"Erbarme dich unseres Bruders, den du aus dieser Welt zu dir gerufen hast. Lass ihn mit Christus zum Leben auferstehen."
Es war ein feierliches Ereignis – das Requiem für den Volksschauspieler Willy Millowitsch im September 1999 im Hohen Dom zu Köln. Millowitschs Trauerfeier und sein anschließendes Begräbnis auf dem berühmten Melatenfriedhof repräsentierten mit ihren feierlichen Zeremonien das klassische Beispiel einer katholischen Totenfeier. Es sind Zeremonien, die der Trauer um Verstorbene seit Jahrhunderten Gestalt und Rahmen gegeben und zu allen Zeiten den Angehörigen Hoffnung und Trost gespendet haben.
Teil dieses Trostes ist das feste äußere Ritual: die Orgelklänge, Choräle und Gebete, die Kerzen und der Blumenschmuck, der Trauerzug zum Friedhof, die Kondolenzbekundungen am offenen Grab. So haben die Christen seit Jahrhunderten ihre Toten zur letzten Ruhe geleitet.
Ein trüber Herbsttag. Kein Laut dringt durch das dichte Waldgelände. Das fallende Laub verschluckt die Tritte der kleinen Gruppe, die da unterwegs ist:
"Die Blätter segelten, es war Anfang Oktober. Es war wirklich friedlich und versöhnlich irgendwie. Der Förster, der das betreute, trug die Urne und dann kam der Sohn und dann die Verwandten und Kollegen. Und dann wurde diese Urne in dieses kleine Urnengrab am Fuß des Baumes eingelassen. Da wurde die Urne dann versenkt; die ist ja aus kompostierbarem Material und dann stand da eine brennende Kerze in einem Glasbehälter. Und dann haben wir dem Sohn kondoliert und sind in aller Ruhe wieder zurückgelaufen. Man kann sich einen Baum ausgucken und dann steht da nur der Name und keinerlei Daten. Wir haben auch nicht gesungen; hätte auch irgendwie nicht gepasst."
"Menschen trauern, wie sie wollen"
Ein klassisches Requiem, eine Friedwald-Bestattung – zwei Bestattungsrituale, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten:
"Die Menschen trauern heute, wie sie wollen und sie bestatten auch so. Sie können ja nun Beisetzungsformen ganz unterschiedlich – von See bis Wald, und die vom Ballon aus und vom Flugzeug aus und vor Florida in Meer verstreuen lassen, alles Mögliche."
Reiner Sörries, Direktor des "Museums für Sepulkralkultur" in Kassel. In seinem Buch "Herzliches Beileid" zeichnet er eine Kulturgeschichte der Trauer nach.
Der wichtigste Unterschied zu früheren Zeiten, so Sörries, sei, dass es heute keine verpflichtenden Rituale und Verhaltensweisen im Trauerfall mehr gebe. Alles könne praktiziert oder auch unterlassen werden. Denn Trauer, glaubt Sörries, ist keine dem Menschen angeborene anthropologische Konstante:
"Sondern sie hat sich im Lauf der Menschheits- und der Kulturgeschichte mehrfach verändert. Das liegt daran, weil wir in jeder Epoche Trauer neu lernen und so sind wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch dabei, Trauer ganz neu zu begreifen und neue Aspekte der Trauer kennenzulernen."
Ein Paradigmenwechsel: weg von der zeremoniell und gesellschaftlich vorgegebenen hin zu einer persönlich erlebten und gestalteten Trauer.
So gibt es Bestattungen, bei denen die Angehörigen den Sarg bunt bemalen oder sich am offenen Grab mit einem Glas Prosecco zuprosten; es gibt spontan errichtete Kreuze am Straßenrand nach tödlichen Autounfällen, Trauerfeiern ohne Pfarrer und Orgelspiel, stattdessen mit weltlichen Rednern und Popmusik. Und Begräbnisse ohne die sichtbarsten Zeichen der Trauer: ohne schwarze Kleidung:
"Torsten hätte nicht gewollt, dass ihr in Trauerkleidung kommt. Bitte zieht helle und bunte Kleidung an." Heißt es in einer Todesanzeige für ein 22jähriges Aids-Opfer.
Auch in der Trauer: die Lockerung von Konventionen
"Die Aids-Bestattungen haben eine eigene Trauerkultur entwickelt, wie man überhaupt feststellen kann, dass diese Trauerfeiern tatsächlich bunter werden. Das wird ja auch schon bei herkömmlichen Bestattungen eingeübt, beispielsweise auch beim dramatischen Tod von Kindern sind häufig die Trauerfeiern begleitet von bunten Luftballons. Trauerkultur verändert sich von den Rändern her. Und ein solcher Rand sind zum Beispiel auch die Fußball-Fans, die in Hamburg jetzt ihr eigenes Grabfeld haben, gewissermaßen ein eigener Friedhof für HSV-Fans, die nun wiederum ganz strenge Rituale entwickeln, um ihre Vereins- und Klubkameraden zu beerdigen. Also, da beobachten wir tatsächlich Veränderungen von den Rändern her, die allmählich aber auch in die Gesellschaft hineinwirken."
Und dann sind da die Trauerbekundungen im Internet: in sozialen Netzwerken, auf Webseiten und in Blogs. Hier wird die Trauer in einem Ausmaß öffentlich gemacht, wie es keine herkömmliche Todesanzeige je kann.
Wird aber durch die bunte Vielfalt der veränderten Trauerbezeigungen und die Lockerung von Konventionen der Umgang mit dem Tod erträglicher? Oder muss die "Befreiung" von jenen Regeln nicht auch mit einem hohen Maß an Orientierungslosigkeit bezahlt werden?
"Rituale haben ihre Bedeutung und das hat den Menschen auch Halt gegeben. Wir haben aber gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens eine Emanzipation von diesen alten Traditionen erlebt. Das haben wir zunächst als große Befreiung empfunden; als wir dann vieles von den alten Ritualen abgelegt hatten, wurde uns plötzlich bewusst, dass wir damit auch viel verloren haben."
Ohne Riten und Rituale, ohne geistliche oder auch weltliche Tröstungen an den Wendepunkten ihrer Existenz, so Reiner Sörries' Erfahrung, können Menschen nicht leben.
"Ja, wir erleben, dass Menschen häufig keinen normalen Trauerprozess mehr erleben, sondern die Zahl der Trauerfälle, die pathologisch werden, nimmt zu, weil viele Menschen eben das Alte gewissermaßen über Bord geworfen haben, weil es in vielen Fällen als nicht mehr zeitgemäß wirkt und auf der anderen Seite haben wir vielfach noch nicht neue Modelle entwickelt, wie wir mit Trauer umgehen."