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Tragische Puppenstubenwelt

Ágota Kristófs Roman "Le Grand Cahier" wurde in fast 40 Sprachen übersetzt. Den harten, teils gnadenlos kalten Ton der Vorlage vermag die Filmadaption von János Szász nicht durchzuhalten.

Von Christoph Schmitz |
    "Mutter: "Verabschiedet euch jetzt von eurem Vater. Er muss heute Abend zurück." Vater: "Ihr werdet von nun an in dieses Heft alles eintragen, was mit euch passiert. Wir leben im Krieg. Aber wir sind eine Familie und nichts wird uns trennen können. Ich möchte alles erfahren. Alles. Ihr dürft nichts auslassen.""

    Wir schreiben das Kriegsjahr 1944. Die 13-jährigen Zwillinge werden bei der Großmutter auf dem Land in Sicherheit gebracht und auf dem armseligen Hof bei der alten Frau alleine zurückgelassen. Die Jungs haben sie zuvor noch nie gesehen. Die Leute im Ort nennen sie die Hexe. Die Zwillinge erfüllen den Wunsch ihres Vaters und schreiben und malen alles auf, was sie Tag für Tag erleben. Wie die Großmutter sie schlägt, nachts ausschließt und draußen frieren lässt, wie sie auf dem Hof hart arbeiten müssen, um sich eine schlechte Suppe zu verdienen. Vom sterbenden Soldaten erzählen sie, dessen Gewehr sie ihm aus den Armen reißen, als sie ihn am nächsten Tag erfroren im Schnee wiederfinden. Von der jungen Frau, die sie zuerst ins Bad lockt und verführt und danach den deportierten Juden hämisch zuwinkt. Und von dem hasenschartigen Mädchen, das die russischen Soldaten vergewaltigen. Knapp und emotionslos sind die Notate, die die Stimmen der Jungs aus dem Off vortragen. Die Zwillinge spüren, dass die Welt sie vernichten will. Dagegen wollen sie sich wappnen und quälen sich selbst und gegenseitig, was ein deutscher Offizier beobachtet hat.

    "Offizier: "Ihr habt euch auch mit dem Gürtel geschlagen. War das auch eine Übung?" - Zwilling: "Wir tun das, um uns abzuhärten." - Soldat: "Sie glauben wohl, dass sie dann widerstandsfähiger werden." Offizier: "Warum?" - Zwilling: "Um uns an den Schmerz zu gewöhnen." - Offizier: "Mögt ihr es, wenn es wehtut?" - Zwilling: "Nein. Wir tun das nur, um den Schmerz zu besiegen. Und die Kälte. Und den Hunger.""

    Die Lakonie der Rede und des Bösen hat der Regisseur des Films, der Ungar János Szász, von Ágota Kristófs Roman übernommen. Ihre, wie Kristóf es selbst formulierte, "objektive Schreibweise", ihre strenge Orientierung am "Sichtbaren und Hörbaren", ohne sich "um das Innenleben der Figuren zu kümmern", versucht auch der Film für Text, Szene und Kameraführungen zu übernehmen. Das gelingt ihm aber nur bedingt. Den hübschen Gesichtern der namenlosen Zwillinge nimmt man die Entschlossenheit zur kalten Disziplin nicht so ganz ab. Auch in den abweisenden Augen der fettleibigen Großmutter liegt ein Funken Empathie, die der Roman konsequent außen vor läßt. Darüber hinaus bekommen die runtergekommenen Innenräume durch die starken hell-dunkel Kontraste eine wohlige Wärme.

    Die Härte des Romans transportiert eigentlich nur das Tagebuch der Kinder, in das die Kamera hin und wieder hineinschaut. Ein Erschießungskommando als nüchternes Strichfiguren-Graffito dokumentiert den Schrecken pur. Aber das war dem Regisseur wohl zu viel, und so ließ er einzelne Seiten des Tagebuchs animieren. Pflanzen, Blumen, rote Flecken sprießen hervor und verwandeln das große Heft in ein kleines Poesiealbum. Und wenn noch der Schatten eines Bombers über die hübschen Dächer der kleinen Häuschen huscht und der langsame Satz aus der Siebten von Beethoven erklingt, dann ist die tragisch untermalte Puppenstuben-Welt perfekt. Jedenfalls gemessen am harten und gnadenlosen Wort der Roman-Vorlage.

    Zwilling: "Wir müssen die zärtlichen Worte unserer Mutter vergessen. Weil die Erinnerung daran zu sehr schmerzt."