Dirk Müller: Die Sorgen von Sigmar Gabriel. Das ist in vielen Teilen auch das Sorgenpaket der Europäischen Union. Die USA also auf dem Rückzug aus Europa – das ist unser Thema mit Josef Braml, USA-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Tag.
Josef Braml: Guten Tag, Herr Müller.
Müller: Kann das Ganze auch gut für uns sein?
Braml: Ja. Die Amerikaner sagen "never waste a crisis". Wir haben im wahrsten Sinne des Wortes eine Krise. Wir werden jetzt nicht nur aus dem Osten bedroht, sondern die ehemalige Schutzmacht bedroht uns auch in manchen Politikfeldern – nicht in der Sicherheitspolitik, aber durchaus in der Handels- und in der Wirtschaftspolitik. Da müssen wir auf der Hut sein.
"Wir können den Druck von außen nutzen"
Müller: Sie sagen, Bedrohung; könnte auch sein Wettbewerb und Konkurrenz.
Braml: Das ist Konkurrenz, etwas diplomatischer ausgedrückt. Aber wir können diesen Druck von außen nutzen, um das in Europa voranzubringen, was wir eigentlich schon seit Jahrzehnten gemacht haben sollten, nämlich die politische Union der Wirtschaftsunion nachschieben. Das ist ein Konstruktionsfehler. Das hat auch Bundeskanzlerin Merkel ihrem Altvater Kohl noch ins Stammbuch geschrieben. Der muss behoben werden. Sonst fliegt das europäische Experiment auseinander und die wohl letzte Hoffnung für eine liberale Weltordnung wäre dahin.
Müller: Herr Braml, das hören wir ja seit Jahrzehnten. Auch viele von uns, die vor Jahrzehnten studiert haben, haben das bereits gehört. Aber dieses politische Europa, wie Sie es gerade auch skizzieren, ist ja bisher immer an den Europäern gescheitert. Warum?
Braml: Es ist an einzelnen nationalen Egoismen gescheitert, die Verteidigungsunion _53 im französischen Parlament. Aber genau aus dieser Richtung kommt jetzt ein anderer Impuls und wenn es scheitert, dann wohl an uns. Aber ich glaube eben nicht. Weil sich die Welt seitdem ein paar Mal gedreht hat und die sogenannte Weltunordnung noch unordentlicher gewesen ist, ist jetzt wirklich viel Dampf unterm Kessel. Wir müssen jetzt handeln. Ich glaube, wer es jetzt nicht begriffen hat, wird es nicht mehr begreifen. Die Worthülsen von Pooling and Sharing und Smart Defence und Resilienz, die Zeit ist jetzt vorbei. Wir müssen jetzt diese Worthülsen mit Inhalten füllen, auch um Europa zusammenzuhalten.
Müller: Sie sagen jetzt immer wir. Wen meinen Sie denn damit?
Braml: Frankreich und Deutschland vornehmlich. Es wird wohl nicht alle geben, die hier gleich mitziehen. Aber es wird wohl auf zwei Geschwindigkeiten hinauslaufen, wenn Frankreich und Deutschland sich verständigen, wenn Deutschland denn auch irgendwann mal wieder eine Regierung haben sollte, die dann größere Projekte anpacken kann und nicht nur das verwalten, was noch ist. Dann, denke ich, können da riesige Schritte vorangegangen werden. Wenn wir zurückschauen, waren es ja immer Krisen, die Europa vorangebracht haben. Vielleicht ist es auch dieses Mal so.
"Liberale Demokratie ist nicht nur in Amerika unter Druck, auch in Frankreich"
Müller: Herr Braml, auch das wird ja immer wieder nicht nur in der Wissenschaft, in Expertenkreisen, in politischen Kreisen gefordert. Auch viele Journalisten sagen das, in vielen Diskussionen ist das immer wieder zu hören, gerade die deutsch-französische Achse. Gibt es die wirklich überhaupt?
Braml: Ich denke, die gibt es. Und wenn es die jetzt nicht wirklich auch in konkreten Projekten gibt, dann gibt es wahrscheinlich Europa nicht mehr so, wie wir es kennen, und auch die liberale Ordnung in den einzelnen Ländern nicht mehr. Wir haben ein Zeitfenster von ein, zwei Jahren. Wenn Macron nicht liefert, ist Marine Le Pen um die Ecke. Die liberale Demokratie ist jetzt nicht nur in Amerika schwer unter Druck; auch in Frankreich. Macron war eine Revolution für das bestehende System.
Wir hatten mit Macron mehr Glück als mit Trump. Und auch in Deutschland ist nicht alles beim Rechten, vor allem, wenn man den rechten Raum anschaut. Auch hier gibt es große Probleme für die liberale Demokratie. Ich glaube, der Staat muss jetzt liefern. Nicht dass die Menschen auf die Idee kommen, wie Sie es anmoderiert hatten oder Sigmar Gabriel es ausgesprochen hat, dass Menschen vielleicht auf die Idee kommen könnten, dass es auch ohne Staat geht. Ich glaube, ohne Staat geht es nicht. Wenn man die Wirtschaft sich selbst überlässt, dann vermachtet sie. Dann passiert das, was in Amerika passiert ist. Das ist die größte Gefahr für die liberale Demokratie.
Müller: Bisher, Herr Braml, hat das ja offenbar nicht ganz so funktioniert, wie Sie sich das zumindest vorstellen, in Punkto Vertiefung, in Punkto Vergemeinschaftung, deutsch-französische Achse. Wir beide wollten im Grunde über die Rolle auch der Vereinigten Staaten mit Blick auf Europa reden. Jetzt sind wir automatisch – und vielleicht ist das ja auch die Problematik in der Substanz – auf Europa gekommen. Sie sagen, Macron muss liefern. Muss Macron, um dabei zu bleiben, nicht erst mal in Frankreich selbst liefern, bevor er versucht, die Deutschen wieder mit einzubinden?
Braml: Das meine ich! Wenn er nicht liefert, ist Marine Le Pen um die Ecke. Aber das wird Geld kosten und da wird es ohne Deutschland nicht gehen.
"Wir haben hier massive Infrastrukturprobleme"
Müller: Und da sollen wir helfen?
Braml: Ja, da müssen wir helfen, weil es im Endeffekt dann sehr viel mehr kosten wird, wenn wir hier uns nicht auch entgegenkommend zeigen. Sei es jetzt was Eurobonds angeht im Verteidigungsbereich, was vielleicht auch Eurobonds im Infrastrukturbereich angeht.
Müller: Aber das heißt ja Haftungsunion. Das heißt, wir würden dann mit Frankreich in einem Boot sitzen und das Risiko teilen, was die Franzosen eventuell dann anders beantworten in der Politik, als wir uns das wünschen?
Braml: Ja! Das wäre die Folge, dass man Nationalismen überwindet, nicht Haftungsunion in dem Sinne, dass man für vergangene Schulden haftet. Ich glaube, da muss man wohl eine Linie ziehen. Aber was die Zukunft angeht, um Schlimmeres zu verhindern, ich glaube, da müssen wir beide haften. Weil wie gesagt der Preis eines zusammenfallenden Europas, eines Europas mit Nationalismen sehr viel höher ist, wenn man sich die zwei Weltkriege noch mal vergegenwärtigt. Ich hoffe, wir haben aus dieser desaströsen Geschichte gelernt. Was da Werte verbraten wurden, das können wir jetzt mit Peanuts hoffentlich verhindern.
Müller: Um das jetzt noch mal zusammenzufassen: Deutsches Geld zur Sanierung des kranken Frankreichs?
Braml: Nein! Europäische Infrastrukturmaßnahmen. Wenn Trump es ernst meint – vielleicht kommen wir über diesen Weg doch noch nach Amerika -, dass er Außenhandelsüberschüsse als Problem ansieht, dann will er offensichtlich auch nicht mehr die Währungsreserven, die wir dann wieder Amerika gegeben haben in die sogenannten tiefen Märkte. Wer sich erinnert: Wir haben 2007/2008 tausend Milliarden allein in Deutschland verloren in diesen abgrundtiefen Märkten. Vielleicht haben wir daraus gelernt und es können vielleicht auch die institutionellen Anleger, aber auch Sparer, die höhere Zinsen wollen, um ihre Renten dann zu erhalten, vielleicht in Europa investieren. Auch wir haben hier massive Infrastrukturprobleme. So können wir uns selber einen Infrastrukturfonds anlegen.
Müller: Ist das nicht eine Vertrauensfrage? Sie sagen, in Europa wieder mehr investieren. Das war die vergangenen Jahre ja ein Loch oder ein Fass ohne Boden.
Braml: Wenn Sie sich die Weltlage, die Finanzlage anschauen, dann können Sie Menschen nicht beneiden, die sehr viel Geld haben. Die müssen irgendwo investieren. Die Blasen sind allerorts sichtbar. Vielleicht konzentriert man sich wieder auf Wertschöpfungen, die auch die Demokratie erhalten können.
Müller: Kommen wir noch mal auf unsere Ursprungsthese beziehungsweise Fragestellung zurück. Ich hatte das so formuliert: Die USA auf dem Rückzug aus Europa. Das hat Donald Trump mehr oder weniger ja angekündigt, mehr oder weniger deutlich oder eben auch indirekt. Die amerikanische Administration hat in den vergangenen Monaten ja einiges dafür getan, dass dieser Eindruck entsteht. Die Europäer haben das auch genauso aufgefasst. Jetzt noch mal die Frage: Können wir auch ohne amerikanischen Einfluss, ohne eine amerikanische Rolle in Europa außen-, sicherheits-, wirtschaftspolitisch gut weitermachen?
Braml: Nein. Die nächsten zehn bis 15 Jahren sind wir, was Sicherheitspolitik angeht, hilf- und schutzlos. Das muss man anerkennen. Wenn wir jetzt davon sprechen, Europa stärker aufzubauen, dann kann das nur innerhalb der NATO sein, dass man innerhalb der NATO einen Baustein etabliert, der entscheidungs- und handlungsfähig ist, auch wenn Amerika nicht danach sein sollte.
"Das ist nicht gegen Amerika. Das ist für Europa"
Müller: Aber die NATO ist ja Amerika.
Braml: Das kann der Nucleus sein für eine dann eigenständigere europäische Rolle. Die ist offensichtlich gewünscht. Es gab ja Zeiten, da wollte man das nicht aus Washington. Jetzt werden wir dazu genötigt, ob wir das wollen oder nicht. Ich glaube, der Schwanz wackelt nicht mit dem Hund. Wir können noch so viele schöne Worthülsen kreieren - was Amerika jetzt interessiert ist, dass wir hier wirklich mehr für unsere eigene Sicherheit zahlen. Das müssen wir tun, weil das Amerika so will.
Müller: Das wollte ich gerade sagen. Das kostet ja richtig viel Geld. Das haben bisher ja in großen Teilen die Amerikaner übernommen.
Braml: Ja! Wir können jetzt weiterhin Tribut zollen, und ich nenne das bewusst Tribut zollen, für die amerikanische Schutzmacht, obwohl wir uns nicht wirklich darauf verlassen können, wie auch die deutsche Bundeskanzlerin das gesagt hatte. Oder wir beginnen endlich einmal, uns eigenständiger aufzustellen. Das ist nicht gegen Amerika. Das ist für Europa. Und ich denke, Europa wird auch ernster genommen, wenn es hier auch mehr zu bieten hat, wenn es sich selber schützen kann.
Müller: Bei uns heute Mittag live im Deutschlandfunk Josef Braml, USA-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Vielen Dank, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.