Karin Fischer: Schriftsteller können nie wirklich Symbolfiguren sein, aber Siegfried Lenz hatte doch etwas davon. Als Moralist, als politisch denkender Kopf und als je berühmter desto bescheidenerer Mensch stand er mit für jenes Deutschland, das sich dann im Kniefall von Willy Brandt in Warschau wirklich symbolisch manifestierte. 88-Jährig ist er am 7. Oktober verstorben und bei der Trauerfeier im Hamburger Michel war das politische und das geistige Deutschland noch einmal beisammen. Neben den Oberhäuptern der Stadt hielten der Freiburger Schriftsteller Karl-Heinz Ott und Helmut Schmidt die Trauerreden.
Helmut Schmidt: "In unserem hohen Alter sterben doch links und rechts alle alten Freunde hinweg: Lilo 2006, Loki ist 2010 gestorben und jetzt ist Sigi beiden nachgefolgt. Sigi war ein Mann mit einem großen Einfühlungsvermögen. Für mich blieb er ein Mann ohne erkennbare Schwäche. Ich werde ihn sehr vermissen."
Fischer: Helmut Schmidt. - Frage an Rainer Moritz, den Leiter des Literaturhauses Hamburg, der auch in Hamburg mit dabei war: Wie wurde Siegfried Lenz in diesen Trauerreden noch charakterisiert?
Rainer Moritz: Ich glaube, es hat sich ein Faden durchgesponnen, den man schon in den Nachrufen immer wieder zu lesen bekam, dass Siegfried Lenz eben nicht nur als großer Schriftsteller gewürdigt wird, als der Autor der "Deutschstunde" oder der Novelle "Schweigeminute", sondern durch alle Reden des heutigen Tages zog sich in der Tat noch einmal die Betonung, was für ein bescheidener, zurückhaltender Autor hier amtiert hat, der einerseits politisch aktiv war, der mit Willy Brandt in den Osten gereist ist, er hat nachdenkliche Texte, Essays auch geschrieben, neben seinen Romanen und Erzählungen, und dieser Zug von Siegfried Lenz wurde heute besonders herausgestellt, neben seiner persönlichen Zurückhaltung. Das war, glaube ich, vielleicht das "Argument", das am häufigsten heute angeführt wurde, dass dieser Mann im persönlichen Umgang so ungemein einnehmend war, zurückgenommen war, freundlich war, zugewandt war. Insofern hat heute Hamburg ja nicht nur einen Ehrenbürger verloren, sondern auch einen großen Menschen. Das Wort "großer Mensch" - das ist ja nicht so häufig, dass das in Reden fällt - wurde heute gleich mehrfach bemüht.
Fischer: Günter Grass, der ja auch da war, Heinrich Böll und Siegfried Lenz gelten als die Trias von Nachkriegsautoren, die Moral nicht als moralisierend verstanden haben, sondern die mit ihren Werken ein Teil dessen wurden, was wir heute Aufarbeitung oder Versöhnung nennen und womit wir die NS-Vergangenheit meinen und vor allem auch die Nachbarn Polen und Frankreich oder im Fall von Siegfried Lenz auch Israel, die Versöhnung mit Israel. Kam das auch zur Sprache, oder hat man sich, wie Sie gerade sagen, mehr auf den Menschen und den Freund Siegfried Lenz bezogen?
Moritz: Nein. In vielen Reden wurde gerade diese politische Funktion auch deutlich gemacht. Es sprach ja neben Olaf Scholz oder Torsten Albig auch der Stadtpräsident Elk, dem Lyck, dieser kleinen Stadt, in der Siegfried Lenz geboren wurde 1926 in Masuren. Das war natürlich eine der ergreifendsten Passagen der heutigen Trauerfeier, weil der Stadtpräsident sich bemüht hat, auf Deutsch zu sprechen, und er hat genau das deutlich gemacht, wie wichtig der Roman "Heimatmuseum" in diesem Zusammenhang war, dass das ein Text war, der gerade zur Versöhnung von Deutschen und Polen entscheidend beigetragen hat. Das war ein wichtiger Zug, glaube ich, aber es wurde auch immer wieder betont, dass Lenz auch mit langsamen Texten vor allem gewirkt hat. Er hat Konflikte beschrieben, er hat immer wieder Grundsituationen, existenzielle Situationen des Menschen beschrieben, indem ein einzelner selbst entscheiden muss, ob er jetzt dies tut oder jenes tut. Diese moralischen Grundfragen hat Lenz aber in vielen seiner Texte nicht moralin sauer präsentiert oder mit erhobenem Zeigefinger, sondern er hat Geschichten walten lassen, und das wurde heute zum Glück, wie ich finde, mehrfach betont.
Fischer: Ein Mensch ist gegangen, der wichtig war für das Land. Von der Kultur brauchen wir gar nicht zu sprechen. Aber ist da auch eine bestimmte Zeit gegangen? Ist an so einem Tag zu spüren, dass noch etwas Größeres vielleicht zu Ende geht?
Moritz: Ich glaube, man spürt in solchen Momenten immer ein bisschen auch die Sehnsucht, die wir heute haben nach Zeiten, da das Wort des Schriftstellers mehr geachtet, mehr geschätzt wurde. Sie haben Heinrich Böll erwähnt, Sie haben Günter Grass erwähnt. Man spürt natürlich, wenn man an diese Zeit der 60er-, frühen 70er-Jahre zurückdenkt, dass in der Tat auch Politiker offensichtlich anders gehört haben auf Schriftsteller. Man sollte das nicht glorifizieren, das ist heute auch nicht geschehen. Aber es war in der Tat eine Zeit, wo man das Gefühl hatte, Künstler, Schriftsteller, Theaterleute hatten Politikern etwas zu sagen und umgekehrt. Deswegen war auch Helmut Schmidt hier einer der wichtigsten Redner des heutigen Tages, weil er genau noch einmal geschildert hat, wie man 50 Jahre befreundet war und er Siegfried Lenz ausgefragt habe - so die wörtliche Formulierung von Helmut Schmidt - und umgekehrt das genauso passiert sei. Beide wollten voneinander was wissen, von der Welt der Literatur und von der Welt der Politik, und das fehlt natürlich heute und diese Sehnsucht war, glaube ich, heute sehr deutlich zu spüren.
Fischer: Siegfried Lenz hat ja in diesem Sommer eine Stiftung gegründet, ihr seinen Nachlass gegeben und einen Preis ausgelobt, den Siegfried-Lenz-Preis, der im November erstmals an Amos Oz, auch ein Freund von ihm, verliehen wird. Ein schönes Vermächtnis?
Moritz: Ein schönes Vermächtnis ja, aber natürlich auch ein besonders trauriger Moment, weil wir uns hier in Hamburg und, ich glaube, auch über Hamburg hinaus genau auf diesen 14. November natürlich gefreut haben, weil Siegfried Lenz wieder einmal endlich auf seinen Freund Amos Oz treffen sollte im Rathaus der Stadt, und dieser große Moment, der muss jetzt anders zelebriert werden.
Fischer: Rainer Moritz, Sie waren bei Hoffmann und Campe Verleger und Lenz einer der Autoren des Verlags. Was hat Sie persönlich mit dem Schriftsteller verbunden?
Moritz: Ich glaube, es hat mich auch beeindruckt, das was viele beeindruckt hat. Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott hat vielleicht heute die beste Rede gehalten, wenn man das überhaupt kategorisieren will, weil er genau darauf hingewiesen hat, wie es war, wenn man mit Siegfried Lenz gesprochen hat, wenn er einen am Arm gezogen hat, wenn man sogar seinen Pfeifengeruch unmittelbar spürte. Es war Neugier da, es war Interesse da, und dieser persönliche Charakterzug, der hat mich damals schon in meiner Zeit bei Hoffmann und Campe beeindruckt.
Fischer: Vielen Dank an Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, für diese Worte anlässlich der Trauerfeier für Siegfried Lenz in Hamburg.
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