Sigmund Freud hat in seiner Abhandlung über "Trauer und Melancholie" einen Begriff geprägt, der seinen lebenslangen Traum von der Rückbindung psychologischer Prozesse an ökonomische Gesetze wunderbar veranschaulicht. Trauerarbeit nennt er denjenigen Vorgang, durch den die menschliche Psyche einen Verlust im wahrsten Sinne des Wortes verarbeitet. Und Freud sah darin eine echte Leistung im physikalischen Sinne, wie die Erinnerungen an den geliebten aber verlorenen Gegenstand immer wieder durchlaufen werden, um die affektive Bindung an sie aufzuheben und die zurück gewonnene psychische Energie dem Ich wieder zur Verfügung zu stellen.
Karriere gemacht hat dieser Begriff der Trauerarbeit dann vor allem in den intellektuellen Kreisen der 68er-Bewegung in Frankreich wie zum Beispiel bei den Mitgliedern der Zeitschrift Tel Quel, die sich der Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus verschrieben hatten. Zu ihnen gehörte anfangs auch der 1915 geborene Literaturwissenschaftler Roland Barthes, der 1980 tragischerweise nach einem Autounfall verstarb. Drei Jahre zuvor hatte er den schmerzhaftesten Verlust mit dem Tod seiner Mutter erlitten, der er in seinem letzten Buch über die "Helle Kammer" in Form einer inspirierenden, aber selbst ungezeigt bleibenden Fotografie ein Denkmal gesetzt hat. Jetzt ist nach über 30 Jahren aus dem Nachlass ein Tagebuch aus der Zeit nach dem Tod der Mutter ediert worden, in dem sich Roland Barthes' Trauerarbeit über zwei Jahre hinweg verfolgen lässt. Die Veröffentlichung der intimen Aufzeichnungen über den Schmerz des Abschiednehmens von der zutiefst geliebten Mutter, die ihren Mann nur ein Jahr nach der Geburt des Sohnes verlor, ist sicherlich nicht unumstritten. So manche Notiz erweckt ein Gefühl der Peinlichkeit, weil sie ganz persönliche Bedeutung hat und die Hilflosigkeit des um Worte für die Trauer Suchenden zeigt. Darüber steht aber die Intention der Herausgeber, das Dokument der Öffentlichkeit zugängig zu machen, um das Verständnis anderer, theoretischer Texte der Epoche zu erweitern. Darf man sich also vielleicht sogar ganz neue, überraschende wenn nicht sensationelle Einsichten in die Entstehungsgeschichte des intellektuellen Universums von Barthes erhoffen?
Diese Frage lässt sich eindeutig mit Nein beantworten. Zwar lassen sich relativ offensichtlich die Bezüge zu der gleichzeitigen Arbeit an der Vorlesung über "Das Neutrum" und am Fotografie-Buch über "Die helle Kammer" erkennen; die häufige Bezugnahme auf Proust und seine Erinnerungstheorie zeugt noch einmal von dessen Bedeutung für Barthes; schließlich taucht auch mehrfach der zen-buddhistische Topos des satori auf, der Zäsur einer plötzlichen und inkommensurablen Einsicht, wie er Barthes seit seiner Japan-Reise immer wieder beschäftigt. Aber keine dieser Stellen bietet irgendeine neue Bedeutungsebene. Dafür zeigen sie etwas anderes und entscheidendes, nämlich die für Barthes Leben und Werk typische Verwobenheit dieser beiden Dimensionen. Im konkreten Fall geht es darum, das individuelle Erlebnis eines Verlustes in einer überindividuellen Sprache der Trauer zu verarbeiten, das heißt, wie Barthes explizit im Hinweis auf Kierkegaards Theorie des Sprechens als Verallgemeinerung ausführt, es nicht auf das besondere Ereignis zu reduzieren, sondern in die Abstraktion eines bleibenden Kummers aufzuheben und reifen zu lassen.
Und dabei wird es spannend, wenn man als Leser teilhaben darf am Schreibprozess, der in exemplarischer Weise der Trauerarbeit die Transformation von Leben oder Erleben in Literatur vollzieht und die Sterblichkeit des Menschen mit der Unsterblichkeit der Schrift konfrontiert. Barthes erweist sich dabei als getreuer Leser Freuds, insofern das Arbeitsethos der Trauer, nämlich für Neues bereit zu sein und nicht – wie die Melancholie – in den alten Konflikten haften zu bleiben, immer wieder dominiert. Schon zwei Tage nach dem Tod der Mutter notiert er die Aufgabe:
"Verstimmung. Nein. Trauer (Depression) ist etwas ganz anderes als eine Krankheit. Wovon wollen sie mich heilen? Um in welchen Zustand, in welches Leben zurückzukehren? Wenn Trauer eine Arbeit ist, so ist derjenige, der daraus hervorgeht, kein fades, sondern ein moralisches Wesen, ein wertvolles Subjekt – und kein integriertes."
In diesem Sinne spielt das Schreiben des Tagebuchs eine zentrale Rolle in der Trauerarbeit Roland Barthes', der sein Leben fortan in eine Zeit vor und nach dem Ereignis des Todes seiner Mutter einteilt. Zugleich erwacht damit ein anderer Wunsch danach, den immer schon von Barthes gepflegten Grenzgang zwischen wissenschaftlicher und fiktionaler Prosa in ein veritables Romanprojekt münden zu lassen, das den Titel "Vita Nova" trägt. Dass es sich beim Vorbild, nämlich Dantes "Vita Nuova", um die literarische Verarbeitung der Liebesbegegnung mit der jungen Beatrice handelt, ist nicht zufällig. Auch Barthes vollzieht in der Trauer um seine Mutter den Abschied von einer Geliebten. In der ersten Notiz heißt es rätselhaft: "Erste Hochzeitnacht. Doch erste Nacht der Trauer?", als würde das Tagebuch des Novalis zitiert werden, der nach dem Tod seiner Geliebten Sophie von der Transformation des Grabes in ein Hochzeitsbett schwärmte. Barthes folgt nicht nur ähnlichen Fantasien, verkehrt in diesen sogar den Verlust der Mutter in den einer Tochter, sondern auch bei ihm wird der Tod zum Anlass eines Schreibens, in dem die Trauer Früchte reifen lässt.
Wir erleben so durchgängig eine Spaltung des Subjekts in ein leidendes und in ein beobachtendes, in ein trauerndes und sich bei dieser Trauer beschreibendes Subjekt. Barthes wird durch die Trauerarbeit zum Schreibenden, der durch diesen Akt nicht nur den bedrohlichen Affekt verwandelt, sondern sogar eine "apotropäische Macht" gewinnt, das heißt die feindlichen Kräfte bannt und die Angst – nicht zuletzt vor dem eigenen Tod – überwindet. Und wieder triumphiert das ökonomische Denken Freuds:
"Ich verwandle "Arbeit" im analytischen Sinne (Trauerarbeit, Traumarbeit) in wirkliche "Arbeit" – Schreibarbeit.
denn: die "Arbeit", mit der man (wie es heißt) große Krisen durchsteht (Liebe, Trauer), darf nicht zu hastig beendet werden; für mich ist sie vollendet erst im und durch das Schreiben."
Diese Transformation des Unbegreiflichen, Unbeschreibbaren und dadurch Bedrohlichen, Schockierenden in die Schriftlichkeit als semiologisches System hat Barthes in seinem ganzen Werk praktiziert. Frühe Meisterstücke dieser Kunst der Beschreibung sind schon die in den 50er Jahren in Zeitschriften publizierten Kurzessays, die unter dem Titel "Mythologies" zusammengefasst wurden. Eine Auswahl erschien 1964 auf Deutsch unter dem Titel "Mythen des Alltags", aber erst jetzt ist eine komplette Übersetzung erstmalig erschienen. Barthes bezieht sich natürlich vorwiegend auf Alltagserscheinungen des französischen Kulturraumes, was seinerzeit den Verlag zögern ließ, einer Gesamtübersetzung zu wagen. Heute im Zeichen der Europäischen Union und der Globalisierung der Kulturen sind solche Grenzen gefallen, haben auch Nicht-Franzosen den Wein als ihr ureigenstes Gut und die dreihundertsechzig Käsesorten als ihre Kultur entdeckt. Und die massenmedialen Beispiele der Pressephotographie oder des Films, seien es nun die Hollywood-Maskeraden der Römer- oder so genannten Sandalen-Filme oder das legendäre Gesicht von Greta Garbo als Schönheits-Archetypus, sind allen vertraut. Vor allem aber im nostalgischen Rückblick liebt man die kleinen Details, die Barthes mir einem typologischen Blick erfasst, der an Walther Benjamins Denkbilder erinnert. Denn wie dieser liest er die gesammelten Bilder als Schrift, um sie in dieser Zeichenbeziehung als mythologische Botschaften zu entziffern. Als solche stellen sie für Barthes ein "sekundäres semiologisches System" dar, das aber seine Herkunft aus der Geschichte des Bedeutens verleugnet und sich in die unschuldigen Farben eines natürlichen Bildes der Realität kleidet. Barthes führt ein Beispiel an, das er der populären Zeitschrift "Paris Match" entnimmt:
"Auf dem Titel erweist ein junger Neger in französischer Uniform den militärischen Gruß, die Augen erhoben und vermutlich auf eine Falte der Trikolore gerichtet. Dies ist der Sinn des Bildes. Doch ob naiv oder nicht, ich sehe wohl, was es mir bedeutet: dass Frankreich ein großes Imperium ist, dass seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und dass es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient. Auch hier habe ich also wieder ein erweitertes semiologisches System vor mir."
Gemeint ist damit eine Verschiebung vom symbolischen Bedeutungszusammenhang des national codierten farbigen Soldaten auf die quasi-natürliche Präsenz des Bedeuteten in Gestalt einer Vermischung von Franzosentum und Soldatentum. Genau diese ideologische Funktion des Mythos in seiner entpolitisierten Erschleichung von Evidenz hat Barthes Misstrauen immer wieder geweckt. Die meisten Beispiele seiner Mythen des Alltags beziehen sich daher auf Werbung und Propaganda, aber auch alte Stereotypen wie das französische Nationalgericht "steak – frites" oder neuere wie die sterilen Farbphotographien bei Kochrezepten in Frauenmagazinen werden aufgegriffen. Insofern ist es dankbar zu begrüßen, dass endlich der Gesamttext in einer zudem lockerer lesbaren Übersetzung vorliegt. Einem besonders plausiblen bzw. symptomatischen Paradefall eignet aber eine makabre Schicksalhaftigkeit. Roland Barthes beschäftigte sich nämlich auch mit dem Flagschiff der französischen Automobilindustrie seiner Zeit, dem damals neuen Citroen, Marke DS, die Barthes in bester strukturalistischer Manier als "Déesse", auf Deutsch "Göttin", ausbuchstabiert. Diesem mit gotischen Kathedralen in eins gesetzten technischen Wunderwerk aus einer anderen Welt sollte er schließlich zum Opfer fallen. In einem Exemplar dieser "humanisierten Kunst" wurde Roland Barthes im März 1980 von einem Lastwagen überrollt. Es war einer der größten Verluste für die intellektuelle Geschichte des Poststrukturalismus. Wir trauern immer noch um ihn.
Karriere gemacht hat dieser Begriff der Trauerarbeit dann vor allem in den intellektuellen Kreisen der 68er-Bewegung in Frankreich wie zum Beispiel bei den Mitgliedern der Zeitschrift Tel Quel, die sich der Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus verschrieben hatten. Zu ihnen gehörte anfangs auch der 1915 geborene Literaturwissenschaftler Roland Barthes, der 1980 tragischerweise nach einem Autounfall verstarb. Drei Jahre zuvor hatte er den schmerzhaftesten Verlust mit dem Tod seiner Mutter erlitten, der er in seinem letzten Buch über die "Helle Kammer" in Form einer inspirierenden, aber selbst ungezeigt bleibenden Fotografie ein Denkmal gesetzt hat. Jetzt ist nach über 30 Jahren aus dem Nachlass ein Tagebuch aus der Zeit nach dem Tod der Mutter ediert worden, in dem sich Roland Barthes' Trauerarbeit über zwei Jahre hinweg verfolgen lässt. Die Veröffentlichung der intimen Aufzeichnungen über den Schmerz des Abschiednehmens von der zutiefst geliebten Mutter, die ihren Mann nur ein Jahr nach der Geburt des Sohnes verlor, ist sicherlich nicht unumstritten. So manche Notiz erweckt ein Gefühl der Peinlichkeit, weil sie ganz persönliche Bedeutung hat und die Hilflosigkeit des um Worte für die Trauer Suchenden zeigt. Darüber steht aber die Intention der Herausgeber, das Dokument der Öffentlichkeit zugängig zu machen, um das Verständnis anderer, theoretischer Texte der Epoche zu erweitern. Darf man sich also vielleicht sogar ganz neue, überraschende wenn nicht sensationelle Einsichten in die Entstehungsgeschichte des intellektuellen Universums von Barthes erhoffen?
Diese Frage lässt sich eindeutig mit Nein beantworten. Zwar lassen sich relativ offensichtlich die Bezüge zu der gleichzeitigen Arbeit an der Vorlesung über "Das Neutrum" und am Fotografie-Buch über "Die helle Kammer" erkennen; die häufige Bezugnahme auf Proust und seine Erinnerungstheorie zeugt noch einmal von dessen Bedeutung für Barthes; schließlich taucht auch mehrfach der zen-buddhistische Topos des satori auf, der Zäsur einer plötzlichen und inkommensurablen Einsicht, wie er Barthes seit seiner Japan-Reise immer wieder beschäftigt. Aber keine dieser Stellen bietet irgendeine neue Bedeutungsebene. Dafür zeigen sie etwas anderes und entscheidendes, nämlich die für Barthes Leben und Werk typische Verwobenheit dieser beiden Dimensionen. Im konkreten Fall geht es darum, das individuelle Erlebnis eines Verlustes in einer überindividuellen Sprache der Trauer zu verarbeiten, das heißt, wie Barthes explizit im Hinweis auf Kierkegaards Theorie des Sprechens als Verallgemeinerung ausführt, es nicht auf das besondere Ereignis zu reduzieren, sondern in die Abstraktion eines bleibenden Kummers aufzuheben und reifen zu lassen.
Und dabei wird es spannend, wenn man als Leser teilhaben darf am Schreibprozess, der in exemplarischer Weise der Trauerarbeit die Transformation von Leben oder Erleben in Literatur vollzieht und die Sterblichkeit des Menschen mit der Unsterblichkeit der Schrift konfrontiert. Barthes erweist sich dabei als getreuer Leser Freuds, insofern das Arbeitsethos der Trauer, nämlich für Neues bereit zu sein und nicht – wie die Melancholie – in den alten Konflikten haften zu bleiben, immer wieder dominiert. Schon zwei Tage nach dem Tod der Mutter notiert er die Aufgabe:
"Verstimmung. Nein. Trauer (Depression) ist etwas ganz anderes als eine Krankheit. Wovon wollen sie mich heilen? Um in welchen Zustand, in welches Leben zurückzukehren? Wenn Trauer eine Arbeit ist, so ist derjenige, der daraus hervorgeht, kein fades, sondern ein moralisches Wesen, ein wertvolles Subjekt – und kein integriertes."
In diesem Sinne spielt das Schreiben des Tagebuchs eine zentrale Rolle in der Trauerarbeit Roland Barthes', der sein Leben fortan in eine Zeit vor und nach dem Ereignis des Todes seiner Mutter einteilt. Zugleich erwacht damit ein anderer Wunsch danach, den immer schon von Barthes gepflegten Grenzgang zwischen wissenschaftlicher und fiktionaler Prosa in ein veritables Romanprojekt münden zu lassen, das den Titel "Vita Nova" trägt. Dass es sich beim Vorbild, nämlich Dantes "Vita Nuova", um die literarische Verarbeitung der Liebesbegegnung mit der jungen Beatrice handelt, ist nicht zufällig. Auch Barthes vollzieht in der Trauer um seine Mutter den Abschied von einer Geliebten. In der ersten Notiz heißt es rätselhaft: "Erste Hochzeitnacht. Doch erste Nacht der Trauer?", als würde das Tagebuch des Novalis zitiert werden, der nach dem Tod seiner Geliebten Sophie von der Transformation des Grabes in ein Hochzeitsbett schwärmte. Barthes folgt nicht nur ähnlichen Fantasien, verkehrt in diesen sogar den Verlust der Mutter in den einer Tochter, sondern auch bei ihm wird der Tod zum Anlass eines Schreibens, in dem die Trauer Früchte reifen lässt.
Wir erleben so durchgängig eine Spaltung des Subjekts in ein leidendes und in ein beobachtendes, in ein trauerndes und sich bei dieser Trauer beschreibendes Subjekt. Barthes wird durch die Trauerarbeit zum Schreibenden, der durch diesen Akt nicht nur den bedrohlichen Affekt verwandelt, sondern sogar eine "apotropäische Macht" gewinnt, das heißt die feindlichen Kräfte bannt und die Angst – nicht zuletzt vor dem eigenen Tod – überwindet. Und wieder triumphiert das ökonomische Denken Freuds:
"Ich verwandle "Arbeit" im analytischen Sinne (Trauerarbeit, Traumarbeit) in wirkliche "Arbeit" – Schreibarbeit.
denn: die "Arbeit", mit der man (wie es heißt) große Krisen durchsteht (Liebe, Trauer), darf nicht zu hastig beendet werden; für mich ist sie vollendet erst im und durch das Schreiben."
Diese Transformation des Unbegreiflichen, Unbeschreibbaren und dadurch Bedrohlichen, Schockierenden in die Schriftlichkeit als semiologisches System hat Barthes in seinem ganzen Werk praktiziert. Frühe Meisterstücke dieser Kunst der Beschreibung sind schon die in den 50er Jahren in Zeitschriften publizierten Kurzessays, die unter dem Titel "Mythologies" zusammengefasst wurden. Eine Auswahl erschien 1964 auf Deutsch unter dem Titel "Mythen des Alltags", aber erst jetzt ist eine komplette Übersetzung erstmalig erschienen. Barthes bezieht sich natürlich vorwiegend auf Alltagserscheinungen des französischen Kulturraumes, was seinerzeit den Verlag zögern ließ, einer Gesamtübersetzung zu wagen. Heute im Zeichen der Europäischen Union und der Globalisierung der Kulturen sind solche Grenzen gefallen, haben auch Nicht-Franzosen den Wein als ihr ureigenstes Gut und die dreihundertsechzig Käsesorten als ihre Kultur entdeckt. Und die massenmedialen Beispiele der Pressephotographie oder des Films, seien es nun die Hollywood-Maskeraden der Römer- oder so genannten Sandalen-Filme oder das legendäre Gesicht von Greta Garbo als Schönheits-Archetypus, sind allen vertraut. Vor allem aber im nostalgischen Rückblick liebt man die kleinen Details, die Barthes mir einem typologischen Blick erfasst, der an Walther Benjamins Denkbilder erinnert. Denn wie dieser liest er die gesammelten Bilder als Schrift, um sie in dieser Zeichenbeziehung als mythologische Botschaften zu entziffern. Als solche stellen sie für Barthes ein "sekundäres semiologisches System" dar, das aber seine Herkunft aus der Geschichte des Bedeutens verleugnet und sich in die unschuldigen Farben eines natürlichen Bildes der Realität kleidet. Barthes führt ein Beispiel an, das er der populären Zeitschrift "Paris Match" entnimmt:
"Auf dem Titel erweist ein junger Neger in französischer Uniform den militärischen Gruß, die Augen erhoben und vermutlich auf eine Falte der Trikolore gerichtet. Dies ist der Sinn des Bildes. Doch ob naiv oder nicht, ich sehe wohl, was es mir bedeutet: dass Frankreich ein großes Imperium ist, dass seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und dass es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient. Auch hier habe ich also wieder ein erweitertes semiologisches System vor mir."
Gemeint ist damit eine Verschiebung vom symbolischen Bedeutungszusammenhang des national codierten farbigen Soldaten auf die quasi-natürliche Präsenz des Bedeuteten in Gestalt einer Vermischung von Franzosentum und Soldatentum. Genau diese ideologische Funktion des Mythos in seiner entpolitisierten Erschleichung von Evidenz hat Barthes Misstrauen immer wieder geweckt. Die meisten Beispiele seiner Mythen des Alltags beziehen sich daher auf Werbung und Propaganda, aber auch alte Stereotypen wie das französische Nationalgericht "steak – frites" oder neuere wie die sterilen Farbphotographien bei Kochrezepten in Frauenmagazinen werden aufgegriffen. Insofern ist es dankbar zu begrüßen, dass endlich der Gesamttext in einer zudem lockerer lesbaren Übersetzung vorliegt. Einem besonders plausiblen bzw. symptomatischen Paradefall eignet aber eine makabre Schicksalhaftigkeit. Roland Barthes beschäftigte sich nämlich auch mit dem Flagschiff der französischen Automobilindustrie seiner Zeit, dem damals neuen Citroen, Marke DS, die Barthes in bester strukturalistischer Manier als "Déesse", auf Deutsch "Göttin", ausbuchstabiert. Diesem mit gotischen Kathedralen in eins gesetzten technischen Wunderwerk aus einer anderen Welt sollte er schließlich zum Opfer fallen. In einem Exemplar dieser "humanisierten Kunst" wurde Roland Barthes im März 1980 von einem Lastwagen überrollt. Es war einer der größten Verluste für die intellektuelle Geschichte des Poststrukturalismus. Wir trauern immer noch um ihn.