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Trauerkultur
Das Fischerdorf Holm und seine Toten

Die rund 300 Bewohner des Schleswiger Fischerdörfchens Holm haben den Tod tagtäglich vor Augen. Denn alle Häuser grenzen mit mindestens einer Seite an den örtlichen Friedhof. Und auch die 1650 gegründete Totengilde erfreut sich bis heute bei den Holmern größter Beliebtheit.

Von Hermann Ploppa | 02.02.2014
    Blick auf den Holmer Friedhof mit einer Kapelle.
    Für die Bewohner von Holm gehört der Tod zum Alltag. (Deutschlandradio / Hermann Ploppa)
    Ich mache einen Abstecher in die ehemalige Residenzstadt Schleswig mit ihrem imposanten Dom. Von dort aus ein paar 100 Meter weiter kommt man unversehens in eine Oase der Ruhe. Denn da, wo sich heute ein Zebrastreifen in der Knud Laward-Straße befindet, war früher eine Klappbrücke, die die Fischerinsel Holm vom städtischen Festland trennte. Seit 1933 wurde ein Seitenarm des Schlei-Gewässers trocken gelegt. Dadurch ist das Dorf Holm jetzt Festland.
    Ich gehe am schmuck restaurierten Holm-Museum vorbei. Die kleinen Fischerkaten sind liebevoll hergerichtet. Aus Erkern können die Bewohner in drei Richtungen das Geschehen auf der Straße beobachten. Rosenstöcke umranken fast alle Häuschen. Und schon bin ich im Zentrum des Dörfchens. Hier befindet sich allerdings kein Marktplatz. Den Mittelpunkt des Fischerdorfes Holm stellt vielmehr ein akkurat gepflegter Friedhof mit einer weiß getünchten Kapelle in der Mitte dar. Der Friedhof ist umsäumt durch einen Zaun. Sowie von einem Kranz Jahrhunderte alter Bäume.
    Da der Holm nur von etwa 300 Seelen bewohnt wird, gruppieren sich fast alle Fischerhäuschen mit ihren Sichtseiten zum Friedhof. Sämtliche Bewohner der beiden Straßen Süderholm und Norderholm schauen auf die Gräber ihrer Ahnen.
    Das ist sehr ungewöhnlich. Im Allgemeinen wurde der Tod auch in früheren Zeiten eher aus dem Mittelpunkt des Lebens verdrängt. Ich frage einen Experten. Holger Rüdel ist Direktor des Schleswiger Stadtmuseums und hat ein Buch über das Fischerdorf Holm veröffentlicht.
    "Der Holm als ehemalige Insel hatte es nicht nötig, einen Marktplatz zu besitzen, weil man als Einwohner des Holms überwiegend von der Fischerei gelebt hat. Und die Fische wurden nicht auf dem Holm selbst angeboten, sondern in der Stadt Schleswig auf den dortigen Märkten beziehungsweise auch nach außerhalb verkauft."
    Die Bewohner des Fischerdorfes Holm haben die Sorge um die Totenbestattung schon seit 1650 in die eigenen Hände genommen. Damals mussten die Toten der Pestepidemie von den Holmern würdig bestattet werden, denn sie waren von der Stadt Schleswig abgeschirmt. Und so wie die Holmer ihr Fischerhandwerk bis in die 60-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein im Kollektiv betrieben haben, und nicht in Konkurrenz zu einander, so haben sie mit der "Totengilde der Holmer Beliebung" eine Einrichtung geschaffen, die bis zum heutigen Tag die Menschen in dem Fischerdorf in außergewöhnlicher Harmonie zusammen schweißt.
    Altertümliche Tänze zum Beliebungsfest
    Ein Höhepunkt im Leben der Holmer ist das sogenannte Beliebungsfest im Frühsommer. Am ersten Tag gedenken die Männer des Dorfes der Verstorbenen. Am zweiten Tag versammeln sich die Holmer am Zaun des Friedhofs und gedenken der Toten. Danach begibt sich fast die gesamte Dorfbevölkerung in ein Versammlungshaus, wo altertümliche Tänze wie zum Beispiel Menuett und Fandango mit großer Würde zelebriert werden.
    Ich treffe zwei Öllermänner der Holmer Beliebung. Öllermänner, oder auf Hochdeutsch: Ältermänner, das sind Herren aus dem Vorstand der Holmer Totengilde. Die beiden Öllermänner Hans-Detlef Reincke und Hans-Werner Köhler berichten, dass auch die ganz junge Generation gerne am Leben der Gilde teilnimmt:
    "Für die ist es eine Ehre, aufgenommen zu werden als Beliebungsbruder oder Beliebungsschwester. Mit allen Pflichten, die ihnen erwachsen, und sie sind stolz darauf, der Beliebung dann auch anzugehören, denn sie werden vom Ältermann, das wird seine Aufgabe dieses Jahr auch sein. Die kommen dann nach vorne zu dem Ältermannstisch und trinken, nachdem sie aufgenommen worden sind, aus den alten Pokalen einen Schnaps als Quittung sozusagen. Und wenn sie ein bisschen Geschichtsbewusstsein haben, dann werden sie sehen: Aus diesem Glas hat schon Vater, Großvater, Urgroßvater, Ur-Urgroßvater und wer auch immer getrunken. Und das hat eine besondere Bedeutung für sie."
    Ich darf mit den beiden Öllermännern den Friedhof und die Kapelle besichtigen. Ein Privileg. Denn die Gedenkstätten sind nach dem Anschwellen von Touristenströmen in das Fischerdörfchen Holm nur noch für Beliebungsbrüder und -schwestern zugänglich. Alle Toten liegen mit dem Kopf nach Osten gerichtet. Neben den Familiennamen lese ich auf den Grabsteinen seltsame Namen wie "Leier", "Punsch", "Boxer" oder "Grote". Das sind sie sogenannten "Ökelnamen". Weil in Holm so viele Familien auf den selben Nachnamen hören, hat man irgendwann die Spitznamen der Stammväter als zweiten Familiennamen zur weiteren Unterscheidung angenommen.
    "Wir haben hier einen Grabstein, der steht dort hinten, und da steht dann der Name, und darunter steht: 'Katze', der Ökelname. Und da sind die Touristen gekommen und haben gesagt: 'Guck mal, das ist sogar ein Tierfriedhof!"
    Die Kapelle ist im Innenraum sehr schlicht gehalten. Die Beliebungsbrüder gestalten die Totenfeier und das Begräbnis in eigener Regie. Trübt das nicht die Stimmung, wenn man so häufig und direkt mit dem Tod konfrontiert ist?
    "Wenn man die näher kennt, ist man auch traurig. Es ist so, nicht? Das ist einfach so. Einer muss das ja machen."
    Täglicher Umgang mit dem Tod ist etwas ganz Natürliches
    Dennoch ist für die beiden Öllermänner der tägliche Umgang mit dem Tod etwas ganz Natürliches. Die große Angst vor dem Lebensende wird durch die Erfahrung mit ihm gelindert.
    Jedes Familiengrab ist dem entsprechenden Stammhaus der Sippe auf der gegenüber liegenden Seite des Friedhofszauns zugeordnet. So schaut man aus dem Wohnzimmer immer direkt auf seine lieben Verstorbenen.
    Die Kinder spielen direkt neben dem Friedhof. Und die Verstorbenen?
    "Die gehören dazu. Das sieht man jeden Tag. Man geht jeden Tag vorbei. Ich weiß, früher wurde immer gesagt: Wenn du einfach über das Friedhofsgitter springst, um deinen Ball wieder zu holen, darfst du nicht mit zum Beliebungsfest! Du kömmst nicht mit to Believung, latt dat nach!"
    Schon seit Jahrhunderten lebt in der Süderholmstraße die Fischerfamilie Jensen. Marlies Jensen mit dem Ökelnamen Leier hatte als erste aus dem Geschlecht der Jensens für viele Jahre in anderen Städten gelebt und im Stab eines prominenten Politikers gearbeitet. Jetzt ist sie in ihr Heimatdorf Holm unweit des Schleswiger Doms zurückgekehrt. Sie hat ihr Familienhaus mit dem Komfort moderner Wohnkultur ausgestattet. Dennoch ist der Geist Holmer Behaglichkeit gegenwärtig: Da sind die Rosenstöcke, da ist der Erker, der hier "Utlucht" heißt, sowie die "Klöndör". Das Wohnzimmer ist vom Süderholm nur durch diese zweiteilige Tür getrennt. Wer mit den Nachbarn einen "Klönschnack" halten will, macht einfach die obere Hälfte der Tür auf, und kann sich mit den Nachbarn unterhalten.
    Marlies Jensen hat zwei Bücher über den Holm geschrieben. Darin zeigt sie uns modernen Menschen, was wir vom Gemeinschaftsleben der Holmer lernen können.
    Zum Beispiel, wie wir den Tod in unser Leben aufnehmen, und damit das Leben gewinnen:
    "Zärtlicher kann man den Tod nicht in die Mitte nehmen und nirgendwo ist man weniger tot, wenn man gestorben ist. Und es ist wirklich so: Wir gucken ja ständig auf diesen Friedhof, und es ist gar nichts Trauriges, es ist was Wunderschönes, weil ja alle hier bleiben. Das hat so eine Geborgenheit im Grunde genommen. Ich denke, das geht hier vielen so. Irgendwann wenn man alt ist, möchte man vielleicht auch gar nicht mehr leben. Dies ist das Bewusstsein bei all meinen Vorfahren. Die haben hier Jahrhunderte gelebt. Dass es auch irgendwann einfach schön ist, da hinzugehen."