Weltmeisterin und Titelverteidigerin war geschlagen.
„Natürlich bin ich enttäuscht. Aber ich kann es auch akzeptieren, denn ich machte nichts falsch. Ich hatte die bestmögliche Vorbereitung. Und ich habe auch alles versucht. Ich bin gefahren wie ich zu fahren liebe, stets ganz hart“, sagte van Vleuten, nur wenige Augenblicke nach der Zielankunft.
Die Niederländerin hatte ihre Niederlage schon da akzeptiert: "Ich kam hierher, um die Tour de France zu gewinnen und nicht um Zweite oder Dritte zu werden. Natürlich wäre das auch sehr schön. Aber nach dem Sieg im letzten Jahr will man auch nur erneut gewinnen. Klar ist aber auch, dass Demi Vollering heute auf einem anderen Niveau fuhr."
Van Vleuten hat den Frauen-Radsport verändert
Die Klarheit, mit der sie ihre Niederlage anerkannte, zeichnete sie über ihre gesamte Karriere aus. Denn sie hat nicht nur viel gewonnen. Sie hat mit ihrer ganzen Herangehensweise den Frauenradsport verändert.
Das erkennt auch die sportliche Gegnerschaft an. Albert Timmer, sportlicher Leiter von dsm-firmenich: „Sie begann sehr früh mit Höhentrainingslagern und solchen Sachen. Sie setzte damit einen neuen Standard. Und das sieht man jetzt. Alle Teams machen jetzt Höhentrainingslager, sie investieren auch mehr Geld dort.“
Van Vleuten selbst kommt pro Saison auf 60 bis 90 Tage im Höhentrainingslager. Das ist enorm, ist auf einem Niveau mit den besten männlichen Rundfahrern. Auch die Umfänge sind gewaltig. Eine normale Trainingsfahrt von ihr in Italien umfasst etwa den Mortirolo-Pass, danach den Gavia-Pass und und schließlich noch den den Foscagno. Das sind drei Dolomitenpässe, sechs Stunden auf dem Rad, etwa 5.000 Höhenmeter.
Van Vleuthens Trainingsmethoden für andere "nicht zu vekraften"
Was van Vleuten im Training leistet, würden sportliche Leiter anderer Teams gern auch von ihren Frauen sehen. Ronny Lauke vom Rennstall Canyon SRAM: „Wir empfehlen es den Fahrerinnen, natürlich. Ich meine, wir wollen natürlich auch, dass die Radrennen gewinnen und das sind das Maximale aus sich rausholen. Aber es ist leider so, dass einige das mental gar nicht verkraftet bekommen. Die würden dann zum Rennen kommen und wären total kaputt, mental kaputt, weil einfach für viele aus dem Koffer leben und von der Familie weg sein – für die Mehrheit unserer Fahrerinnen haut das nicht hin.“
Und auch Teamkolleginnen von van Vleuten schauen voller Respekt auf die Trainingsumfänge der Niederländerin. „Ich glaube es gibt nur eine in der Welt, die das auch machen kann, deren Körper das verkraftet. Für mich würde es jetzt keinen Sinn machen. Wenn ich auf einmal so viel trainiere, wäre es eher kontraproduktiv und ich mache, glaube ich, schon genug", sagt Liane Lippert.
Die Friedrichshafenerin gewann eine Etappe bei der Tour de France. Sie ist eine der wichtigsten Helferinnen von van Vleuten bei dieser Tour. Und sie soll ihr im nächsten Jahr, wenn die Niederländerin ihre Karriere beendet, auch als Kapitänin nachfolgen.
Van Vleuthen änderte Herangehensweise
In diesem Jahr änderte van Vleuten etwas ihre Herangehensweise. Sie spürte, dass Jüngere ihr näherkamen und setzte nicht mehr nur auf ihre Vorteile bei den langen Anstiegen. Die Italien-Rundfahrt etwa gewann sie auch dank einer Alleinfahrt auf einer Sprint-Etappe.
Auch bei dieser Tour de France Femmes versuchte sie kleinere Hügel zu nutzen, wie etwa bei der fünften Etappe: „Ja, wir haben etwas die Beine getestet. Es ist immer besser selbst anzugreifen als von den anderen überrascht zu werden.“
Annemiek van Vleuten ist in ihrer letzten Saison zu einer kompletten Rennfahrerin geworden, die auch auf taktische Überraschungen setzt. Bei dieser Tour allerdings kam sie an ihre Grenzen. Ihr Vermächtnis aber bleibt.
Kein Doping-Verdacht
Und auch, dass man ihren Leistungen trauen kann. Ronny Lauke, Teamchef der Drittplatzierten Katarzyna Niewiadoma: „Also das Commitment, was sie zeigt, ist schon außergewöhnlich - wie sie sich vorbereitet, was sie macht. Und ich glaube, das lässt sich auch alles methodisch und trainingswissenschaftlich erklären, was sie da treibt. Deswegen bin ich da kein Freund von irgendwelchen Verdächtigungen, das macht keinen Sinn.“
Eine große Athletin tritt ab. Am Sonntag absolvierte sie das letzte Zeitfahren bei einer Großen Rundfahrt in ihrer Karriere. Ein paar weitere letzte Momente wird es noch geben. Und dann ist endgültig Platz für eine neue Generation.