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Trauerakt für Kohl
"Der europäischen Idee einen neuen Schub versetzen"

Der Trauerakt für Altkanzler Helmut Kohl in Straßburg sei eine gute Idee, sagte die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger im Dlf. Man hoffe, in der an Ritualen armen EU eine neue Erinnerungskultur zu begründen. Es sei aber die Frage, "ob Kohl sich dafür wirklich so eignet".

Barbara Stollberg-Rilinger im Gespräch mit Michael Köhler |
    Der Sarg mit dem verstorbenen Altbundeskanzler Helmut Kohl ist am 01.07.2017 beim europäischen Trauerakt im EU-Parlament in Straßburg aufgebahrt. dahinter steht ein großes Foto Kohls.
    Trauerfeierlichkeiten für Altkanzler Kohl im EU-Parlament in Straßburg (dpa / Michael Kappeler)
    Michael Köhler: Mit dem Städtenamen von Straßburg und seinem Münster, da ist nicht nur die Epoche des Sturm und Drang in der Goethezeit verbunden, sondern insbesondere die Geschichte der deutsch-französischen Erbfeindschaft im 19. und im 20. Jahrhundert. Im November 1918, da wird das Reiterstandbild Wilhelm des Ersten in Straßburg niedergerissen, viele Jahre später, im Juni 1940, steht Adolf Hitler mit Gefolge im Münster zu Straßburg. Aus dem Rhein, der ehemaligen Kriegsachse, wurde im Laufe der Geschichte eine Friedensachse. Nach dem Zweiten Weltkrieg, da wurde in Straßburg 1949 der Europarat und später das Europaparlament gegründet. Morgen, da wird in einem einmaligen europäischen Trauerakt Altkanzler Helmut Kohl in Straßburg geehrt, dann in seine pfälzische Heimat nach Speyer gebracht, militärisch dort geehrt und unweit des Kaiserdoms beigesetzt. Barbara Stollberg-Rilinger – sie ist Historikerin an der Universität in Münster und Spezialistin auch für die Symbolsprache des Alten Reiches –, mit ihr habe ich darüber gesprochen und sie gefragt: Welche Zeichen werden beim Trauerakt für Kanzler Kohl da insgesamt aufgerufen, was passiert da?
    "Straßburg steht für die deutsch-französische Versöhnung"
    Barbara Stollberg-Rilinger: Man könnte sicher keinen besseren Ort für ein deutsch-französisches und darüber hinaus europäisches Erinnerungszeremoniell finden als Straßburg, weil Straßburg natürlich steht für die deutsch-französische Versöhnung, also zunächst mal für die Feindschaft und dann für die Versöhnung. Das ist ja eine Stadt, die zunächst mal eine ganz bedeutende kulturelle Tradition verkörpert – wenn man als Minister denkt, auch in der Reformation zentrale Bedeutung, dann eine Reichsstadt, in der sehr viele Reichstage des alten deutschen, ersten deutschen Reiches stattgefunden haben, und dann aber seit der Zeit Ludwig des Vierzehnten eben französisch besetzt und dann französisch angeeignet, und von da ab dann sozusagen ständig hin und her gewechselt zwischen Deutschland und Frankreich, bis dann schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg es dann endgültig an Frankreich gefallen ist. Und jetzt ist es eben ein Schauplatz der europäischen Einigung und der Überwindung der nicht nur deutsch-französischen, sondern allgemein Friedlosigkeit Europas, die ja eigentlich die ganzen Epochen vorher immer gekennzeichnet hat.
    Trauerakt für Kohl und Wahl Macrons - gutes Timing für Brüssel
    Michael Köhler: Die Moderne ist durch eine gewisse Ritualarmut ausgezeichnet oder eine Verhaltensunsicherheit vielleicht. Da gibt es so popkulturelle Praktiken, so schwenkende Feuerzeuge, man singt Lieder zur Klampfe oder baut Teelichter auf oder macht Blumen und Briefe und Handgeschriebenes vor Hauseingängen von Toten – ich will das überhaupt nicht schmälern. Worauf ich hinaus will: Auf Bestattungen folgten im Alten Reich die Krönungen – der König ist tot, es lebe der König. Bleibt da jetzt eine Lehrstelle oder könnte aus diesem Zeremoniell ein neuer, ich will’s nicht Gründungsakt nennen, aber ein vielleicht symbolischer Schub für Europa entstehen?
    Stollberg-Rilinger: Ich denke, das ist das Kalkül derjenigen EU-Funktionäre, vor allem Juncker ja offenbar, bei dieser ganzen Veranstaltung, dass man hier der europäischen Idee einen neuen Schub versetzt in einem Moment, der ja günstig gewählt – aber das ist ja nicht gewählt, man hat sich das ja nicht ausgesucht –, dass Kohl nun gerade jetzt gestorben ist, aber es passt natürlich ganz gut zu der Wahl in Frankreich mit Macron, der ja offenbar einen großen neuen europäischen Begeisterungsschub ausgelöst hat. Ich denke, von daher trifft es sich ganz gut, die Idee finde ich gar nicht schlecht mit diesem europäischen Trauerakt.
    Es knüpft natürlich an an die Tatsache – das haben Sie erwähnt –, dass in allen Gemeinwesen, könnte man vielleicht allgemein sagen, in eigentlich der ganzen Kulturgeschichte, so weit Sie auch zurückgehen, Trauerakte, Beisetzungen, Totenkult im weitesten Sinne das Zentrum politischer Gemeinschaftskultur und Erinnerungskultur sind. Und man hofft vermutlich, dass hier der Europäischen Union, die ja sehr arm an Ritualen, an Mythen, an symbolischen Figuren ist, hier eine solche Erinnerungskultur zu begründen. Es ist die Frage … Also wie gesagt, es liegt nahe, ich finde es auch eine gute Idee, andererseits ist natürlich die Frage, ob Kohl sich dafür wirklich so eignet. Zunächst muss man ja auch mal davon ausgehen, dass in anderen europäischen Ländern – wenn man mal von Frankreich vielleicht absieht – das alles gar nicht so eine wirklich wahrgenommene Sache ist, also dass man sich so bewusst ist, wer Kohl eigentlich ist und dass er jetzt gestorben ist. Ich glaube, in anderen Ländern wird man das nicht so aufmerksam verfolgen wie bei uns.
    "Wer könnte noch eine europapolitische Symbolfigur sein?"
    Michael Köhler: Dass daraus eine Art neuer Ritualverband erwächst, glauben Sie nicht, ne?
    Stollberg-Rilinger: Na ja, es ist die Frage, wie sich die europäische Einigung insgesamt weiterentwickelt – ohne eine überzeugende Europapolitik, die auch von den Leuten in den Ländern mitgetragen wird, nützt natürlich auch ein schönes Ritual nichts. Und es ist auch die Frage, wer dann diese Ritualtradition fortsetzen könnte, also wer außer Kohl so eine symbolische, europapolitische Symbolfigur sein könnte. Delors könnte man denken, bei Jean-Claude Juncker ist es schon die Frage, ob der die Leute emotional so mitnimmt. Man könnte an Gorbatschow denken – also wenn der mal stirbt, dass man einen europäischen Staatsakt veranstaltet oder europäischen Trauerakt, weil der natürlich um die europäische und vor allem um die deutsche Einigung ein großes Verdienst hat, auch wenn er selbst in engerem Sinne jetzt nicht zur Europäischen Union gehört. Das sind so Figuren, die wirklich eine charismatische Wirkung hatten, und solche Figuren braucht man natürlich, und da sind jetzt in der Europäischen Union ja nicht so furchtbar viele da.
    Michael Köhler: Ich höre da raus, dass in der aufgeklärten entzauberten Moderne das Ritual alleine noch kein Garant für Einigkeit oder Fortbestand ist.
    Stollberg-Rilinger: Sicher nicht. Aber es schadet auch nicht, Rituale zu haben, wenn sie nicht in, ja, hohlem Pathos erstarren und dann natürlich auch sehr leicht abstürzen ins Lächerliche, und wir sind heutzutage natürlich besonders empfindlich.
    Michael Köhler: Sagt Barbara Stollberg-Rilinger, Historikerin aus Münster, die gerade übrigens den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa gewonnen hat. Sie ist Verfasserin unter anderem von "Des Kaisers alte Kleider: Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.