"Achtung, an Gleis 101 – ein Zug fährt durch..."
Bahnhof Uelzen: Reisende hasten über den Vorplatz zum Bahnsteig und zum Empfangsgebäude. Bauchige Keramiksäulen schillern in vielen Farben. Gekrönt durch vergoldete Kugeln umrahmen sie die aus der Kaiserzeit stammende helle Backsteinfassade. Auf dem begrünten Dach thront weithin sichtbar eine blauschimmernde gläserne Rundkuppel. Lisbeth und Syne Pedersen aus Südschweden können sich nicht sattsehen:
"Toll! Ist wunderbar. Ja, die tolle Idee mit diesen runden unregelmäßigen Formen und frohen Farben. Man wird ja froh davon. Ich bewundere Hundertwasser sehr, habe viel von seinen Werken gesehen."
Stadtführerin Ursula Grote lenkt die Aufmerksamkeit iner Touristengruppe auf das Vordach des Haupteingangs:
"Schauen Sie mal nach oben. Da wächst es ganz tüchtig. Dann hier rüber das Wartehäuschen –auch mit Begrünung, und der Brüstungsstein hier. Wir gehen jetzt in den Bahnhof direkt rein."
Den düsteren Kasten aus der Kaiserzeit radikal zu verwandeln, gelang Friedensreich Hundertwasser durch einen Trick. Seine Kritiker nennen es auch Tick: diese ungestüme Farben – und Formenvielfalt - mit den geschwungenen Linien ohne Ende. Gusseiserne Stützpfeiler ließ der eigenwillige österreichische Künstler ummanteln:
"Wenn Sie hier mal schauen: das ist allerfeinste Keramik. Die wunderbaren Keramiksäulen, alles Unikate."
Neuer Umwelt- und Kulturbahnhof
Aus dem heruntergekommenen Gebäude zwischen den Gleisen einen Umwelt-und Kulturbahnhof zu machen, erschien Vielen zunächst völlig abwegig. Ein Leserbriefschreiber der Lokalzeitung gab den Anstoß. Bald zogen drei Politiker rot-grün-schwarzer Couleur aus der Region an einem Strang. Sie nahmen Kontakt zu Hundertwasser auf - ließen nicht locker. Schließlich hatte der Künstler noch nie einen Bahnhof umgebaut. Als selbsternannter Architektur-Doktor war er in Uelzen also genau richtig, sagt Raimund Nowak, aus dem damaligen Politiker-Trio:
"Der hat die Bilder gesehen vom Bahnhof und Heilbedarf entdeckt. Und hat dann so gearbeitet wie er die Architekturprojekte macht: Entwirft Skizzen und lässt sie von einem Architekten, den er autorisiert, umbauen."
In seinem neuseeländischen Domizil studierte Hundertwasser Pläne und Fotos des Bahnhofs und brachte erste Zeichnungen zu Papier –schwungvoll und farbenfroh. Stadtführerin Ursula Grote erklärt in der Empfangshalle den unumstößlichen Grundsatz des Künstlers:
"Die Gerade ist gottlos. Die gibt’s in der Natur gar nicht. Der Fußboden, wenn Sie hier schauen: zu den Wänden wellt es sich. Hundertwasser sagt: wir Menschen brauchen eine Melodie unter den Füßen."
Scherben von roten Ziegeln und Fliesen in blau und rot füllen phantasievoll abgerundete Ecken: in den Ladenzeilen und an den Ticketschaltern, am Fotoautomat und am Service-Point der Deutschen Bahn ebenso, wie im Restaurant und in der Galerie mit ihrem orientalischen Ambiente. Konzerte und Lesungen finden hier statt. Manchmal auch Theateraufführungen. Es ist der Lieblingsplatz von Elena Erhart- Villanueva. Die gebürtige Peruanerin ist Sprecherin des Vereins "Bahnhof 2000":
"Schau mal! Diese große Kuppel mit den goldenen Kugeln oben. Das ist eine wunderschöne Architektur. Wie viel Licht empfangen wir hier."
Mit ihrem breitkrempigen schwarzen Hut und dem leuchtendroten Poncho scheint sie selbst einem Hundertwasserbild entsprungen zu sein:
"Ja, ich bin verliebt in diesen Bahnhof. Sie sehen ja: volle Farben und diese goldenen Kugeln. Wenn es regnet, wo die Keramik richtig nass ist, und da anfängt zu glänzen. Das ist das Wunderschöne."
Ein Bahnhof, der eher wie ein Märchenschloss aus 1000 und einer Nacht wirkt. Aus Elenas Sicht sind Besuche hier ein super Mittel gegen Depressionen:
"Im Winter gerade. Einfach so rumgehen, spazieren. Die Säulen gucken. Hundertwasser sagt: diese Säulen sind unsere Bäume."
Im Vorbeigehen berührt sie eine der hohen Keramiksäulen. Links und rechts brausen Züge vorbei. Die Station Uelzen liegt an der vielbefahrenen Nord-Süd-Achse zwischen den Bahnsteigen, als Inselbahnhof. Ein Fußgängertunnel verbindet beide Seiten. Auch unterirdisch hatte Hundertwasser seine planende Hand im Spiel. Aber: der Tunneldurchgang ist überraschend karg gestaltet, mit unverputzten Backsteinwänden:
"Man spürt die Kälte. Dieser Kontrast gibt uns zu denken. Viele Leute mögen das nicht. Sie sagen: wieso oben schön und unten nicht? Aber, es ist gerade der Kontrast. Schauen Sie hier: wie schön das Wasser!"
Ein plätschernder Bach schlängelt sich durch ein Kieselsteinbett mit Hängepflanzen: ein exotisch wirkender Hingucker neben dem schmiedeeisernen Treppengeländer – auf dem Weg in die Empfangshalle
"Das erinnert mich an Jerusalem, irgendwie südländisch. Halten Sie sich fest. Schauen Sie, da können die Menschen mit moderner Technologie gucken: wann geht ihr Zug nach Halle, Bremen, Hamburg, München."
Besonderer Hingucker: Der Toilettenbereich
Ein besonderer Hingucker im Hundertwasserbahnhof ist auch der Toilettenbereich. Dieses sonst so stille Örtchen. Luba Ruf stammt aus Kasachstan. Ihre Kunden führt sie strahlend durch die blitzblanken Räumlichkeiten, die ebenfalls künstlerisch gestaltet sind, versteht sich:
"Aus ganz Deutschland kommen Leute. Aus der ganzen Welt, kann man sagen: Aus Amerika, Frankreich, Russland. Männertoilette, der Waschbeckentisch hat eine Busenform."
Und auf der rechten Seite gibt’s ein Mosaik. Das ist einzige Toilette, die man auch fotografieren darf."
Menschen hasten vorbei, andere schlendern durch die Halle, genießen die phantastische Hundertwasserwelt. Ilse Heuer steht mit Bekannten vor dem Wasserspiel, das plätschernd über runde Steine fließt und hinter einem kunstvollen Geländer unter dem Fußboden verschwindet. Bis jetzt hatte sie mit Hundertwasser und seiner Kunst nichts am Hut, sagt die Soltauerin schmunzelnd – und ganz überwältigt:
"Faszinierend ist das. Wenn ich hier so runter sehe. Das ist doch enorm. Hab ich mir nie vorstellen können. Ich hab mich innerlich immer gegen Hundertwasser-Architektur gewehrt, weil mir das nicht zweckmäßig genug war. Aber, dies ist einfach überwältigend schön."
Übrigens: Friedensreich Hundertwasser hat das Ergebnis seiner Entwürfe für sein Expo-Architektur-Projekt nie gesehen. Der Künstler starb während der Bauarbeiten im Februar 2000 an Bord eines Schiffes auf dem Stillen Ozean. Er war auf dem Weg nach Europa. Auch um den Bahnhof Uelzen zu besuchen.