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Tragik einer Künstlerin

Elfriede Lohse-Wächtler gehört kunsthistorisch in die Phase der Neuen Sachlickeit. Entblößung, Exzentrizität und Wahnsinn sind ihre Themen und Motive. 1940 fiel die Künstlerin dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten zum Opfer. Jetzt erinnert das Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen an die tragische Künstlerin.

Von Rainer Berthold Schossig |
    "Du kannst mich" heißt dieses Werk von Elfriede Lohse-Wächtler.
    "Du kannst mich" heißt dieses Werk von Elfriede Lohse-Wächtler. (Paula Modersohn-Becker Museum Bremen)
    Diese Schau im zurückhaltenden Ambiente der Bremer Böttcherstraße, umgeben vom versöhnlichen Werk der Worpsweder Malerin Paula Modersohn-Becker, schmerzt: Gleich im Entree wird man von elf harten Selbstbildnissen einer Künstlerin überfallen, die sich ihrer Welt und Zeit erschreckend ausgeliefert sah.

    1930 entstand ihr großformatiges Pastellbild "Über den Leib" - eine Situation hinwerfend, bei der im Unklaren bleibt, ob ein orgiastisches Liebesspiel oder eine Vergewaltigung gemeint ist: Schräg im Bild der entblößte Körper einer Frau, die unverkennbar die Züge der Künstlerin trägt: Geistesabwesend geht ihr Blick unterm wirren Haar, aus tiefen Höhlen ins Weite.

    Die Schönheit des weißen Frauenkörpers wird brutal in Mitleidenschaft gezogen durch die Umarmung eines finsteren Mannes, dessen schwere, ungewaschene Hand sie umklammert hält und ihren Busen unsanft quetscht. Kein Blickkontakt gibt es zwischen dem ungleichen Paar. Der dunkle, keuchende Gast lastet auf ihr wie ein Alb.

    Das virtuos hingeworfene Pastell hält stilistisch die Mitte zwischen Oskar Kokoschka und Egon Schiele, dessen Entblößungsbilder die junge Künstlerin in Dresden höchstwahrscheinlich gesehen hat.

    Scheinbar vom Schicksal begünstigt, wurde Anna Frieda Wächtler in Striesen, einem wohlsituierten bürgerlichen Quartier der sächsischen Residenzstadt Dresden, geboren. An der königlichen Kunstgewerbeschule durfte das musisch begabte junge Mädchen die Fachklasse Mode und weibliche Handarbeiten besuchen. Doch sie war nicht brav. Bald wechselte sie auf eigene Faust in die freie Grafikklasse, was zum abrupten Ende des familiären Friedens beziehungsweise der elterlichen Unterstützung führte.

    Die Schau skizziert den Weg über die expressionistischen Anfänge im Schatten der Dresdner Sezession. Eine Reihe von frühen Holzschnitten und kleinen, feinlinigen Zeichnungen zeigen die stilistische Suche nach künstlerischer Identität.

    Mitte der 20er Jahre verschlägt es sie frisch verheiratet nach Hamburg. Sie nennt sich jetzt Elfriede Lohse-Wächtler und findet, auf St. Pauli, ihren eigenen Stil zwischen Expressivität und Neuer Sachlichkeit. Sie malt den Hafen in merkwürdig harter Melancholie, als soziale Melange: Die Märkte atmen eine ungehobelte Romantik, die Schnaps-Budiken beherbergen zwielichtige Gestalten.

    Schweinemarkt und käufliche Liebe, Betrunkene und Heilsarmee-Musikanten, Mülleimer-Fledderer und Laternenkinder in der Dämmerung, und immer wieder die Künstlerin selbst: als Absinth-Trinkerin oder Liebesdienerin, einsam, verletzlich, auf der Flucht vor sich und der Welt, die Augen weit geöffnet, wie ein gehetztes Tier.

    Nach ehelicher Krise, Nervenzusammenbruch und Beziehungschaos kommt Elfriede Lohse-Wächtler 1929 erstmals in die Psychiatrie: In der Hamburger Anstalt Friedrichsberg entstehen beklemmend realistische Portraits von Insassen: Halbschlafende, Traumwandelnde, grübelnde und dösende Männer und Frauen unbestimmbaren Alters, mit leerem Blick, autistisch, apathisch oder diebisch lauernd, kriechend, händeringend - Menschen ohne Aussichten, ohne Hoffnung, keines Blickes wert.

    Mit diesen "Friedrichsberger Köpfen" gelingt Elfriede Lohse-Wächtler der Durchbruch. Hamburger Galerien bringen Sammler und Kritiker auf den Plan. Plötzlich ist vom sensationellen Talent dieser Frau die Rede: "Elfriede Lohse-Wächtler ragt gegenüber dem heutigen Plätscher-Niveau empor - sie ist entschieden eine Entdeckung", urteilt der Hamburger Anzeiger 1929.

    Es folgt eine letzte intensive, allerdings schon tief zerrissene Schaffensphase, vor allem eine Zeit der Selbstbefragung. Sie häuft Selbstbildnis auf Selbstbildnis. Geschult an den Vorbildern der Wiener Schule, den psychotisch aufgeladenen Bildnissen Kokoschkas und Schieles, aber auch der deutschen Sachlichen wie Otto Griebel und Otto Dix, gelingt es ihr, für kurze Momente den Geist der Zeit zu fassen: Das Einerlei des Tingeltangel, die Einsamkeit der Trinker, die Öde des Straßenstrichs, traurige Liebesszenen mit Zähnen und Krallen.

    Was die Ausstellung ahnen lässt, aber nicht sichtbar macht: Auf ihren Streifzügen durchs Milieu von St. Pauli gerät die protokollierende Künstlerin selbst an den Rand der Gesellschaft: Sie schläft in Wartehallen und Ausnüchterungszellen. Der Rest ist brutal: 1931 wird Elfriede Lohse-Wächtler in die psychiatrische Anstalt von Arnsdorf eingeliefert. Geschieden, entmündigt und sterilisiert wird sie nach Pirna-Sonnenstein deportiert, wo sie 1940 dem nationalsozialistischen Euthanasie-Programm zum Opfer fällt.