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Toxinforschung
Schlangengift aus dem Labor

100.000 Menschen sterben jedes Jahr nach dem Biss einer Giftschlange, weit mehr erleiden körperliche Schäden. Künstliche Mini-Giftdrüsen aus dem Labor sollen helfen, Wirkstoffe zur Behandlung von Schlangentoxinen zu entwickeln. Die Forscher hoffen jedoch noch auf weitere Vorteile für die Medizin.

Von Volkart Wildermuth |
Eine kleine Peringuey Otter bewegt sich im Sand und hinterlässt Spuren, aufgenommen im Hartmannstal im noerdlichen Kaokoveld im Norden von Namibia.
Jedes Jahr sterben mehr als Hunderttausend Menschen an den Folgen eines Schlangenbisses (picture alliance / dpa / Thomas Schulze)
Eine Puffotter schnaubt, eine Sandrasselotter schabt warnend ihre Schuppen aneinander - Alltag im Labor von Nick Casewell an der Universität im englischen Liverpool. Jeden Tag werden hier Schlangen gemolken, um ihr Gift zu gewinnen. Doch inzwischen gibt es noch eine zweite Quelle für Schlangengifte: Mini-Giftdrüsen aus der Zellkultur, so genannte Organoide.
"Organoide sind interessant für die Schlangengift-Forschung, weil sie uns so viel Kontrolle ermöglichen."
Eine Gabun-Viper (lat.: Bitis gabonica) hat sich zusammengerollt. 
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Die Organoide hat der Schlangenforscher nicht selbst hergestellt, diese Arbeit haben Zellkulturspezialisten vom Hubrecht Institut der Universität Utrecht in den Niederlanden übernommen. Dort haben drei Doktoranden nach neuen Herausforderungen gesucht. Der Grund: Praktisch alle relevanten Organe von Mensch und Maus gibt es schon als Organoid, sagt Jens Puschhof.
"Offen gesprochen wurde das Feld langsam eng. Und dann kamen wir auf die Schlangengift-Drüse - ein sehr spannendes Organ von der Biologie, weil sie eben die verschiedenen Giftstoffe produziert."
Gezüchtete Miniorgane produzieren schlangenähnliches Gift
Ein Reptilienzoo in der Nähe lieferte Eier der südafrikanischen Korallenschlange. Die Doktoranden isolierten Zellen aus der embryonalen Giftdrüse und gaben sie erst einmal in das Standardmedium für menschliche Bauchspeicheldrüsenzellen. Die artfremden Wachstumsfaktoren veranlassen auch Schlangenzellen zur Teilung, zumindest wenn man die Temperatur im Brutschrank auf 32 Grad Celsius absenkt. Schlangen sind schließlich wechselwarm.
Schon bald ließen sich die Schlangenzellen problemlos vermehren. Als die Forscher die Wachstumsfaktoren dann wieder entfernten, entwickelten sich die Zellen weiter. Aus kleinen Klumpen entstanden Hohlkugeln, eben Organoide. Und die haben es in sich:
"Dann sehen wir, dass die Wand dieser Organe wieder immer dicker wird, weil sich die Zellen mit Vesikeln füllen, die die Giftstoffe beinhalten. Die Gifte sammeln sich im Inneren dieser Miniorgane."
Sie gleichen chemisch den Giften der Schlange und sie zeigen auch biologische Wirkung – in Form von Lähmungserscheinungen.
"Wenn wir diese organoidproduzierten Gifte auf Muskelzellen gegeben haben, haben wir gesehen, dass sogenannte Calciumwellen gestoppt werden konnten. Und das kann man sich vorstellen, als wenn einen eine Schlange beißt und paralysiert."
"Wir können die Organoide genetisch manipulieren"
Auch die Aktivität von Nervenzellen wird von den Giften aus der Zellkultur genauso beeinträchtigt wie vom Original-Schlangengift. Das besteht im Übrigen nicht aus einem Toxin, sondern aus einer Mischung unterschiedlicher Gifte. Manche lähmen Muskeln, andere schädigen Nerven, stören die Blutgerinnung oder zersetzen das Gewebe.
"Das war eine der zentralen Erkenntnisse dieser Studie, dass es sehr spezialisierte Zelltypen in der Giftdrüse gibt, für Familien von Giftstoffen spezialisierten Zellen, die diese Gifte produzieren. Und was wir mit den Organoiden zeigen konnten: dass wir zwischen diesen Zelltypen hin und her wechseln können, je nachdem welche Wachstumsfaktoren wir den Organoiden zur Verfügung stellen."
Das ist die Kontrolle, auf die es Schlangenforscher Nick Casewell ankommt. In seinem Labor experimentiert er inzwischen mit Organoiden aus den Giftdrüsen von neun Schlangenarten.
"Wir können die Organoide genetisch manipulieren, wir können die Giftzellen verschiedener Schlangenarten vergleichen. So können wir im Detail untersuchen, welche Faktoren bestimmen, welche Toxine wann in der Giftdrüse gebildet werden. Und wie das die Giftmischung beeinflusst, mit der eine Schlange ihre Beute beißt oder einen Menschen."
Hoffen auf neue Wirkstoffe
Nick Casewell und Jens Puschhof hoffen, dass die Organoide dabei helfen, gezielt neue Wirkstoffe für die Behandlung von Schlangenbissopfern zu entwickeln. Und darüber hinaus vielleicht auch für andere Krankheiten. Schon heute gibt es schließlich Medikamente, die niedrig dosierte Schlangentoxine enthalten, um etwa den Blutdruck zu senken oder Schmerzen zu lindern.