Johanna Berling steht in der Küche ihrer 2-Zimmerwohnung und räumt die Reste vom Frühstück in die Spülmaschine. Sie ist gerade 20 geworden. Noch bis vor gut einem Jahr war Johanna Caspar:
"Ich war magersüchtig und lag deswegen im Krankenhaus. Als ich wieder gesund war, fühlte ich mich aber immer noch total unwohl in meinem Körper. Da dachte ich: Irgendetwas ist richtig falsch mit meinem Körper: Vielleicht bin ich trans."
Die Akzeptanz für Trans*Menschen nimmt zu. Für viele Jugendliche ist das eine Chance. Doch die Zahlen entwickeln sich so rasant, dass Jugendpsychiatern Zweifel kommen, ob sie es wirklich nur mit einer Befreiungsbewegung zu tun haben. Der Weg zurück ist schnell verbaut.
"Trans-Sein" als "einfache Lösung"?
"Ich hatte gehofft, dass das ‚Trans-Sein‘ auch für mich die ‚einfache Lösung‘ sein würde."
Johanna lebt ein wenig außerhalb von Stockholms Innenstadt. Im spärlich eingerichteten Wohnzimmer zieht sie ein Fotoalbum aus dem Bücherregal:
"Meine Mutter hat jeden Monat ein Foto von mir gemacht. Hier – da bin ich 15."
Das Bild zeigt ein hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren. Auf dem nächsten Foto trägt Johanna die Haare kurz. Unter ihren Augen liegen dunkle Schatten.
"Hier – da ging es mir sehr schlecht. Ich war 15, als es losging."
Johanna wird magersüchtig und muss im Krankenhaus behandelt werden. Sie wird wieder gesund. Und erlebt einen Rückfall. Mit 17 fängt sie an, sich männlich zu kleiden. Sie färbt die raspelkurzen Haare blau und nennt sich Caspar.
"Ich kam damals mit Transpersonen und der Transbewegung in Kontakt. Und ich war so glücklich zu sehen, dass alle, die die Transformation hinter sich hatten, so zufrieden waren."
"Drastischer Anstieg der Patientenzahlen"
Johanna Berling gehört zu einer wachsenden Zahl von Jugendlichen, die ihr Geschlecht wechseln wollen. Die Behandlungsmethoden haben sich verbessert. Und immer mehr Menschen machen davon Gebrauch, sagt Alexander Korte, leitender Oberarzt an der Münchner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie:
"Was wir seit Jahren beobachten, ist einen drastischen Anstieg der Patientenzahlen. Und zwar vor allem der weiblichen Jugendlichen so in der frühen und mittleren Adoleszenz."
2019 kamen fünfmal mehr Jugendliche in Kortes Spezialsprechstunde als noch 2013. Seine Fachkollegen beobachten Ähnliches.
"Wenn man sich die Statistiken anguckt über eigentlich alle Lebensaltersstufen hinweg und auch über verschiedene Länder oder Kulturkreise, gab es eben immer mehr Mann-zu-Frau-transsexuelle Menschen. Und zwar im Verhältnis von mindestens zwei, wenn nicht sogar drei bis vier zu eins. Also drei bis vier Mal so viele biologisch männliche Personen, die gegengeschlechtlich identifiziert waren, als biologisch weibliche Personen."
Geschlechterverhältnis hat sich umgedreht
Das Geschlechterverhältnis hat sich innerhalb weniger Jahre stark verschoben. Nicht nur in Deutschland. Korte:
"Was wir im Moment beobachten, im jugendlichen Bereich - und das wird auch nicht bestritten, auch von meinen Kollegen nicht in anderen Behandlungszentren in Deutschland und auch international nicht: Im Moment haben wir ein Verhältnis von fünf bis acht zu eins. Aber wohlbemerkt fünf bis acht Mädchen auf einen biologischen Jungen. Und das ist eine Entwicklung innerhalb der letzten fünf bis zehn Jahre. Also in einer Dekade hat sich das so verändert, ohne dass wir das bislang schon hinlänglich erklären konnten."
In Schweden ist die Zahl junger Frauen, die ihr Geschlecht wechseln wollen, in den vergangenen 10 Jahren sogar um ganze 1500 Prozent gestiegen. Dort haben Mediziner bereits Alarm geschlagen. Und auch Alexander Korte sieht einen besorgniserregenden Trend:
"Wir wissen lange, dass die Pubertät für Mädchen eine größere Herausforderung darstellt als für Jungs. Und dass sich sehr viel mehr Mädchen mit oder zu Beginn der Pubertät deutlich unwohler fühlen mit ihrem Körper und in ihrem Körper. Was dann noch hinzukommt ist, dass Mädchen oder weibliche Jugendliche auch mehr sich auseinandersetzen müssen mit dem gängigen Schönheits- und Schlankheitsideal unserer Gesellschaft. Und ich glaube, dass mit diesem Krankheitsbild oder dieser präformierten Schablone: "Ich bin Trans" da etwas im Angebot ist, wo Mädchen ungleich häufiger Gebrauch davon machen."
Johanna wird zu Caspar
"Es gibt ziemlich viele Bilder von mir. Hier – da habe ich angefangen, mich männlich zu kleiden."
Johanna trägt auf den Fotos weite Kleidung und Turnschuhe. Vor ihren Freunden und in der Schule outet sie sich als Mann.
"Ich hoffte: Okay, wenn ich diese geschlechtsangleichenden Operationen mache und Testosteron nehme, werde ich automatisch glücklich werden. Es war wunderbar, zu dieser Einsicht zu kommen und zu denken: Jetzt wird alles besser."
So schnell wie möglich will Johanna ihren Körper verändern. Sie lässt sich von ihrem Arzt zur Spezialambulanz für Trans*Jugendliche am Stockholmer Karolinska-Institut überweisen.
"Gleich nachdem ich mich als Mann geoutet hatte, habe ich gesagt: Ich muss jetzt sofort mit Testosteron anfangen. Ich muss das einfach tun. Natürlich, denn ich dachte ja, endlich die Lösung für meine ganzen Probleme gefunden zu haben. Und wenn man diese Lösung so klar präsentiert bekommt: Warum sollte man die Chance nicht ergreifen. Und ich denke, das ist auch für andere Menschen eine große Gefahr. Vor allem, wenn man im Teenager-Alter ist."
Operation und Hormontherapie haben weitreichende Folgen
Anders als beim Experimentieren mit Kleidungsstilen oder der sexuellen Orientierung sind die Folgen eines Geschlechterwechsels weitreichend.
Viele Trans*Jugendliche machen eine gegengeschlechtliche Hormontherapie. Einige Transmänner lassen sich die Brust, Eierstöcke und Gebärmutter entfernen, einige Transfrauen den Penis und die Hoden. Seit vielen Jahren setzen sich Transgenderorganisationen dafür ein, solche Behandlungen leichter zugänglich zu machen. Doch es melden sich auch Betroffene, die in ihr ursprüngliches Geschlecht zurückkehren wollen. "Detransitioners" werden sie im englischen Sprachraum genannt. Auch Aleksa Lundberg denkt rückblickend anders über ihre Entscheidung, die sie vor 18 Jahren getroffen hat:
"Ich würde die geschlechtsangleichenden Operationen und die Hormonbehandlung wahrscheinlich heute nicht mehr machen."
Geschlechter-Rollendruck beim Schuleintritt
Aleksa ist Schauspielerin und lebt in Stockholm. Heute ist sie 38 Jahre alt. Schon im Kindergarten träumte sie davon, eine kleine Prinzessin zu sein.
"Ich wusste, dass ich einen Penis zwischen meinen Beinen hatte und hatte kein Problem damit. Aber ich mochte es nicht, dass ich in die Geschlechterrolle eines Jungen hineingedrängt wurde."
Problematisch wurde es erst, als Aleksa, die damals noch Mathias hieß, in die Schule kam:
"Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass meine Mutter damals zu mir sagte: ‚So Mathias, jetzt wirst du ein großer Junge und es wird Zeit, deine Theaterkleider in die Kiste zu legen‘ Für meine Mutter war es Theater spielen, was ich gemacht habe. Ich sollte mir die Haare abschneiden, Sportklamotten anziehen und mich wie ein echter Junge benehmen. Aber ich wollte einfach lieber bunte Glitzerbildchen mit anderen Mädchen tauschen, ich liebte ‚My little Pony‘ und ich sammelte Radiergummis, die nach Früchten rochen. Ich war einfach eine richtige Sissy."
Was sind die Motive, den eigenen Körper verändern zu wollen?
Mit 16 outet sich Aleksa als homosexuell. Sie findet neue Freunde in der Schwulenszene, experimentiert mit Kleidern, trägt hochhackige Schuhe und schminkt sich.
"1999, da war ich 17, traf ich dann eine Gruppe sehr hübscher Frauen auf einem Pride Festival in Stockholm. Der Busen in Push-BHs, hohe Absätze, sozusagen Norm-Frauen. Sie waren transsexuell und hatten eine gegengeschlechtliche Behandlung gemacht. Und das war umwerfend für mich. Plötzlich habe ich verstanden, dass es Möglichkeiten gibt. Es gibt gegengeschlechtliche Behandlungen und es gab ein Wort dafür; und das hieß transsexuell."
Aleksa nimmt Hormone, lässt sich mit 20 den Penis entfernen und setzt sich für die Rechte von Trans*Menschen ein. Doch ihre Geschichte hat auch eine Kehrseite.
"Für mich war es ein sehr langer Prozess, zu dieser Einsicht zu kommen. Ich habe angefangen, mich zu fragen, warum ich nicht einfach nur als schwuler Mann hätte leben können. Warum hatte ich damals das Bedürfnis, meinen Körper zu verändern? Was ist es eigentlich genau, was einen Mann und eine Frau ausmacht und warum haben manche Menschen das Gefühl, im falschen Körper zu leben? Was bleibt davon übrig, wenn man es von den Anforderungen an die Geschlechterrollen entkoppelt? Ich selbst bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ein femininer, homosexueller Mann bin, der damals das Gefühl hatte, seinen Körper verändern zu müssen, um akzeptiert zu werden."
"Detransitioners" sprechen über ihre Zweifel
Aleksa ist nicht die einzige, die öffentlich über ihre Zweifel spricht. Vor allem in englischsprachigen Medien erzählen Trans*Menschen ihre Geschichten. Sie haben sich auf Webseiten versammelt, Gruppen auf Facebook gegründet und eigene Youtube-Kanäle. Ihre Berichte handeln von Rollenerwartungen, vorschnellen Entscheidungen und sozialem Druck:
"Hi! Ich bin Laura, vormals Fritz, davor Laura." "Hallo Leute, ich möchte hier über die Gründe für meine ‘Detransition’ sprechen." "Ich weiß nur dass ich mir gewünscht hätte, dass mein Therapeut mir gesagt hätte: ‚Du kannst transgender sein, du kannst dich so identifizieren, aber lass uns doch erstmal versuchen, an einen Punkt zu kommen, wo du deinen Körper nicht hasst.‘"
In Berlin bei der Beratungsstelle für Trans*Menschen "Queer leben" kennt Mari Günter diese Berichte. Von einer Bewegung mag sie allerdings nicht sprechen:
"Das sind insgesamt sehr wenige Menschen, also nach dem, was wir wahrnehmen können. Aber denen wird eine unglaublich große Aufmerksamkeit in der Forschung, im Wissenschaftsdiskurs geschenkt. Einerseits, und da muss man schon sagen werden sie instrumentalisiert, um weiterhin ein Gatekeeping zu begründen und zu rechtfertigen. Also es wird tatsächlich gesagt, das ist so eine Argumentation von eher Traditionalisten, die sagen: Nur weil wir jahrzehntelang die Transitionsprozesse so massiv geprüft haben und überwacht haben und so vielen Leuten die Möglichkeit verwehrt haben, deswegen gibt es so wenige, die sich irren. Das ist natürlich eine perfide Konstruktion, die erst mal nur von Machtgeilheit spricht und von eigener Ängstlichkeit, die dahintersteckt."
Körperliche Veränderungen weitgehend irreversibel
Andererseits tragen Eltern und Mediziner, die die Betroffenen durch den Prozess begleiten, eine große Verantwortung.
Eine Diagnose kann nie mit 100prozentiger Sicherheit gestellt werden. Und die körperlichen Veränderungen, die nach einer gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung eintreten, können zum großen Teil nicht wieder rückgängig gemacht werden. Eine tiefe Stimme wird für immer bleiben, in vielen Fällen führt die Hormonbehandlung zur Unfruchtbarkeit. Womöglich übersehen gerade Jugendliche, wie hoch der Preis für eine Geschlechtsumwandlung ist. Aleksa:
"Es ist unmöglich, die Behandlung ungeschehen zu machen. Auf jeden Fall nicht, wenn man so wie ich eine geschlechtsangleichende Operation macht, von Mann zu Frau. Du kannst deinen ursprünglichen Penis nicht zurückbekommen."
Die Operationsmethoden haben sich verbessert, die kosmetischen Ergebnisse sind für viele Trans*Menschen zufriedenstellend. Das zeigen Studien, in denen Personen zu ihren Erfahrungen befragt wurden. Doch vor allem Transfrauen berichten, dass sich ihr Sexualleben verändert hat. Aleksa:
"Das ist auch ein Aspekt: Man verliert mit der Operation einen Teil des sexuellen Empfindens und des Gefühls beim Orgasmus. Zumindest zu einem gewissen Prozentsatz. Und das wird niemals zurückkommen. Wenn es etwas gibt, worunter ich leide, dann ist es das: Dass ich niemals wissen werde, wie es sich früher angefühlt hat und dass ich es nicht mehr auf dieselbe Weise fühlen kann. Und zu sagen, dass man das wieder rückgängig machen kann, ist absurd. Das stimmt nicht."
Wie zuverlässig sind Studien zur Lebensqualität?
Die Datenlage zur "Quality of life", also zur Lebensqualität von Trans*Menschen nach einer gegengeschlechtlichen Behandlung ist dünn. Doch es gibt ein paar Studien, in denen Transmänner und Frauen zu ihren Erfahrungen befragt wurden. Florian Schneider vom "Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie" der Universität Münster kennt die Untersuchungen:
"Wir sehen in den Daten aus Belgien und Holland, dass die Patienten auch eine Erhöhung der ‚Quality of life‘-Scores haben, dass sie sich gut fühlen, dass die gegengeschlechtliche Hormontherapie gut läuft, dass die geschlechtsangleichende Operation gut läuft, wenn die Vor- und Nachbetreuung gut läuft. Da ist die Datenlage ganz klar."
Solche "Quality of life"-Studien zur Lebensqualität werden meist anhand von Fragebögen erstellt, die an Trans*Personen verschickt werden. Doch diejenigen, die den Wunsch nach einer Detransition haben oder unzufrieden sind, werden kaum erfasst, entgegnet der Münchner Jugendpsychiater Alexander Korte:
"Also da gibt es zunächst mal einen ganz wichtigen Punkt zu beachten. Wir haben es hier höchstwahrscheinlich auch mit einem klassischen Publikations-Bias zu tun. Will sagen: Es werden weit überwiegend positive Behandlungs- und Langzeitverläufe publiziert. Weder die Ärzte noch die allermeisten Patientinnen und Patienten haben ein Interesse an der Veröffentlichung, wenn etwas nicht so gut endet."
Langzeitfolgen der Hormonbehandlung unklar
Aleksa: "Also mir geht es gut und ich hoffe, dass ich ein langes Leben haben werden. Aber natürlich habe ich irgendwo im Hinterkopf die Gedanken: Um wie viele Jahre wird mein Leben durch die Hormone verkürzt? Werde ich Brustkrebs bekommen? Und so weiter. Natürlich bin ich da ein bisschen beunruhigt. Noch bin ich ja recht jung, nur 38, also muss ich mir noch keine großen Sorgen machen. Aber umso älter ich werde, desto größer wird das Risiko. Im Hinterkopf schwingen diese Gedanken mit."
In den Beratungsgesprächen werden Jugendliche über die Risiken und mögliche Nebenwirkungen einer gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung aufgeklärt. Doch für viele Präparate, die heutzutage eingesetzt werden, gibt es kaum Daten über die Langzeitwirkung, sagt Mari Günter von der Beratungsstelle "Queer leben" in Berlin.
"Das ist in diesen Aufklärungsgesprächen tatsächlich ein Dilemma, auf das ich auch immer hinweise, dass ich sage: Es gibt noch ganz wenig Forschung, die für die Zukunft eine Prognose geben kann: Also wie geht es dir mit einer Hormontherapie in 20, 30, 40 Jahren? Und es gibt in den Leitlinien verschiedene Äußerungen und Aussagen zu Krebsrisiko und so weiter, aber da muss man sich eben immer einerseits deutlich machen, dass dieser Forschungsbestand etwas älter ist, dass er auf einem Medizinsystem beruht, was nicht dem deutschen entspricht. Und älter heißt vor allem auch, dass andere Wirkstoffe verwendet worden sind. Zum Beispiel ist heutzutage die aktuelle Medikation, ist in ihrer Wirksamkeit und ihren Risiken, ist in diesem 20, 30 Jahren Jahresverlauf noch gar nicht erforschbar, weil es die noch gar nicht so lange gibt."
Diskussion um Mindestalter für Operationen
Bekannt ist, dass weibliche Östrogene bei Transfrauen die Gefahr von Lungenembolien erhöhen und zu Bluthochdruck führen. Auch das Krebsrisiko stieg - zumindest mit den älteren Medikamenten. Reproduktionsmediziner Florian Schneider:
"Man muss sagen, dass es immer ein großes Abwägen ist mit den Hormonen. Die Datenlage ist derzeit noch relativ undurchsichtig beziehungsweise nicht ganz klar. Man kann generell sagen, dass die Hormonbehandlung sicher ist, wenn sie bei einem Endokrinologen durchgeführt wird. Und die Patienten, die die Hormone nehmen, auch ehrlich über Co-Medikation sind und Vorerkrankungen und gegebenenfalls noch andere Medikamente, die eingenommen werden. Dann ist sie relativ sicher."
In Schweden haben Politiker darüber diskutiert, ob das Mindestalter für geschlechtsangleichende Operationen auf 15 herabgesetzt werden soll. Der Gesetzesvorschlag sah vor, solche Eingriffe in Ausnahmefällen auch ohne Einwilligung der Eltern zu ermöglichen. Doch können Jugendliche im Alter von 15 Jahren die Folgen ihres Handelns in allen Konsequenzen absehen? Zum Beispiel, dass sie sehr wahrscheinlich keine eigenen Kinder mehr bekommen können? Aleksa:
"Ich weiß, dass es viele Leute ärgern wird, aber ich glaube nicht, dass ein 15-Jähriger und noch nicht mal eine 18-Jährige mit Sicherheit wissen kann, ob eine gegengeschlechtliche Behandlung die richtige Entscheidung für das ganze Leben ist. Deshalb fände ich es nachvollziehbar, wenn die Entscheidung – auf alle Fälle für eine Unterleibsoperation - erst gefällt wird, wenn das Gehirn in einem Alter zwischen 22 und 25 voll ausgereift ist. Ich sage nicht, dass es so sein muss, aber ich finde, wir sollten eine Diskussion darüber führen, um keinen Schaden anzurichten."
Umstrittener Zeitgewinn durch "Pubertätsblocker"
Doch an diesem Punkt steckt die Medizin in einem Dilemma: In der Pubertät geschehen körperliche Veränderungen, die nicht mehr umkehrbar sind. Das setzt viele Jugendliche sehr unter Druck, sagt Mari Günter:
"Also das ist für Jugendliche wirklich eine massive Herausforderung und ich glaube, manche wären froh, wenn sie sagen können, also wenn ich das in zehn Jahren klären müsste, wäre das auch schön. Aber sie merken eben, dass ihre Körperlichkeit sie massiv unter Druck setzt, dass sie sagen: Ich muss da jetzt eine Lösung finden, die zumindest erst mal für die nächsten Jahre, vielleicht Jahrzehnte eine gute Idee ist."
Es gibt die Möglichkeit, die körperlichen Veränderungen mit so genannten Pubertätsblockern aufzuhalten. Diese Hormone verhindern, dass sich die Geschlechtsmerkmale ausprägen. Sie werden bei Jugendlichen eingesetzt, um Zeit zu gewinnen. Doch Alexander Korte hält das für bedenklich:
"Ich habe mich da eindeutig positioniert und stehe dem Einsatz von pubertätsblockierenden Medikamenten sehr kritisch gegenüber. Und zwar deshalb, weil die bisherigen Studien übereinstimmend zeigen: Fast alle Kinder, die Pubertätsblocker nehmen, entscheiden sich in einem zweiten Schritt dann auch für die Einnahme gegengeschlechtlicher Hormone, also Testosteron oder Östrogenpräparate. Das weist also darauf hin, dass zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Weichenstellung erfolgt, obwohl die Diagnose noch nicht gesichert ist. Weil die psycho-sexuelle Entwicklung des betreffenden Kindes noch gar nicht abgeschlossen ist. Und von Zeit gewinnen kann hier überhaupt keine Rede sein. Eine Pubertäts-blockierende Behandlung, die von den Befürwortern als medizinisch unbedenklich dargestellt wird, forciert nach dem, was wir wissen, möglicherweise - oder ich würde sagen wahrscheinlich - eine transsexuelle Entwicklung und verstellt zugleich andere, alternative Entwicklungswege. Zum Beispiel ein homosexuelles Coming out."
Verhältnis zwischen Ärzten und trans*Community belastet
Viele Jahre haben Transgender-Organisationen für Anerkennung gekämpft. Noch bis 2011 galt in Deutschland ein Sterilisationszwang für Trans*Menschen, die ihren Personenstand ändern wollten. In Schweden sogar bis 2013. Nicht wenige Transmenschen empfinden es als Bevormundung, dass Ärzte darüber entscheiden, ob sie eine Behandlung machen dürfen oder nicht. Dadurch ist das Verhältnis zwischen behandelnden Ärzten und der Trans*Community nachhaltig belastet, sagt Mari Günter von "Queer leben":
"Da werden ja immer noch solche Narrative etabliert, dass man sagt, es wäre jetzt die eine oder unumstößliche Entscheidung, man müsse das sehr genau überprüfen, weil das ginge nur einmal im Leben und dann muss es auch sehr überzeugend sein, also es wird auch so ein Ganz-oder-gar-nicht-Konstrukt an die Jugendlichen herangetragen, und ich finde es sehr erfreulich, dass sie das mittlerweile durchschauen und sagen: Diese Geschlechterdichotomie hat mit meinem Leben und meiner jetzigen Lebenssituation einfach nicht viel zu tun. Das ist schön."
Transsexualitäts-Diagnose "vielfach viel zu schnell"?
Manche Hürde auf dem Weg zu einer geschlechtsangleichenden Behandlung ist gefallen. Die Stimme der Trans-Organisationen wird in vielen Ländern gehört. Die Kehrseite ist: Mediziner sehen sich manchmal auch dann mit dem Vorwurf konfrontiert, transphob zu sein, wenn sie aus guten Gründen eine Therapie verweigern. Derweil bekommen die Spezialambulanzen immer mehr Zulauf, den sie kaum noch bewältigen können. Alexander Korte sieht diese Entwicklung kritischer als viele seiner Fachkollegen:
"Ich hab schon den Eindruck, dass heutzutage diese Festlegung, es handele sich um eine Transsexualität, dass die im Vergleich zu früher rascher erfolgt. Und dass das gar nicht mehr hinterfragt wird. Nicht jeder Jugendliche oder jede Jugendliche, die sich als Transgender selbst kategorisiert, ist zwangsläufig transsexuell. Ich glaube das ist einfach heutzutage vielfach viel zu schnell geht, dass man sie dann einseitig berät, und geschlechtsangleichende Maßnahmen einleitet zu einem Zeitpunkt, wo man die eigentlich noch mal weiter aufschieben sollte."
Johanna Berling muss ein Jahr lang auf ihren Termin bei der Stockholmer Spezialambulanz für Trans*Jugendliche warten. In dieser Zeit spricht sie regelmäßig mit einem Psychologen. Ihre Eltern übernehmen die Kosten dafür.
"Wir haben viel darüber geredet, was bei mir sozusagen die Henne oder das Ei ist. Hat die Magersucht dazu geführt, dass ich dachte, trans* zu sein. Oder hat das Gefühl, im falschen Körper zu leben, dazu geführt, dass ich krank wurde? Mein Psychologe hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, dass es nicht automatisch bedeutet, trans* zu sein, wenn man sich maskulin kleidet und seinen Körper ablehnt."
Auch Rückkehr zum vorigen Geschlecht erfordert Mut
In Johanna wachsen die Zweifel. Und sie hofft, die Antwort auf ihre Fragen in den Beratungsgesprächen mit Medizinern zu finden:
"Beim ersten Treffen mit den Ärzten wurde ich gefragt, welche Art von Behandlung ich machen möchte, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist. Ich war total baff, denn ich dachte, ich werde dort beraten. Ich wollte eine fachliche Beurteilung, ob ich wirklich trans bin oder nicht. Und dann saßen sie mir gegenüber und hatten sich schon entschieden."
Johanna bricht die medizinische Untersuchung ab. Sie kommt zu der Einsicht, dass eine Geschlechtsumwandlung nicht der richtige Weg ist. Sie hat ein weiteres "Coming out". Diesmal als Frau. Eine Zeitlang hadert sie mit sich und ihrer Entscheidung. Sie hat Angst, von ihren Freunden nicht ernst genommen zu werden.
"Das war auch schwierig für mich: Ich hatte das Gefühl, mich respektlos gegenüber allen Trans*Menschen zu verhalten, die so hart für ihre Rechte gekämpft haben. Ich weiß, dass ich mit meiner Geschichte Wasser auf die Mühlen der Menschen gieße, die transphob sind. Mir haben solche Leute geschrieben und gemeint: ‚Es gibt keine Trans*Menschen und du bist ein Beweis dafür, dass das stimmt.‘ Nein! Das ist absolut nicht das, wofür ich stehen will. Nur weil ich zu der Einsicht gekommen bin, dass ich nicht trans* bin, heißt das nicht, dass das bei allen Trans*Menschen so ist."
Im Rückblick hat Johanna nicht das Gefühl, sich "verirrt" zu haben. Doch sie ist erleichtert, rechtzeitig umgekehrt zu sein:
"Absolut! Da bin ich wirklich glücklich drüber. Ich wäre wohl jetzt am Boden zerstört, wenn ich diese ganzen Behandlungen gemacht hätte."
Bei sich selbst ankommen ist das Ziel
Gleichzeitig bereut Johanna nicht, ihre "Transreise" wie sie es nennt, unternommen zu haben. Am Ende hat sie das Gefühl, bei sich selbst angekommen zu sein:
"Mir geht es jetzt sehr gut. Ich fühle mich mit mir selbst so sicher wie nie zuvor. Weil ich keine Zwänge wahrnehme. Ich habe das Gefühl, in meiner Zeit als Caspar sehr als Person gewachsen zu sein. Und ich möchte mit meiner Geschichte alle Jugendlichen erreichen, die in derselben Situation sind wie ich: Versuche, alle Möglichkeiten auszuloten und setz dich dabei auch unbequemen Situationen aus. Leg dich nicht auf eine Alternative fest, wenn du erkennst, dass du falsch liegst. Dafür musst du dich nicht schämen, sondern es ist dein Weg. Egal, ob du am Ende als Trans*Person endest oder in deinem ursprünglichen Geschlecht. Das wichtigste ist, dass du dich dabei selbst respektierst."
Auch Aleksa empfindet keine Reue über die Entscheidungen, die sie in jungen Jahren getroffen hat. Dass sie ihre Zweifel nun öffentlich macht, hat vor allem einen Grund: Sie möchte das vielleicht manchmal etwas verklärte Bild vervollständigen, das Jugendliche vom Leben als Trans*Person haben:
"Absolut sollen die Jugendlichen eine trans*-Beratung machen und herausfinden, was für sie richtig ist. Doch sie müssen wissen, dass Hormonbehandlungen und Operationen irreversibel sind und nicht ungeschehen gemacht werden können. Ich würde ihnen raten: Hör dir meine Geschichte an und überlege noch ein, zwei, dreimal extra. Am Ende muss die Behandlung genau für dich richtig sein. Und sieh die Hormonbehandlung und definitiv eine Operation am Unterleib als letzten Ausweg aus deiner Situation. Denn es ist absolut nicht sicher, dass du auch für den Rest deines Lebens so fühlen wirst, wie gerade jetzt."