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Trauer, Traurigkeit und Melancholie

Trauerrituale sind immer in Bewegung. Das hat der Wissenschaftler Rüdiger Zill bei einer Tagung des Potsdamer Einstein Forums feststellen können. Keineswegs lebten wir heute in einer Gesellschaft, die das Trauern verlernt hätte.

Rüdiger Zill im Gespräch mit Katja Lückert |
    Katja Lückert: Das Potsdamer Einstein Forum setzt seine Tagungsreihe, die sich mit der interdisziplinären und auch interkulturellen Erforschung von Emotionen beschäftigt, fort. Diesmal geht es um Traurigkeit und Trauer, um Niedergeschlagenheit, Melancholie, Verzweiflung und Depression – Gefühle, die uns immer wieder kalt erwischen, auch wenn wir sicher heute mehr über sie wissen als in den vergangenen Jahrhunderten. Es gibt inzwischen eine ganze Abteilung des psychologischen Beratungswesens, die sich mit Lebens- und Sterbe- und Trauerbegleitung beschäftigt. Dort gibt es Trauerseminare, Informationen über typische Trauerphasen oder sogar Online-Trauerrituale. An den Tagungsleiter Rüdiger Zill die Frage nach einer Entwicklung im Umgang mit der Trauer!

    Rüdiger Zill: Für mich war besonders interessant, dass unsere Vorstellung, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die das Trauern verlernt hätte im Gegensatz zu früheren Gesellschaften, wo es Rituale gab, wo man eine bestimmte Form gemeinsamen Trauerns hatte, wir sozusagen in einer Zeit des Niedergangs sind. Stattdessen habe ich lernen können, dass Trauerrituale immer in Bewegung waren und dass unsere Zeit vielleicht gar nicht so außergewöhnlich ist, wie sie erscheint, und dass wir vielleicht sagen können, ja, also auch die öffentlichen Debatten, die wir zurzeit haben – etwa angesichts der Trauerfeier für Robert Enke oder bei dem Massaker in Winnenden –, dass sich auch in die andere Richtung wieder etwas verändert, dass wir also auch wieder sensibler werden, für unseren Verlust trauern zu können.

    Katja Lückert: Trauer ist ein Gefühl, das vielleicht noch stärker als andere mit dem Faktor Zeit verbunden ist. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt der Volksmund. Auf welche Weise wurde das diskutiert in der Tagung?

    Rüdiger Zill: Ja, es gibt verschiedene Psychologen, die auch ausgefeilte Theorien darüber haben, sogenannte Stufentheorien, welche Phasen man durchläuft bei der Trauer, also erst die Verneinung des Trauerfalls oder dass der Tod eingetreten ist, dann verschiedene Emotionen wie Zorn und Schuldgefühle und so weiter, die mobilisiert werden, bis hin dann zu einer Akzeptanz. Nun ist es aber so, dass das nicht automatisch abläuft. Es kann durchaus so sein, dass man in einer dieser Phasen stecken bleibt, und das kann sich dann zu einer handfesten Depression ausweiten, wo dann auch medizinische, fachliche Unterstützung, Hilfe nötig ist.

    Katja Lückert: Die Ausdrucksformen der Trauer sind trotz Globalisierung immer noch sehr unterschiedlich, in Indien ist die Farbe der Trauer weiß, in China etwa wird lautes Wehklagen und Weinen erwartet, wenn man eine Todesnachricht erhält, zurzeit trauert Haiti über Hunderttausende von Toten. Die amerikanische Historikerin Carol Lansing beschäftigte sich mit den Formen des Trauerns im mittelalterlichen Italien – Formen, die offenbar gesetzlich verboten wurden.

    Rüdiger Zill: Ja, das ist ein hochinteressanter Fall. Carol Lansing hat über Orvieto im 13. Jahrhundert berichtet. Sie hat dort Gerichtsakten aus der Zeit eingesehen, und das Interessante ist, dass es dort große Traueraufläufe gab, wo also 40 oder mehr Männer, und zwar interessanterweise gerade Männer, auf der Straße öffentlich trauerten, indem sie sich die Haare rauften, auf die Brust schlugen und besondere Geräusche von sich gaben. Und das wurde dann verboten. Das Interessante ist, dass sich in diesen Gerichtsakten vor allen Dingen Männer finden als Fälle, und das hängt damit zusammen, dass in dieser Zeit so ein Umschwung, eine Veränderung der Trauerrituale stattfand und dass man besonders für Männer das nicht angemessen fand. Also Trauern wurde in dieser Zeit kodifiziert als etwas typisch Weibliches und wurde den Männern verboten, und gerade in der Öffentlichkeit – das wurde dann auch hart bestraft unter Umständen, es gab sogar Wächter, die heimlich zu Beerdigungen gingen, um das zu überwachen.

    Katja Lückert: Sie hatten auch eine praktizierende Trauerrednerin zu Gast. Was konnte sie zum Thema beitragen?

    Rüdiger Zill: Sie hat natürlich eine besonders interessante Situation heutzutage, weil sie dort aktiv werden muss, wo früher Pfarrer, Priester tätig waren, das heißt Leute, die in der Regel den Verstorbenen ganz gut kannten, die auch etwas zu bieten hatten, wenn ich das mal so lax sagen darf, um die Trauernden zu trösten: Sie konnten auf das jenseitige Leben verweisen. Wenn man heute meinetwegen in einer atheistischen Familie etwas über den Toten sagen muss, kennt man ihn vielleicht nicht so gut, man muss also recherchieren, man muss sich darauf verlassen, was die Angehörigen sagen, und man hat es schwerer, etwas Tröstendes zu sagen. Nun ist die interessante Situation die, über die sie berichtet hat, dass offensichtlich sie sich auch als so eine Art Vertreterin für den Toten versteht. Das würde man auf den ersten Blick gar nicht erwarten, aber man merkt, gerade wenn man mit Angehörigen redet, dass offensichtlich häufig doch sehr viel Ressentiments oder doch alte Geschichten hochkommen, und dass der gute alte Grundsatz, dass man über Tote nichts Schlechtes sagen soll, gar nicht unbedingt immer präsent ist in diesen Situationen, und dass sie dann sagt, dann fühlt sie sich aufgerufen, in diesen Situationen die Stimmung so zu evozieren, dass der Tote verteidigt wird in seinem eigenen Recht, in seiner eigenen Persönlichkeit.

    Katja Lückert: Rüdiger Zill vom Potsdamer Einstein Forum leitete die Tagung über Trauer und Melancholie.