Fast hätte man es vergessen bei allem Staunen über die neuen Dominatoren der Tour de France: Der bisherige Branchenführer Team Ineos, sieben Toursiege in den vergangenen acht Jahren, zerbrach, als hätte ihn ein Tornado erfasst. Kein einziger Fahrer in den Top 10, nur ein Etappensieg bisher, niemals das gelbe Trikot in den Reihen. Die Geschwindigkeit, mit der Ineos sich selbst auflöste, verblüffte selbst die Konkurrenz.
"Ja, wir waren überrascht. Wir haben einen guten Bernal hier erwartet. Und wir waren richtig glücklich, dass er eingebrochen ist. Tut mir leid für sie, aber das ist Radsport", meinte Merijn Zeeman, sportlicher Leiter von Jumbo Visma. Der Niederländer erzählte dies, bevor er wegen eines offenbar hitzigen Disputs mit einem Offiziellen der UCI vom Rennen ausgeschlossen wurde.
Ihm war die Erleichterung anzumerken, leichter als erhofft zum Zuge gekommen zu sein. Wohl auch um die eigene Leistung zu würdigen, redete er den am Boden liegenden Rivalen noch stark. "Ich würde nicht sagen, dass sie schwach waren. Das Team ist immer noch stark. Aber man braucht einen großen Kapitän. Und Bernal hat nicht das auf die Pedale bringen können, was er vorhatte. Aber sie sind immer noch ein großes Team mit sehr starken Fahrern."
Carapaz als einziger Lichtblick
Eine Trotzreaktion zeigte die Truppe immerhin. An drei Tagen hintereinander war Richard Carapaz in der Fluchtgruppe in den Alpen. Der Sieger des Giro d' Italia 2019 eroberte so das Bergtrikot bei der Tour. Im letzten Teil seiner Ausreißer-Trilogie überließ er dann seinem Teamgefährten und Fluchtkollegen Michal Kwiatkowski den Etappensieg. "Was Carapaz in den drei Tagen in den Fluchtgruppen machte, war einfach beeindruckend. Er zeigte, warum er eine Grand Tour gewann", lobte ihn sein sportlicher Leiter Gabriel Rasch. Es war der einzige Lichtblick bei einer ansonsten total verkorksten Tour für Ineos.
Die Profis nahmen das Scheitern immerhin philosophisch. Kletterkönig Carapaz: "Gut, wir sind mit anderen Zielen zu dieser Tour gekommen. Es ist geschehen, was geschehen ist. Aber wir Radsportler sind auch daran gewöhnt, wesentlich öfter zu verlieren als zu gewinnen. Es ist nicht so gelaufen, wie wir gewollt haben. Wir haben uns dann neue Ziele gesetzt."
Sein Teamkollege Andrey Amador: "Das ist Sport, man gewinnt nicht immer, man fühlt sich nicht immer gut und ist nicht immer oben." Für seinen abgestürzten Kapitän hatte er tröstende Worte parat: "Egan ist sehr jung, er hat die ganze Zukunft noch vor sich. Er macht Erfahrunegn und er soll ruhig bleiben."
Bernal war erschöpft
Bernal stieg nach der 16. Etappe aus. Der Sieger der Tour de France 2019 hatte den Bergetappen-Tag gemeinsam mit Sprintern wie André Greipel und Peter Sagan im Gruppetto verbracht, also am Ende des Fahrerfeldes fast eine halbe Stunde hinter Tagessieger Lennard Kämna. Bernal war erschöpft. Ihn plagten offenbar weiter Rückenbeschwerden, die noch von seinem Sturz bei den kolumbianischen Landesmeisterschaften im Februar herrühren. Einfach so als Titelverteidiger abzureisen kann man aber auch als mangelnden Respekt gegenüber dem Rennen werten. Wollte Bernal, ein so exzellenter wie auch stolzer Rennfahrer, überhaupt diesen Ausstieg?
Gabriel Rasch, sportlicher Leiter von Ineos: "Das war eine kollektive Entscheidung von ihm, dem Arzt und dem Trainerstab. Ich denke, es war die beste Entscheidung. Er brauchte eine Pause, um sich wieder neu zu sortieren."
Wer die treibende Kraft bei dieser Entscheidung war, ließ Rasch offen. Die Konkurrenz immerhin hätte im gleichen Fall wohl ähnlich entschieden. Mangelnden Respekt sah Zeeman, sportlicher Leiter von Jumbo Visma, nicht: "Nein, wir haben ihn doch leiden gesehen. Den einen Tag dachte ich noch, dass er versucht, Energie zu sparen. Aber wenn du als Toursieger im Gruppetto fährst, dann würden wir wahrscheinlich das Gleiche getan haben. Ich denke, es ist eine kluge Entscheidung."
Bernals schlechte Verfassung war sicher der Hauptpunkt für die Bruchlandung von Ineos. Aber hätten die sonst auf jedes Detail so fixierten Manager des Rennstalls das nicht auch berücksichtigen müssen? Und hätten sie nicht besser die ebenfalls angeschlagenen anderen Toursieger Chris Froome und Geraint Thomas mit nach Frankreich nehmen sollen? Frei nach dem Motto: Triumphzug der Lädierten? "Ich denke, es ist sehr einfach, von außen mit dem Finger auf Leute zu zeigen. Man sollte es nicht machen, wenn man nicht die genauen Fakten kennt", meinte nur knapp Ineos' sportlicher Leiter Gabriel Rasch.
Rasch: "Richtig große Fehler haben wir nicht gemacht"
Was aber die genauen Fakten sind, verriet Rasch nicht. Und auch über die Fehleranalyse wird ein verbaler Schleier gezogen. "Oh, ich denke, richtig große Fehler haben wir nicht gemacht. Wir müssen auch nicht viel ändern."
Da dürfte Rasch sich wohl irren. Ein großes Problem für die Zukunft ist: Jumbo Visma hat in den letzten zwei, drei Jahren eine extrem schlagkräftige Truppe aufgebaut. Die Fahrer in schwarz-gelb haben nun auch vom Nektar des Siegers geschlürft. Das verleiht ihnen zusätzliches Selbstbewusstsein.
Ineos hingegen muss aus den eigenen Trümmern ein neues Siegesvehikel zusammenbauen. Ohne den alten Leitwolf Froome, der zu Israel Start Up Nation abwandert. Ohne den erfolgreichen Sportdirektor Nicolas Portal, der im März überraschend verstarb. Ohne Siegesgewissheit, die der Truppe in diesem Spätsommer massiv abhandengekommen ist.
Ineos steht jetzt vor der Phoenix-Herausforderung: Aus der eigenen Asche etwas Neues erschaffen.