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Tragödie des Abschieds in Zürich

Der russische Dramatiker Anton Tschechow hat das Stück "Der Kirschgarten" vor ziemlich genau einem Jahrhundert geschrieben. Es ist Tschechows letztes Stück, eine Tragödie des Abschieds voller Poesie, ein Stück Traum, voller Leichtigkeit und schwermütiger Gedanken. Der Regisseur Jürgen Gosch hat sich nun am Zürcher Schauspielhaus den "Kirschgarten" vorgeknöpft.

Von Cornelie Ueding | 02.12.2005
    Tschechows "Kirschgarten" - das ist der lange Abschied von der Illusion, das Leben ginge, trotz hoher Verschuldung, doch einfach so weiter wie bisher. Irgendwie. Ein Wartestück. Tatenloses Warten auf den Untergang. Der ließe sich schon vermeiden: einfach den Kirschgarten abholzen, parzellieren, Ferienhäuser bauen und auf die Sommergäste warten. Keine ganz abwegige Idee, wenn man selber ein Leben lang just auf das Gut mit dem Kirschgarten in die Sommerfrische fährt.

    Aber eben unvorstellbar für die Gerade-eben-noch-Gutsbesitzerin. Unvorstellbar, dass es den Kirschgarten mal nicht mehr geben könnte. Noch unvorstellbarer, dass irgendwelche fremden Leute, Touristen, dann einfach dort aufkreuzen würden. Offenbar ganz und gar unvorstellbar, dass das Gut tatsächlich versteigert wird. Noch dazu an einen nobody, an einen, dessen Vater noch Leibeigener war. Auf eben dem Gut. Was sind das für Menschen, die sich derart betriebsblind, zugleich zukunfts-ängstlich und unbeweglich verhalten?

    Regisseur Jürgen Gosch lässt keinen Zweifel daran: Wir selber, wir da, im Zuschauerraum. Damit das auch jeder merkt, bleibt während der ganzen Vorstellung das Saallicht an. Der Spiel-Raum der Figuren ist die über die ersten Parkettreihen vorgezogene leere Bühne. Gespannte weiße Fäden markieren die Zimmerdimensionen, dreidimensional. Stapelbare Stühle, ein paar Tücher und Decken, dazu Reisekoffer - mehr an Inventar ist weder vorhanden noch nötig für eine - Probensituation.

    Denn im Fadenkreuz dieser Inszenierung wird der Ernstfall geprobt. Und wie reagieren Menschen, also wir, wenn wir vor dem Ernst der Lage lieber die Augen verschließen möchten (was, so vor aller Augen, im hell ausgeleuchteten Publikum, doch peinlich wäre)? Richtig: wir stürzen uns ins Vergnügen und feiern und quasseln was das Zeug hält.

    Jürgen Gosch führt uns vor, wie sich die Fun- und Bussi-Gesellschaft aufspielt, und wie dabei jeder nur seinen Text abspult, mit seiner "Nummer" von einem zu andern geradezu hausieren geht und jedem mit seinen Ansichten oder Problemen in den Ohren liegt: klagt, prahlt, wimmert, fordert, heuchelt, heult oder sich aufbläst. Oft gleichzeitig und durcheinander.
    So viel sie auch reden: für ihre Gefühle haben sie keine Sprache. Außer der des Körpers. Hier lag wohl Goschs Regie-Ansatz. Verklemmte oder demonstrative, immer auf Voyerismus setzende Umkleideaktionen, Fußball am Strand, Kopfstand auf dem Stuhl - die Figuren krümmen und winden sich, sie zucken, hecheln und hechten, japsen und erstarren, schleichen umeinander herum oder springen sich an, wenden sich ebenso abrupt ab oder machen groteske Verrenkungen. Aber das ist nie komisch, nur lächerlich. Zerrbilder ihrer selbst. Dass sie alle ihren Kummer, eine große Traurigkeit, Zukunftsängste und Verzweiflung übertönen müssen, erkennt man leider nur an der Lautstärke dieser szenischen Hysterieorgie.

    Gosch zeigt die Außenansicht ihres Abschieds vom Kirschgarten, von einem Teil ihrer selbst, setzt schließlich zur Steigerung der von Anfang an viel zu laut und mit demonstrativ schlotternden Gliedern herausgeschrieenen Erregungszustände dissonante Musikfetzen und schmelzend-schräge Schnulzenklänge ein - und ruft zunehmende Langeweile hervor. Denn das Entscheidende enthält er den karikierten Figuren und den Zuschauern vor: die Ambivalenz aller Gefühle.

    Keine der Figuren nimmt er ernst in ihren widerstreitenden Empfindungen, die den oft abrupten Stimmungswechseln zugrunde liegen. So dass sich auch beim Zuschauer keine Empfindung einstellen kann. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht um Mitleid mit Tschechows Figuren, das, wie es diese Inszenierung nahe legt, ja in Selbstmitleid münden würde. Es geht aber sehr wohl um ihre Menschlichkeit, so verbohrt und realitätsblind sie sind.

    In Zürich betrachtet man die Gleichzeitigkeit von Wut und Traurigkeit, Liebe und Hass, unter deren Wirkung sich die Menschen aufbäumen, wie das Verhalten von Labormäusen, denen man unverträgliche Stoffe ins Futter gemischt hat - mit zunehmender Verärgerung, weil die Inszenierung letztlich alle Figuren denunziert. Dieser Art von pseudoaufklärerischem Theaterspiel liegt ein schwerer Denkfehler zugrunde. Wer innere Öde nur reproduziert und Realitätstflucht als Klamauk inszeniert, vermittelt keine Einsichten.