Der "Wilde Osten" in den 1990er-Jahren: Die Sowjetunion ist tot. Die Staats-Kombinate werden geplündert und Rohstoffe ins Ausland verschoben. Ehemalige KGBler, Mafiabanden und Oligarchen geben den Ton an. Wer den Neureichen im Wege steht, bekommt es mit brutalen Schlägertrupps zu tun. Wie Alexej Zlobin, Kneipen-Gründer im sibirischen Wladiwostok.
Ohne Vorankündigung packte einer Alexej mit einem Würgegriff von hinten am Hals. Der andere schlug ihm mehrmals mit voller Kraft in den Magen und ins Gesicht. Alexej ging zu Boden, dort traten sie gnadenlos auf ihn ein. Ob er nicht wüsste, in welchem Revier er sei, stießen sie hervor. Gäste fanden Alexej, aus dem Mund blutend und mit zwei verlorenen Zähnen. In seinem Mund hatte man eine zerschlagene Wodkaflasche gesteckt.
Alexej ist ein Freund der Buchautoren Thomas Kunze und Thomas Vogel. Kunze, ein Ostdeutscher, arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Taschkent. Co-Autor Vogel ist Schweizer Journalist. In ihrem gemeinsamen Report "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit" dokumentieren sie - anhand von Alltagsgeschichten und Polit-Berichten - den schmerzhaften Umbruch in den neu gegründeten 15 Nachfolge-Republiken - von Estland über Russland bis nach Tadschikistan. Die Verfasser haben in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Reisen Richtung Osten unternommen. Nun ziehen sie Bilanz - immer mit dem Finger in der Wunde. So lauten die Schlagworte im Kapitel über die Hauptmacht Russland: Korruption, Tschetschenienkrieg, Scheindemokratie und Stalinismus. Kunze und Vogel belegen, dass viel Sowjet-Zentralismus bis heute überlebt hat. Etwa bei der Putin-Partei "Geeintes Russland".
Der 2010 verstorbene frühere Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin bemerkte dazu: Egal, welche Partei oder gesellschaftliche Organisation wir gründen, es kommt immer so etwas wie die KPdSU dabei heraus.
"Die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, UdSSR, existiert seit heute 18 Uhr auch völkerrechtlich nicht mehr. Hier, im Kreml, wurde die sowjetische Flagge durch die russische ersetzt."
Mit dem endgültigen Aus der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 wollen – anders als Russland - viele neue Nachbar-Republiken die Vergangenheit möglichst schnell abstreifen. Die Balten etwa diskriminieren deshalb immer wieder Mitbürger, die einst zugewandert sind oder von Moskau angesiedelt wurden.
Die Litauer machen in der Mehrheit die Russen für all das verantwortlich, was sowjetisch war, und sie unternehmen teils hilflose Versuche, sich von dieser sowjetischen Vergangenheit zu verabschieden.
Beobachten Kunze und Vogel in ihrem Transformationsbuch.
2010 sollte in der Stadt Ponewiesch, im Nordosten Litauens, Straßenfeger nur deshalb eine Strafe zahlen, weil ihre Schneeschaufeln aus rot gestrichenem Sperrholz mit Hammer und Sichel verziert waren, ein Überbleibsel aus Sowjetzeiten. Die kommunalen Angestellten hatten die Schippen im Lager des Rathauses gefunden. Sie wurden wegen "Öffentlichem Zeigen von nazistischer und sowjetischer Symbolik" angeklagt, was in Litauen seit 2008 strafbar ist.
Die Verfasser weisen auf weitere baltische Problempunkte hin – etwa auf pro-faschistische Gruppen in Lettland oder auf ein CIA-Gefängnis in Litauen. Das Autorenduo verschweigt aber auch nicht die andere – ermutigende - Seite des postsowjetischen Baltikums: Demokratie und Wirtschaftsaufschwung, wie in Estland.
Nichts machte Estland so berühmt, wie seine elektronische Revolution. Das Land wirbt mit dem Logo "e-Estonia" für sich. Der weltweite Siegeszug des Internettelefondienstes Skype begann in Tallinn. Zwei estnische Tüftler erfanden das Programm. Der estnische Staat garantiert heute den kostenlosen Zugang zum Internet. Das gefällt den Investoren. Immer mehr nähert sich Estland an die skandinavischen Länder an. Das ist politisch so gewollt.
Das Buch "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken" schildert auch viel Skurriles - etwa in Kasachstan. Der autoritäre Staat war 2006 gegen den US-amerikanischen Erfolgs-Film "Borat" vorgegangen – gegen einen Satirestreifen, der das Steppenland aufs Korn nimmt. Die Regierung in Astana protestierte derart überzogen, dass es schließlich "handfeste Verwerfungen" zwischen Kasachstan und den USA gegeben habe, berichten die Autoren. Die beiden Experten schreiben - durchgängig - ohne Polemik. Dennoch hat ihr Werk eine stilistische Schwäche: Es wirkt nicht immer wie aus einem Guss. Denn Kunze und Vogel texten zum einen im lebendigen Reportage-Stil, zum anderen im trockenen Sachbuch-Stil. Dabei sind die Übergänge zwischen den Erzählformen nicht überall gelungen. Somit heben sich die Schreibweisen mitunter zu stark voneinander ab. Trotz dieses Mankos bieten Kunze und Vogel einen anschaulichen - und differenzierten - Überblick über die postsowjetischen Prozesse. Einen Überblick, der keine politische Rücksicht nimmt - auch nicht auf den georgischen Staatspräsidenten Micheil Saakaschwili:
Im Westen, wo man Saakaschwili lange Zeit den Demokraten und Helden der "Farbigen Revolutionen" im postsowjetischen Raum sah, verblasst dessen Bild. Saakaschwili regiert Georgien immer selbstherrlicher und lässt in Tiflis Demonstranten, die seinen Rücktritt fordern, genauso verprügeln wie sein Kollege in Weißrussland.
Der Report über die Ex-UdSSR skizziert die Region als extrem spannungsreich. Dennoch sind die Autoren voller Hoffnung: Gerade das mächtige Russland werde sich dem westlichen Europa annähern, glauben sie. Dann könnten auch Nachbarstaaten, wie die Ukraine, sich freier entwickeln. Allerdings liefern Thomas Kunze und Thomas Vogel keine Begründung für ihren politischen Optimismus – zumal das Buch vor den neuen russischen Wahlfälschungs-Protesten geschrieben wurde. Generell würden dem Werk mehr selbst recherchierte Geschichten und mehr eigene Thesen gut tun. Dennoch gelingt es den Autoren insgesamt, die Vielfalt der nationalen, postkommunistischen Entwicklungen aufzuzeigen. Leider fehlt dem Buch, das sich gut als Nachschlagewerk eignen würde, ein Personen- und Stichwort-Register. Hier hat der Verlag offenbar – ganz nach sozialistischer Art – am falschen Ende gespart.
Thomas Kunze und Thomas Vogel
Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken.
C.H. Links Verlag, 200 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-861-53644-4
Ohne Vorankündigung packte einer Alexej mit einem Würgegriff von hinten am Hals. Der andere schlug ihm mehrmals mit voller Kraft in den Magen und ins Gesicht. Alexej ging zu Boden, dort traten sie gnadenlos auf ihn ein. Ob er nicht wüsste, in welchem Revier er sei, stießen sie hervor. Gäste fanden Alexej, aus dem Mund blutend und mit zwei verlorenen Zähnen. In seinem Mund hatte man eine zerschlagene Wodkaflasche gesteckt.
Alexej ist ein Freund der Buchautoren Thomas Kunze und Thomas Vogel. Kunze, ein Ostdeutscher, arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Taschkent. Co-Autor Vogel ist Schweizer Journalist. In ihrem gemeinsamen Report "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit" dokumentieren sie - anhand von Alltagsgeschichten und Polit-Berichten - den schmerzhaften Umbruch in den neu gegründeten 15 Nachfolge-Republiken - von Estland über Russland bis nach Tadschikistan. Die Verfasser haben in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Reisen Richtung Osten unternommen. Nun ziehen sie Bilanz - immer mit dem Finger in der Wunde. So lauten die Schlagworte im Kapitel über die Hauptmacht Russland: Korruption, Tschetschenienkrieg, Scheindemokratie und Stalinismus. Kunze und Vogel belegen, dass viel Sowjet-Zentralismus bis heute überlebt hat. Etwa bei der Putin-Partei "Geeintes Russland".
Der 2010 verstorbene frühere Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin bemerkte dazu: Egal, welche Partei oder gesellschaftliche Organisation wir gründen, es kommt immer so etwas wie die KPdSU dabei heraus.
"Die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, UdSSR, existiert seit heute 18 Uhr auch völkerrechtlich nicht mehr. Hier, im Kreml, wurde die sowjetische Flagge durch die russische ersetzt."
Mit dem endgültigen Aus der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 wollen – anders als Russland - viele neue Nachbar-Republiken die Vergangenheit möglichst schnell abstreifen. Die Balten etwa diskriminieren deshalb immer wieder Mitbürger, die einst zugewandert sind oder von Moskau angesiedelt wurden.
Die Litauer machen in der Mehrheit die Russen für all das verantwortlich, was sowjetisch war, und sie unternehmen teils hilflose Versuche, sich von dieser sowjetischen Vergangenheit zu verabschieden.
Beobachten Kunze und Vogel in ihrem Transformationsbuch.
2010 sollte in der Stadt Ponewiesch, im Nordosten Litauens, Straßenfeger nur deshalb eine Strafe zahlen, weil ihre Schneeschaufeln aus rot gestrichenem Sperrholz mit Hammer und Sichel verziert waren, ein Überbleibsel aus Sowjetzeiten. Die kommunalen Angestellten hatten die Schippen im Lager des Rathauses gefunden. Sie wurden wegen "Öffentlichem Zeigen von nazistischer und sowjetischer Symbolik" angeklagt, was in Litauen seit 2008 strafbar ist.
Die Verfasser weisen auf weitere baltische Problempunkte hin – etwa auf pro-faschistische Gruppen in Lettland oder auf ein CIA-Gefängnis in Litauen. Das Autorenduo verschweigt aber auch nicht die andere – ermutigende - Seite des postsowjetischen Baltikums: Demokratie und Wirtschaftsaufschwung, wie in Estland.
Nichts machte Estland so berühmt, wie seine elektronische Revolution. Das Land wirbt mit dem Logo "e-Estonia" für sich. Der weltweite Siegeszug des Internettelefondienstes Skype begann in Tallinn. Zwei estnische Tüftler erfanden das Programm. Der estnische Staat garantiert heute den kostenlosen Zugang zum Internet. Das gefällt den Investoren. Immer mehr nähert sich Estland an die skandinavischen Länder an. Das ist politisch so gewollt.
Das Buch "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken" schildert auch viel Skurriles - etwa in Kasachstan. Der autoritäre Staat war 2006 gegen den US-amerikanischen Erfolgs-Film "Borat" vorgegangen – gegen einen Satirestreifen, der das Steppenland aufs Korn nimmt. Die Regierung in Astana protestierte derart überzogen, dass es schließlich "handfeste Verwerfungen" zwischen Kasachstan und den USA gegeben habe, berichten die Autoren. Die beiden Experten schreiben - durchgängig - ohne Polemik. Dennoch hat ihr Werk eine stilistische Schwäche: Es wirkt nicht immer wie aus einem Guss. Denn Kunze und Vogel texten zum einen im lebendigen Reportage-Stil, zum anderen im trockenen Sachbuch-Stil. Dabei sind die Übergänge zwischen den Erzählformen nicht überall gelungen. Somit heben sich die Schreibweisen mitunter zu stark voneinander ab. Trotz dieses Mankos bieten Kunze und Vogel einen anschaulichen - und differenzierten - Überblick über die postsowjetischen Prozesse. Einen Überblick, der keine politische Rücksicht nimmt - auch nicht auf den georgischen Staatspräsidenten Micheil Saakaschwili:
Im Westen, wo man Saakaschwili lange Zeit den Demokraten und Helden der "Farbigen Revolutionen" im postsowjetischen Raum sah, verblasst dessen Bild. Saakaschwili regiert Georgien immer selbstherrlicher und lässt in Tiflis Demonstranten, die seinen Rücktritt fordern, genauso verprügeln wie sein Kollege in Weißrussland.
Der Report über die Ex-UdSSR skizziert die Region als extrem spannungsreich. Dennoch sind die Autoren voller Hoffnung: Gerade das mächtige Russland werde sich dem westlichen Europa annähern, glauben sie. Dann könnten auch Nachbarstaaten, wie die Ukraine, sich freier entwickeln. Allerdings liefern Thomas Kunze und Thomas Vogel keine Begründung für ihren politischen Optimismus – zumal das Buch vor den neuen russischen Wahlfälschungs-Protesten geschrieben wurde. Generell würden dem Werk mehr selbst recherchierte Geschichten und mehr eigene Thesen gut tun. Dennoch gelingt es den Autoren insgesamt, die Vielfalt der nationalen, postkommunistischen Entwicklungen aufzuzeigen. Leider fehlt dem Buch, das sich gut als Nachschlagewerk eignen würde, ein Personen- und Stichwort-Register. Hier hat der Verlag offenbar – ganz nach sozialistischer Art – am falschen Ende gespart.
Thomas Kunze und Thomas Vogel
Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken.
C.H. Links Verlag, 200 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-861-53644-4