In Wassili Grossmans Stalingradepos "Leben und Schicksal" erklärt ein Protagonist den schmalen Grat zwischen Gut und Böse. Der gute Mensch unterscheide sich von einem schlechten dadurch, dass er das Schlechte nur ungern tue. In diesem Widerspruch bewegte sich auch der Schriftsteller Wassili Grossman.
1905 als Kind jüdischer Eltern im ukrainischen Berditschew geboren, war Grossman in den dreißiger Jahren ein lupenreiner Vertreter des Sozialistischen Realismus gewesen, der keinen Zweifel an der großen Menschheitsutopie sowjetischer Machart aufkommen ließ. Zugleich rettete er im großen Stalinschen Terror 1937 mit beträchtlichem Mut seine bereits verhaftete Ehefrau aus den Klauen des Geheimdienstes NKWD. Seit 1941 arbeitete er als Kriegsreporter zwischen Stalingrad und Berlin und verlor nach und nach alle Illusionen über das sowjetische System, das für ihn beunruhigende Parallelen zu Hitler-Deutschland offenbarte. Dennoch unterstützte er, dessen Mutter dem nationalsozialistischen Judenmord zum Opfer gefallen war, 1953 eine antisemitische Kampagne Stalins. Die gewiss berechtigte Angst um die eigene Existenz hatte ihn wohl dazu gebracht.
Literarische Kompromisse wollte der politisch zutiefst enttäuschte Grossman nach Ende des Zweiten Weltkriegs aber kaum noch eingehen, im Gegenteil: Grossmanns Bedeutung als Erzähler resultiert aus seinem unbedingten Bedürfnis, die Wirklichkeit so aufleben zu lassen, wie er sie nun sah: ungerecht, unberechenbar und nicht selten brutal.
"Stepanida Jegorowna (Gorjatschewa) fuhr oft mit dem Auto auf ihre Datscha, und jedes Mal freute sie sich über diese leichte und beunruhigende Geschwindigkeit, mit der Gegenstände, Menschen, Tiere auftauchten, anwuchsen und flugs wieder verschwunden waren. Die Datscha war prächtig, hatte acht Zimmer, und außer Stepanida Jegorownas Angehörigen wohnte da noch die Familie eines anderen Mitarbeiters in gehobener Position.
Bis 1937 hatte ein gewisser Jeschegulski, ein kinderloser Mann, mit seiner Ehefrau und seinem alten Vater auf der Datscha gelebt. Jeschegulski war als Volksfeind verhaftet worden, und nun lebte seit bereits zwei Jahren die Familie der Gorjatschewa hier, und nichts erinnerte mehr an Jeschegulski, außer den gelben Lilien, die sein Vater hier gepflanzt hatte."
Stepanida Jegorowna Gorjatschewa, gerade erst Mitte Zwanzig, hat einen atemberaubenden sozialen Aufstieg unter Stalin absolviert: Putzfrau, Mähdrescherfahrerin, dann Direktorin einer Sowchose und schließlich Abteilungsleiterin in einem der "Volkskommissariat" genannten Ministerien der Sowjetunion. Stalins Schauprozesse, konkret die willkürliche Verhaftung ihrer Vorgesetzten, haben der Gorjatschewa den Weg nach oben geebnet. Der Terror des Staates gegen seine treuesten Vertreter hat die Schicht der alten Revolutionäre dezimiert. Nun treten zunächst unbeschriebene junge Arbeiter und Bauern an ihre Stelle. Stepanida Jegorowna ist erfolgreich, aber keineswegs überangepasst. Verschiedentlich hat sie sich für Verfolgte eingesetzt. Sie ist Teil der Nomenklatur - und bleibt doch nur ein Spielball der Mächtigeren, der jeden Augenblick fallen gelassen werden kann.
Fünfzehn Geschichten enthält Wassili Grossmans Band "Tiergarten". Entstanden sind sie zwischen 1938, einem Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und 1963, wenige Monate dem Tod des Autors. Die Jahreszahlen unter den Erzählungen verraten, dass Grossman an einigen von ihnen jahrzehntelang gearbeitet - oder, was eher zu vermuten ist, die Arbeit nach langen, durch die äußere Lage verursachten Pausen wieder aufgenommen hat.
Veröffentlicht wurden die Texte in der vorliegenden Form erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Kein Wunder, denn das was Grossman in seiner realistischen Manier zu erzählen hat, sprengte nicht nur die engen Grenzen des Zulässigen in der Stalin- Ära. Es war wohl auch für die darauf folgende Periode des "Tauwetters", einer leichten Lockerung der Zensur unter Chruschtschow, zu viel des Guten.
Dabei kommt manche Geschichte vergleichsweise harmlos daher, etwa der Text "Abel". Erzählt wird nach einem schlichten psychologischen Schema vom Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima. Der junge Amerikaner Joseph verfällt, nachdem er die Bombe ausgeklinkt hat, dem Wahnsinn.
Mehr geistigen Sprengstoff birgt die Titelgeschichte "Tiergarten". Während die Rote Armee nach Berlin einrückt, werden die Tiere des Zoologischen Gartens vom Freiheitsfieber befallen. Die meisten Menschen hingegen verharren in jenen Verhaltensmustern, die sie das Naziregime gelehrt hat. Grossman lässt einen Außenseiter, den alten Tierwärter und Hitlergegner Ramm über das System totalitärer Herrschaft philosophieren. Indirekt gerät dabei auch das sowjetische Lagersystem des GULAG in den Blick.
"Und gleichzeitig wohnte in Ramms Herzen der unbewusste Glaube daran, dass ein Mensch, der zu einem Sklaven gemacht worden ist, dem Schicksal nach zu einem Sklaven wird, nicht aber in seiner Seele. Er spürte: Das Streben nach Freiheit kann man unterdrücken, aber man kann es nicht ausmerzen. In den Lagern und Gefängnissen saßen nicht wenige Menschen, die der Freiheit die Treue bewahrt hatten."
Grossman bevorzugt die Ästhetik der Einfühlung. Sein Text über "Die Sixtinische Madonna", ein im Krieg erbeutetes Bild, das in Moskau ausgestellt und 1955 nach Ostdeutschland zurückgegeben wird, bewegt sich in der Nähe einer geradezu heilsgeschichtlichen Botschaft. Andererseits demonstriert der Autor seinen geschärften Sinn für die grotesken Seiten der Wirklichkeit. In der Kurzerzählung "Die Mieterin" wird ein Stalinopfer rehabilitiert, doch die "normalen" Nachbarn von einst behandeln es wie einen Untoten, haben sich längst mit seinem Verschwinden arrangiert - und seinen Besitz angeeignet.
Meisterschaft beweist der Grossman vor allem dort, wo er die großen Tragödien des Zeitalters in ihrem Alltag spiegelt. "Mama" erzählt von einer ungewöhnlichen Adoption in den späten dreißiger Jahren. Der reale, allseits gefürchtete NKWD-Chef Nikolai Iwanowitsch Jeschow, verantwortlich für Stalins Säuberungen mit Millionen Toten, holt in dieser Geschichte die kleine Nadja aus dem Heim zu sich. Nadjas Eltern sind dem Terror zum Opfer gefallen. Doch auch der Augenblick der Entmachtung des blutrünstigen Jeschow naht.
"Die Hausherrin tigert nächtelang durch das Zimmer, steht über die schlafende Nadja gebeugt da, flüstert etwas, klirrt im Dunklen mit Arzneifläschchen, macht alle Kristallleuchter an, geht wieder zu Nadja, flüstert, flüstert. Als würde sie beten oder Gedichte aufsagen. Am Morgen kommt Nikolai Iwanowitsch grau und hohlwangig nach Hause. Kaum hat er den Mantel abgelegt, zündet er sich im Flur eine Zigarette an, sagt gereizt: 'Ich werde nicht frühstücken, und Tee möchte ich auch nicht.' Die Hausherrin erkundigt sich bei Nikolai Iwanowitsch nach irgendetwas und schreit plötzlich erschrocken auf ... "
Im wahren Leben wurde der Massenmörder Jeschow 1940 auf Betreiben Stalins hingerichtet, weil er sich dessen Kontrolle zu entziehen drohte. 1995 forderte seine Adoptivtochter, eine Akkordeonlehrerin und Grossmans Vorbild für die Figur der Nadja, öffentlich die Rehabilitierung ihres Adoptivvaters, an den sie nur die besten Erinnerungen hegte.
Wassili Grossmans Geschichten sind in ihrer thematischen und stilistischen Bandbreite herausragende Zeugnisse eines literarischen Realismus, der eine unglaubliche Wirklichkeit entblößt. In der deutschen Ausgabe wird dies nicht zuletzt in der brillanten Übersetzung von Katarina Narbutovič spürbar.
1905 als Kind jüdischer Eltern im ukrainischen Berditschew geboren, war Grossman in den dreißiger Jahren ein lupenreiner Vertreter des Sozialistischen Realismus gewesen, der keinen Zweifel an der großen Menschheitsutopie sowjetischer Machart aufkommen ließ. Zugleich rettete er im großen Stalinschen Terror 1937 mit beträchtlichem Mut seine bereits verhaftete Ehefrau aus den Klauen des Geheimdienstes NKWD. Seit 1941 arbeitete er als Kriegsreporter zwischen Stalingrad und Berlin und verlor nach und nach alle Illusionen über das sowjetische System, das für ihn beunruhigende Parallelen zu Hitler-Deutschland offenbarte. Dennoch unterstützte er, dessen Mutter dem nationalsozialistischen Judenmord zum Opfer gefallen war, 1953 eine antisemitische Kampagne Stalins. Die gewiss berechtigte Angst um die eigene Existenz hatte ihn wohl dazu gebracht.
Literarische Kompromisse wollte der politisch zutiefst enttäuschte Grossman nach Ende des Zweiten Weltkriegs aber kaum noch eingehen, im Gegenteil: Grossmanns Bedeutung als Erzähler resultiert aus seinem unbedingten Bedürfnis, die Wirklichkeit so aufleben zu lassen, wie er sie nun sah: ungerecht, unberechenbar und nicht selten brutal.
"Stepanida Jegorowna (Gorjatschewa) fuhr oft mit dem Auto auf ihre Datscha, und jedes Mal freute sie sich über diese leichte und beunruhigende Geschwindigkeit, mit der Gegenstände, Menschen, Tiere auftauchten, anwuchsen und flugs wieder verschwunden waren. Die Datscha war prächtig, hatte acht Zimmer, und außer Stepanida Jegorownas Angehörigen wohnte da noch die Familie eines anderen Mitarbeiters in gehobener Position.
Bis 1937 hatte ein gewisser Jeschegulski, ein kinderloser Mann, mit seiner Ehefrau und seinem alten Vater auf der Datscha gelebt. Jeschegulski war als Volksfeind verhaftet worden, und nun lebte seit bereits zwei Jahren die Familie der Gorjatschewa hier, und nichts erinnerte mehr an Jeschegulski, außer den gelben Lilien, die sein Vater hier gepflanzt hatte."
Stepanida Jegorowna Gorjatschewa, gerade erst Mitte Zwanzig, hat einen atemberaubenden sozialen Aufstieg unter Stalin absolviert: Putzfrau, Mähdrescherfahrerin, dann Direktorin einer Sowchose und schließlich Abteilungsleiterin in einem der "Volkskommissariat" genannten Ministerien der Sowjetunion. Stalins Schauprozesse, konkret die willkürliche Verhaftung ihrer Vorgesetzten, haben der Gorjatschewa den Weg nach oben geebnet. Der Terror des Staates gegen seine treuesten Vertreter hat die Schicht der alten Revolutionäre dezimiert. Nun treten zunächst unbeschriebene junge Arbeiter und Bauern an ihre Stelle. Stepanida Jegorowna ist erfolgreich, aber keineswegs überangepasst. Verschiedentlich hat sie sich für Verfolgte eingesetzt. Sie ist Teil der Nomenklatur - und bleibt doch nur ein Spielball der Mächtigeren, der jeden Augenblick fallen gelassen werden kann.
Fünfzehn Geschichten enthält Wassili Grossmans Band "Tiergarten". Entstanden sind sie zwischen 1938, einem Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und 1963, wenige Monate dem Tod des Autors. Die Jahreszahlen unter den Erzählungen verraten, dass Grossman an einigen von ihnen jahrzehntelang gearbeitet - oder, was eher zu vermuten ist, die Arbeit nach langen, durch die äußere Lage verursachten Pausen wieder aufgenommen hat.
Veröffentlicht wurden die Texte in der vorliegenden Form erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Kein Wunder, denn das was Grossman in seiner realistischen Manier zu erzählen hat, sprengte nicht nur die engen Grenzen des Zulässigen in der Stalin- Ära. Es war wohl auch für die darauf folgende Periode des "Tauwetters", einer leichten Lockerung der Zensur unter Chruschtschow, zu viel des Guten.
Dabei kommt manche Geschichte vergleichsweise harmlos daher, etwa der Text "Abel". Erzählt wird nach einem schlichten psychologischen Schema vom Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima. Der junge Amerikaner Joseph verfällt, nachdem er die Bombe ausgeklinkt hat, dem Wahnsinn.
Mehr geistigen Sprengstoff birgt die Titelgeschichte "Tiergarten". Während die Rote Armee nach Berlin einrückt, werden die Tiere des Zoologischen Gartens vom Freiheitsfieber befallen. Die meisten Menschen hingegen verharren in jenen Verhaltensmustern, die sie das Naziregime gelehrt hat. Grossman lässt einen Außenseiter, den alten Tierwärter und Hitlergegner Ramm über das System totalitärer Herrschaft philosophieren. Indirekt gerät dabei auch das sowjetische Lagersystem des GULAG in den Blick.
"Und gleichzeitig wohnte in Ramms Herzen der unbewusste Glaube daran, dass ein Mensch, der zu einem Sklaven gemacht worden ist, dem Schicksal nach zu einem Sklaven wird, nicht aber in seiner Seele. Er spürte: Das Streben nach Freiheit kann man unterdrücken, aber man kann es nicht ausmerzen. In den Lagern und Gefängnissen saßen nicht wenige Menschen, die der Freiheit die Treue bewahrt hatten."
Grossman bevorzugt die Ästhetik der Einfühlung. Sein Text über "Die Sixtinische Madonna", ein im Krieg erbeutetes Bild, das in Moskau ausgestellt und 1955 nach Ostdeutschland zurückgegeben wird, bewegt sich in der Nähe einer geradezu heilsgeschichtlichen Botschaft. Andererseits demonstriert der Autor seinen geschärften Sinn für die grotesken Seiten der Wirklichkeit. In der Kurzerzählung "Die Mieterin" wird ein Stalinopfer rehabilitiert, doch die "normalen" Nachbarn von einst behandeln es wie einen Untoten, haben sich längst mit seinem Verschwinden arrangiert - und seinen Besitz angeeignet.
Meisterschaft beweist der Grossman vor allem dort, wo er die großen Tragödien des Zeitalters in ihrem Alltag spiegelt. "Mama" erzählt von einer ungewöhnlichen Adoption in den späten dreißiger Jahren. Der reale, allseits gefürchtete NKWD-Chef Nikolai Iwanowitsch Jeschow, verantwortlich für Stalins Säuberungen mit Millionen Toten, holt in dieser Geschichte die kleine Nadja aus dem Heim zu sich. Nadjas Eltern sind dem Terror zum Opfer gefallen. Doch auch der Augenblick der Entmachtung des blutrünstigen Jeschow naht.
"Die Hausherrin tigert nächtelang durch das Zimmer, steht über die schlafende Nadja gebeugt da, flüstert etwas, klirrt im Dunklen mit Arzneifläschchen, macht alle Kristallleuchter an, geht wieder zu Nadja, flüstert, flüstert. Als würde sie beten oder Gedichte aufsagen. Am Morgen kommt Nikolai Iwanowitsch grau und hohlwangig nach Hause. Kaum hat er den Mantel abgelegt, zündet er sich im Flur eine Zigarette an, sagt gereizt: 'Ich werde nicht frühstücken, und Tee möchte ich auch nicht.' Die Hausherrin erkundigt sich bei Nikolai Iwanowitsch nach irgendetwas und schreit plötzlich erschrocken auf ... "
Im wahren Leben wurde der Massenmörder Jeschow 1940 auf Betreiben Stalins hingerichtet, weil er sich dessen Kontrolle zu entziehen drohte. 1995 forderte seine Adoptivtochter, eine Akkordeonlehrerin und Grossmans Vorbild für die Figur der Nadja, öffentlich die Rehabilitierung ihres Adoptivvaters, an den sie nur die besten Erinnerungen hegte.
Wassili Grossmans Geschichten sind in ihrer thematischen und stilistischen Bandbreite herausragende Zeugnisse eines literarischen Realismus, der eine unglaubliche Wirklichkeit entblößt. In der deutschen Ausgabe wird dies nicht zuletzt in der brillanten Übersetzung von Katarina Narbutovič spürbar.