Tausende Menschen, überwiegend Frauen, verabschieden Tove Ditlevsen 1977, nachdem sich die beliebte Schriftstellerin im Alter von gerade einmal 58 Jahren umgebracht hat. Die Tageszeitung "Politiken" nennt den Trauermarsch durch Kopenhagen eine "Liebeserklärung". Es ist die Liebeserklärung an eine der radikalsten Schriftstellerinnen Dänemarks, an eine Frau, die vom eigenen Leben berichtet und sogar ihren Suizid ankündigt in "Wilhelms Zimmer", ihrer letzten, wieder einmal autofiktionalen Geschichte:
"Sie wird ihr Haar unter die alte Strickmütze stopfen, die sie während der Therapie in der Klinik angefertigt und nie getragen hat. Sie wird ein Taxi nehmen und sich in eine bestimmte Straße in Hillerød fahren lassen, die, wie sie weiß, ganz in der Nähe des Waldes liegt. Der Rest wird leicht sein. Sie braucht nur zwei Stunden Ruhe, und sie weiß von den Pillen, dass man bleibt, wo man ist, und nicht, wie bei den Barbituraten, im Zustand der Vernebelung umherirrt und Gott weiß was anstellt. Zum ersten Mal seit langer Zeit denkt sie an Wilhelm, der jetzt ausnahmsweise einmal stolz auf sie sein würde."
Wilhelm ist Tove Ditlevsens letzter Mann. Den hier geschilderten Suizid stellt die Schriftstellerin nach, doch er misslingt. Ditlevsen wird rechtzeitig im Wald gefunden. Eine Rettung ist es dennoch nicht. Ihr nächster Versuch wird erfolgreich sein – und das heftige Leben dieser hell brennenden, sich selbst permanent ausbeutenden Schriftstellerin ist abrupt vorbei. Vier gescheiterte Ehen, zahlreiche Drogenerfahrungen, Schwangerschaftsabbrüche, Depressionen und Psychiatrieaufenthalte stehen einer beeindruckenden literarischen Karriere gegenüber, das eine jeweils erkauft mit dem anderen.
Ein emanzipiertes Leben
Der frühe literarische Ruhm nach ihrem Lyrikdebüt 1939, wenige Monate vor der deutschen Besatzung Dänemarks, ermöglicht Tove Ditlevsen ein emanzipiertes, von Männern materiell unabhängiges Leben, ein besonderes Leben, das ganz gewöhnlich beginnt, im Arbeiterviertel Kopenhagens, in einer Welt, die zunächst heimelig erscheint:
"Das Wohnzimmer ist an vielen tausend Abenden eine Insel aus Licht und Wärme, und wir befinden uns immer darin wie die Pappfiguren hinter den Säulen des Puppentheaters, das mein Vater nach einem Modell im Familie Journalen gebastelt hat."
Der Vater ist Heizer, einfacher Arbeiter, eine Gesellschaftsstufe unter den wesentlich besser gestellten Handwerkern, weit entfernt vom wohlhabenden Bürgertum, dennoch ein stolzer Mann, ein Gewerkschafter, ein Sozialist, dem Progressiven zugewandt. Trotzdem wird Tove Ditlevsen rückblickend im Jahr 1967 ein Gegenbild zum warmen Wohnzimmer entwerfen, wenn sie im gleichen Buch schreibt:
"Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann."
"Kopenhagen-Trilogie"
Der erste Teil ihrer als "Erinnerungen" deklarierten "Kopenhagen-Trilogie" zimmert diesen Sarg, in dem sich die junge Erzählerin zuerst geborgen, schnell jedoch gefangen fühlt:
"Ich bin knapp sechs Jahre alt und werde bald eingeschult, weil ich schon lesen und schreiben kann. Das erzählt meine Mutter stolz jedem, der ihr noch zuhört. Sie sagt: ‚Auch Kinder armer Leute können Grips haben.' Also mag sie mich vielleicht doch? Mein Verhältnis zu ihr ist eng, qualvoll und unsicher, und nach Zeichen von Liebe muss ich immer suchen. Alles, was ich tue, dient dazu, ihr zu gefallen, sie zum Lächeln zu bringen, ihren Zorn abzuwenden."
Spürbare Brüche sind hier sichtbar, das Drama eines begabten Kindes, vom Vater gefördert, doch gleichsam ermahnt, dass ein Mädchen, selbst wenn es liest und zur Schule geht, niemals Dichter werden kann! Das höchste der Gefühle ist, einen braven Handwerker, also nach oben zu heiraten, diesem Handwerker eine gute Hausfrau und Gattin zu sein. Dieses Leben ist für Tove Ditlevsen vorgesehen, die Arbeitertochter und spätere Star-Schriftstellerin, die sich erinnert:
"Mein Vater schlug mich nie. Im Gegenteil, er behandelte mich immer gut. Von ihm bekam ich alle Bücher meiner Kindheit, und zum fünften Geburtstag schenkte er mir eine wunderschöne Ausgabe von Grimms Märchen, ohne die meine Kindheit traurig, grau und armselig gewesen wäre."
Tagelang von altem Gebäck gelebt
Die Armseligkeit ist spürbar in diesem absichtsvoll kindlich erzählten Band. Ditlevsens Vater wird seine Arbeitsstelle verlieren, wie viele Menschen in der Weltwirtschaftskrise nach dem New Yorker Börsencrash von 1929.
Zwischenzeitlich droht die Armenhilfe, mit ihr der Verlust des Stimmrechts. Tove Ditlevsen muss glücklicherweise nicht hungern, "aber ich lernte einen Halbhunger kennen, wie man ihn beim Duft des Mittagessens spürt, der durch die Türen der Bessergestellten dringt, wenn man tagelang von Kaffee und altem Gebäck gelebt hat, von dem man für 25 Öre eine ganze Schultasche voll bekam".
Das klingt anrührend, wird jedoch gebrochen vermittels lakonischer Szenen, die auf engstem Raum die Tragik des Lebens als Komödie aufführen, denn:
"Ich muss daran denken, wie ich vor ein paar Jahren verblüfft feststellte, dass meine Eltern im Februar desselben Jahres heirateten, in dem zwei Monate später, im April, mein Bruder geboren wurde. Ich fragte meine Mutter, wie das denn sein könne, und sie antwortete schnell: ,Tja, weißt du, beim Ersten dauert es nie länger als zwei Monate.' Dann lachten Edvin und sie, und mein Vater machte ein mürrisches Gesicht."
Klug komponierte Autofiktion
Die Erzählstimme ist suggestiv, das Ich authentisch. Man übersieht leicht, dass diese Mädchenfigur exakt ein Jahr nach Tove Ditlevsen geboren wurde, nämlich am 14. September 1918, nicht 1917, dass dieser Text um seine Verfremdung, dass diese Erinnerung um ihre Konstruktion weiß. "Kindheit" ist autobiografisch inspiriert, aber es ist keine Autobiografie, sondern klug komponierte Autofiktion, die ein Spiel treibt mit dem Voyeurismus ihrer Leserinnen, die aufgerieben aus dieser Geschichte entlassen werden, am Ende der Kindheit, wenn Tove Ditlevsen versagt wird, aufs Gymnasium zu gehen, wenn sie im Alter von 14 Jahren arbeiten soll, und:
"Die Zukunft ist ein monströser, übermächtiger Koloss, der bald auf mich herabstürzen und mich zertrümmern wird. Meine zerfetzte Kindheit flattert um mich herum, und kaum habe ich das eine Loch gestopft, taucht an einer anderen Stelle ein neues auf. Deshalb bin ich verletzlich und reizbar."
In wenigen Tagen wird "Jugend" erscheinen, der zweite Teil dieser Trilogie, kurz darauf "Abhängigkeit", die Geschichte toxischer Ehen und erster Erfolge. "Gift" heißt es im doppeldeutigen Original, das im Dänischen nicht nur "Gift", sondern auch "verheiratet sein" bedeutet. "Kindheit", "Jugend", "Abhängigkeit" sind kurze Bücher, die ihren Plot auf 110 bis 170 Seiten entwerfen. Sehr wahrscheinlich werden sie endlich zum Durchbruch führen, nach zahlreichen Versuchen, Tove Ditlevsen auch in Deutschland bekannt zu machen.
Ein echtes Individuum
Bereits 1962 erschien die erste Übersetzung von "Straße der Kindheit" in der Büchergilde Gutenberg. Mit den Bänden "Sucht" und "Gesichter" wurde Ditlevsen in den 1980er-Jahren bei Suhrkamp verlegt, in schwierig zu lesenden Ausgaben. Das gilt vor allem für "Gesichter", ihr experimentelles Protokoll einer Psychose, damals von einer Dänin ins Deutsche übertragen.
Nun macht sich die Hamburgerin Ursel Allenstein verdient durch ihre berückend klare Übersetzung der "Kopenhagen-Trilogie". Mit ihr erfahren wir, was es bedeutet, ein echtes Individuum zu sein; mitteilsam, unteilbar, eine Stimme findend allen Widrigkeiten zum Trotze – bis zum Ende, bis zum selbstgewählten Tod, dem letzten Kapitel einer weit vorausgehenden Schriftstellerin, einer Arbeitertochter, die angetreten ist, Kraft ihrer Vorstellung zu zeigen, was ein echter Wille ist.
Tove Ditlevsen: "Kindheit"
Teil 1 der "Kopenhagen-Trilogie"
aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Aufbau Verlag, Berlin. 118 Seiten, 18 Euro.
Teil 1 der "Kopenhagen-Trilogie"
aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Aufbau Verlag, Berlin. 118 Seiten, 18 Euro.