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Trauma des Verlusts

Während der Militärdiktatur in Argentinien wurden Tausende Menschen von Sicherheitskräften verschleppt. Dieser politische Hintergrund ist für den Regisseur Fernando Rubio Anlass für eine umfassende Frage nach dem Verlust von gesicherten Identitäten. Seine Collage "Lasst zurück, was ihr wollt” erzählt Geschichten von Unfall, Tod und Trauer.

Von Eberhard Spreng |
    Das Publikum betritt einen Raum voller alter Kleider. Sie liegen auf dem Boden und jeder Schritt hin zu einer der einfachen Zuschauerbänke, die die Wände säumen, führt über abgelegte Hemden, Hosen, Jacketts, Röcke und T-Shirts. Mit der beklemmenden Erfahrung, hier auch ein wenig über die Menschen hinwegzugehen, die diese Kleidung einmal getragen haben, beginnt für den Zuschauer die Aufführung, bevor das erste Wort gesagt ist. Auch die Wände in dem quadratischen Gestell inmitten des abgelebten Festsaals sind voller Kleidungsstücke. Zettel mit kleinen Texten heften an einigen von ihnen, andere zieren alte Fotos. Es sind dies auch Fotos der sieben Akteure. Immer wieder ziehen sie ebenfalls aus zusammengenähter Kleidung gebildete Zwischenwände zu und schaffen damit kleinere Räume und Publikumsgruppen von gut zehn Zuschauern.

    "Morgens beim Aufwachen nach dem Traum, habe ich Angst. Ich bleibe im Bett sitzen mit dem Laken zwischen den Beinen und starre vor mich hin."

    Da hatte ein Mann geträumt, mit seinem Wagen bei einer Fahrt an einer Küstenstraße von den plötzlich hochschlagenden Wellen hinweggerissen worden zu sein, ein unerwarteter Tod durch den Verlust geologischer Gewissheiten. Dieser Albtraum des Argentiniers Fernando Rubio war der Anlass einer theatralen Installation, die allerdings einen gradlinigen Erzählfaden nicht aufbietet, sondern als rätselhafte Collage von Versatzstücken weiterer Geschichten von Verlust, von Unfall, Tod und Trauer erzählt. Denn da ist auch die Geschichte eines Mannes, der bei einem Unfall als einziger seiner Familie überlebt, sich hinfort isoliert, in die Wohnung zurückzieht und die Kleidungsstücke seiner verstorbenen Familienmitglieder an die Wände heftet, zu jedem eine Geschichte auf Papiere schreibt und erst nach 12 Monaten wieder ins Licht des Lebens zurückkehrt.

    "Ich erkenne meine Schritte nicht. Ich denke, der da geht, kann ein anderer sein. Ich suche den Schatten, ich habe keine Probleme mit der Sonne, es ist nur so, dass ich ein Jahr lang eingeschlossen war."

    Was diese hier von sieben Akteuren im losen Chor gemurmelten Geschichte eines fiktiven Protagonisten mit anderen Geschichten verbindet, ist das Trauma eines Verlustes. Und dies verweist metaphorisch auf die Zeit, als die argentinische Militärjunta willkürlich Menschen verschwinden und deren Angehörige mit der quälenden Frage zurückließ, ob sie sie jemals lebend wiedersehen würden. Aber die "Desaparecidos", die Verschwundenen von damals, sind für den jungen Künstler und Theatermacher hier nicht unmittelbar Thema, sondern Anlass für eine umfassende Frage nach dem Verlust von gesicherten Identitäten.

    Und natürlich, die Ästhetik dieser Installation drängt den Vergleich geradezu auf, befinden wir uns hier auch in einem Raum, der von dem bekannten französischen Künstler Christian Boltanski hätte gebaut sein können. Der greift seit vielen Jahren bei seiner Auseinandersetzung mit der Frage der Vergänglichkeit des Lebens zum Beispiel auch bei seiner monumentalen Installation im Pariser Grand Palais vor zwei Jahren auf ganze Berge alter Kleidung zurück. Von einem "Fall Boltanski", der als Notiz in einer Zeitung gestanden habe, lässt Rubio seinen Text sprechen, der dann noch vermutet, dass dieser die zuvor isolierten Akteure seines literarischen Theaters zueinander gebracht habe, indem besagter Boltanski von ihnen geträumt und sie in seinem Traum zusammengeführt habe. Eine Hommage an den französischen Künstler ist diese kurze schwermütige Meditation, dieser Traum im Traum, also auch. "Pueden dejar lo que quieran" ist eine Dämmerung irgendwo zwischen Albtraum und Überlebenwollen, deren diverse Erzähl- und Bedeutungsebenen nur schwer zu entwirren sind. Nach Rodrigo Garcias bitterböser Abrechnung mit den Gewaltbildern des Abendlandes in "Gólgota Picnic" ist dies in dem kleinen Schwerpunkt mit Arbeiten von Regisseuren argentinischen Ursprungs in der zweiten Halbzeit von "Foreign Affairs" der leise, nachdenkliche Kontrapunkt.