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Traditionsbewusstsein
Schlesien ohne Grenzen

Sie kommen aus Polen, Deutschland, Tschechien, Österreich und sie pflegen bei einem Seminar im polnischen polnischen Kurort Świeradów-Zdrój gemeinsam ihre schlesische Identität - über die nationalen Grenzen hinweg. Es geht um Heimat, Versöhnung und darum, was es heißt, Schlesier zu sein.

Von Sebastian Engelbrecht |
Schlesierwappen auf dem polnischen Regionalzug Dolny Slask.
Der Zug zurück zur deutschen Grenze trägt den Namen „Dolny Slask - Niederschlesien“ (Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht)
Bad Flinsberg ist von Berlin eine Ewigkeit entfernt. Die schnellste Verbindung führt über Cottbus und Görlitz. Die Regionalzüge brauchen für 270 Kilometer vier Stunden, und der Reisende muss unterwegs drei verschiedene Fahrkarten lösen.
Der Kulturgeograf Arkadiusz Lisowski, polnischer Schlesier, lädt seit drei Jahren zu internationalen Schlesien-Seminaren in ein Kurhotel nach Świeradów-Zdrój ein – so heißt Bad Flinsberg heute.
An der Promenade spielen zwei Männer Akkordeon. Gemächlichen Schrittes wandeln die Kurgäste an ihnen vorbei durch die Gründerzeit-Herrlichkeit des Ortes.
Im abgedunkelten Seminarraum des Kurhotels "Sudetia" begrüßt Lisowski 30 Seminarteilnehmer aus Polen, Deutschland, Tschechien und Österreich.
"Meine Damen und Herren, ich heiße Sie alle ganz herzlich willkommen zu unserem dritten Schlesien-Seminar: ‚Schlesien ohne Grenzen‘. Das jährlich stattfindende Seminar findet mittlerweile nun schon zum dritten Mal statt, jedesmal hier in Bad Flinsberg in Niederschlesien, am Rande der Oberlausitz."
Im Raum sitzen vor allem Deutsche, die 1945 von hier vertrieben wurden und ihre Nachfahren, zusammen mit Polen, die sich als Schlesier fühlen. Ihre Vorfahren wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine in das heutige West-Polen umgesiedelt.
"Die meisten von uns sind ja Schlesier und haben irgendwelchen Bezug zu Schlesien – dass wir miteinander darüber sprechen, was für uns Schlesien bedeutet. Was bedeutet es, dass wir Schlesier sind? Und dann können wir das konfrontieren mit der Meinung, mit dem Vorstellungsbild anderer Schlesier und uns die Frage stellen: Sind die anders oder vielleicht doch genauso?"
Die erstaunlichste Zahl präsentiert der Regionalhistoriker Jan Puczek in seinem Vortrag über die Selbstwahrnehmung der Schlesier. Bei einer Volkszählung in Polen im Jahr 2011 gaben 847.000 Personen an, sie fühlten sich der "schlesischen Nationalität" zugehörig.
"Während der Zeit des Sozialismus, also in der Volksrepublik Polen, wurde die schlesische Nationalität und Identität sozusagen ignoriert und verschwiegen, obwohl sie eigentlich immer existiert hat. Und erst seit bei diesen Volkszählungen die Möglichkeit besteht diese Nationalität anzugeben, steigt rapide die Zahl der sich zum Schlesiertum Bekennenden."
Schlesier erzählen Versöhnungsgeschichten
Tatsächlich identifizieren sich heute Hunderttausende polnische Schlesier mit ihrer Region, die bis 1945 über Jahrhunderte zu Österreich und später zu Preußen gehörte. An vielen Ort weht die blaugelbe oder gelbschwarze Fahne der Region. Die Historikerin Stefania Zelasko bestätigt die Sicht von Jan Puczek: Ein großer Teil der Menschen im Südwesten Polens verstehen sich als Schlesier.
"Die Menschen wollten immer, aber das war verboten. Da durfte man nichts sagen in kommunistischer Zeit. Deshalb wahrscheinlich haben die nicht geforscht. Und außerdem war es Hass."
Der Hass ist gewichen, auch die Sorge der Polen, dass sie nicht auf Dauer im Lande bleiben dürften. Eine Generation junger polnischer Historiker, sagt Zelasko, interessiere sich für die Geschichte Schlesiens.
Ein Kurhotel mit Schwimmbad und Massageräumen dient nun Polen und Deutschen zum entspannten Gespräch über die Geschichte. Angereist ist auch Doris Baumert aus Stadtoldendorf in Niedersachsen. Baumert ist Vorsitzende des "Geschichtsvereins Kreis Löwenberg" – eines Vereins schlesischer Heimatvertriebener. Sie erzählt von der 800-Jahr-Feier des Ortes Lähn in Niederschlesien.
"Wir haben ein Kilo deutsches Mehl, was ich mitbringen sollte, ein Kilo tschechisches Mehl, was die Delegation der tschechischen Partnerstadt mitgebracht hat, und ein Kilo polnisches Mehl bei der Eröffnungsfeierlichkeit gemischt in einem sehr großen Glas, und daraus wurde dann das Brot gebacken, und am nächsten Tag auf dem Marktplatz haben wir drei Vertreter der drei Länder das Brot gebrochen, und klein geschnittene Scheiben des Brotes wurden unter dem Publikum verteilt."
Restaurierung von Kriegsdenkmälern und Herrensitzen
In den Pausen zwischen den Vorträgen erzählen Schlesier mehrere solcher Versöhnungsgeschichten. Unter gemeinschaftlicher polnisch-deutscher Regie werden preußische Kriegerdenkmäler wieder errichtet, werden Herrensitze, Schlösser und deutsche Friedhöfe restauriert. Bei solchen Projekten hat Ulrich Junker aus dem schwäbischen Bodnegg viele polnische Schlesier beraten.
"Wir haben jetzt in Hirschberg den Gnadenfriedhof restauriert. Wir haben eine Dokumentation erstellt in Deutsch und in Polnisch. Und ich stelle fest: Der Gnadenfriedhof war eine Müllhalde. Keiner hat sich zuständig gefühlt. Und heute sagen die Polen: ‚Unser Gnadenfriedhof‘. Da muss ich ab und zu mal ein bisschen schlucken, muss dann aber sagen: Mensch, jetzt haben wir es ja erreicht."
Von Polen oder Deutschland reden die Teilnehmer des Seminars nur selten. Was sie eint, ist die Hingezogenheit zu einer Region, einer Landschaft namens Schlesien im östlichen Mitteleuropa.
Der Zug zurück zur deutschen Grenze trägt den Namen "Dolny Slask", "Niederschlesien", und unter dem Fenster des Lokführers prangt der schlesische Adler.