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Trauma Kinderverschickung
Die Suche der Opfer, das Schweigen der Täter

Vor drei Jahren machte unsere Autorin erstmals öffentlich, was Kinder erlebt hatten, die in den 1950er- und 80er-Jahren zur Kur geschickt wurden: Gewalt, Sadismus, Zwangsernährung. Jetzt hat sie bei den Einrichtungen noch einmal nachgefragt, wie sie die Vergangenheit aufarbeiten.

Von Lena Gilhaus |
Eine historische Postkarte der Kinderheilanstalt „Waldhaus“.
Historische Postkarte des Kinderkurheims "Waldhaus" in Bad Salzdetfurth. So oder so ähnlich sahen die Kurhäuser aus, in denen viele "Verschickungskinder" Traumatisches erfahren haben (picture alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich)
"Ich muss sagen, dass die Situation des Interviews damals für mich recht ungünstig war, weil ich noch nicht lange im Amt war und nicht die Möglichkeit hatte, ausführlich die Vorwürfe zu recherchieren. Dazu würde ich heute anders Stellung nehmen. Es beschämt mich zutiefst, die Schilderungen der ehemaligen Kurkinder zu lesen. Vor allen Dingen erschreckt mich die Gewalt, Zwangsernährung, Briefzensur, Gewalt, Strafe, Schläge, denen die Kinder in Sankt Johann, Sankt Antonius und auch in Santa Maria Borkum ausgesetzt waren. Ich kann sie nur um Verzeihung bitten für das, was sie durch Mitschwestern und Mitarbeiter haben erleiden müssen."
Heimerziehung- Albtraum Kinderkur
Nach Schilderungen von Betroffenen in ihrer eigenen Familie hat die Dlf-Reporterin Lena Gilhaus vor drei Jahren erstmals auf die Missstände in Kinderkureinrichtungen aufmerksam gemacht. Und nach Verantwortung gefragt.
Schwester Maria Cordis-Reiker - in schwarzer Kutte und Schleier - sitzt nach fast vier Jahren wieder vor mir, diesmal im Konferenzraum des Gästehauses der Franziskanerinnen Thuine bei Lingen. Die Gewaltvorwürfe, mit denen ich die Generaloberin 2017 konfrontiert hatte, hatte sie damals noch als zeittypisch strenge Erziehung bezeichnet, ohne zu wissen, woraus diese bestanden habe. Man täte den ehemaligen Kinderkurheimen unrecht, glaubte sie.
Vergewaltigungsvorwürfe auf Opfer-Webseite
Inzwischen habe sie die knapp 300 Schilderungen gelesen, die ab 2010 auf der Website des Netzwerks B für Opfer von Gewalt eingetragen wurden. Es sind Reaktionen auf einen Post der Bochumerin Gabriele Pypker, die dort 2010 behauptet hatte, der Suizid ihres Lebensgefährten Daniel B. 2009 sei die Folge einer Vergewaltigung als Vierjähriger im Kurheim Sankt Johann in Niendorf an der Ostsee. Für Pypkers Vorwurf gebe es keine Belege, sagt die Generaloberin, aber für einen anderen Vorwurf des sexuellen Missbrauchs aus dem Forum:
"Der war mir im letzten Interview noch nicht zur Verfügung, weil er erst später eingetragen worden ist. Da geht es um einen sexuellen Missbrauch in den 80er-Jahren, der einem Erzieher zur Last gelegt wird. Gegen diesen Erzieher habe ich inzwischen Strafanzeige erstattet. Was die Kinder sagen, habe ich als Grundlage für die Strafanzeigen genommen."
Der einzige Vorwurf dieser Art in dem Forum stammt aus dem Jahr 2015 – stand ihr also schon beim letzten Interview zur Verfügung. Darin behauptet ein User namens Marco, von einem Mitarbeiter in Sankt Johann in den 1980er-Jahren sexuell missbraucht worden zu sein. Anhaltspunkte zum Täter und den Kindern, von denen sie spricht, will sie nicht geben. Über das Netzwerk B erreiche ich den User "Marco" nicht.
Der angezeigte Mitarbeiter kann laut Cordis-Reiker nicht Daniel B.s Täter sein, der 1975 dort war, weil er erst in den 1980ern in Sankt Johann tätig war. Ich frage sie: "Aber möglicherweise könnte es sein, dass auch andere Erzieher/Erzieherinnen ja, die Situation ausgenutzt haben. Und sowas auch Daniel B. hätte passieren können."
Schwester Maria Cordis Reiker: "Das entzieht sich meiner Kenntnis."
Erst nach meiner Berichterstattung will der Orden Missstände in ehemaligen Kurheimen aufarbeiten, bietet Gespräche mit Betroffenen an. Auch die Diakonie hat inzwischen Schuld an Misshandlungen in Kinderkurheimen eingestanden. Aber auch erst nachdem drei Todesfälle von Kindern im Kinderheim Waldhaus öffentlich bekannt wurden.
Brutale "Erziehung" im Bahn-Sozialwerk
Über das Bundesbahn-Sozialwerk waren in den 1960er-Jahren mein Vater und meine Tante in ein Heim auf Sylt verschickt worden, wo sie Zwangsernährung, Isolationsstrafen und sexuelle Belästigung erlebt haben. Brutale Erziehung schildert auch eine andere Betroffene über ein BSW-Heim im Online-Forum der Initiative "Verschickungskinder". Ich schicke der Stiftung Bahn-Sozialwerk die Berichte und frage nach einer Liste ehemaliger Kurheime. Schon 2017 hieß es dort, es gebe keine Daten. Im Oktober 2020 schreibt Christiane Schwab-George, Leiterin Leistungen und Produkte der Stiftung Bahn-Sozialwerk:
"Die Stiftung Bahn-Sozialwerk (BSW) in ihrer heutigen Rechtsform als privatrechtliche Stiftung gibt es erst seit ihrer Gründung 1997. Wir können zu der Zeit davor keine Angaben machen. Bitte sehen Sie dahingehend von weiteren Anfragen dieser Art ab, wir werden diese auch nicht mehr beantworten."
Die Pressestelle der Deutschen Bahn antwortet, dass die Berichte schrecklich, aber Unterlagen nur im Bundesarchiv zu finden seien. Auf meine Anfrage dort: bislang keine Antwort. Die Deutsche Bahn nennt mir aber zwei Schriften aus den 1970er- und 80er-Jahren, die ich bestelle. Darin finde ich die allererste Liste von zehn BSW-Kinderkurheimen, die schon ab 1904 gebaut wurden – also nicht erst im Nationalsozialismus, wie oft vermutet wird. Ab den 1930ern sei die Nachfrage gesunken, steht dort:
"Selbst bei voller Auslastung konnten die Häuser nicht rentabel betrieben werden. Nun stieg die Verschuldung noch stärker an. Mit der Einweisung von Müttern, Kindern und Lehrlingen zu Kuren versuchte man, die wirtschaftliche Lage zu verbessern."
Nach einer lukrativen Phase im Nachkriegsdeutschland, als viele Kinder wegen Mangelernährung zur Kur geschickt wurden, sei der Ansatz karitativer Fürsorge einem modernen Urlaubsangebot gewichen. Auch mein Vater wurde mit dem Versprechen nach "Erholung" zur Kur geschickt, ohne wirklich krank zu sein. Es ging also ums Wirtschaften, nicht darum, Bedarfe zu stillen.
Das einzige BSW-Kinderkurheim auf Sylt in der Liste erkennt mein Vater aber nicht wieder. Die Suche stockt weiter. Soviel Eigeninitiative, zumindest eine Heimliste für Journalisten oder Betroffene zusammenzustellen, zeigt die Deutsche Bahn nicht.
Albtraumkur im "Haus Hamburg"
Auch die Deutsche Angestellten Krankenkasse DAK hat früher Kindererholungsheime betrieben. Im Forum der Verschickungskinder hat sich eine Gruppe Betroffener kennengelernt, die alle im Haus Hamburg der DAK in Bad Sassendorf zur Kur waren. Sie laden mich in ihre Chatgruppe ein. Einige können sich nur noch dunkel, albtraumhaft an ihre Kuraufenthalte erinnern: So wie Anna, ein Pseudonym. Sie war mit sechs Jahren im Haus Hamburg zur Kur. Über ihren sechswöchigen Aufenthalt 1982 will sie erstmal nur schreiben:
"Gefühle, wie ständige Angst, Ausgeliefertsein, Verlassensein, Einsamkeit, Enge, Verzweiflung, Zwang und Ausweglosigkeit. Halte etwas von meiner Mutter in den Händen. Gehöre nicht mehr zu dem Leben, aus dem dieses Geschenk kommt. Ein furchtbarer Schmerz steigt hoch. Es bedroht mich. Mein Inneres kann es nicht aushalten."
Petra, die auch anonym bleiben will, hat inzwischen konkretere Erinnerungen an ihren mehrwöchigen Aufenthalt als Sechsjährige, im Haus Hamburg in den 1970ern:
"Ich kam wieder und hatte einen Sprachfehler. Ich konnte kein SCH mehr sprechen. Damals war es nur ein ganz großes Gefühl von Einsamkeit. Und erst 2009 sind Erinnerungen innerhalb einer Traumatherapie dann hochgekommen. Ich wusste auch noch, dass ich in dieser Kur krank gewesen war und ich war damals auf einer Krankenstation ganz alleine in einem Zimmer und wo dann ein Arzt reingekommen ist und mich mehrmals zum Oralsex gezwungen hat."
2011 wendet sie sich mit der Bitte um Informationen an die DAK. Die nennt ihr erst ein falsches Haus. In einem alten Dokument findet Petra, den richtigen Namen: Haus Hamburg. Die DAK antwortet: keine Daten. Ohne Anhaltspunkte zu dem Mann habe ihr die Kraft für eine Anzeige gefehlt:
"Weil ich keinen Namen hatte. Und weil doch Richter immer wieder auch gemeint haben: Ja, sowas erfinden sich Frauen. Weil ich einfach weiß, wie schwer es ist, dass einem geglaubt wird. Gerade wenn man nur Bruchstücke seiner Erinnerung wiederbekommt."
Zumindest wird ihr Antrag auf Unterstützung durch den Fonds für sexuellen Missbrauch bewilligt, an dem auch die DAK beteiligt ist. Petra fordert:
"Die Träger müssen sich entschuldigen. Von der DAK habe ich bislang überhaupt nichts bekommen, außer die Genehmigung, durch den Fonds für sexuellen Missbrauch Gelder dafür für weitere Traumatherapien zu verwenden. Aber eine Erklärung, was vielleicht in dem Heim mal passiert ist, oder eine Entschuldigung gab es bis dato nicht."
Auf meine erste Anfrage bei der DAK, ob Beschwerden über Kinderkurheime vorlägen und ob die DAK bei der Aufarbeitung mithelfe, die Tausende Betroffene heute fordern, erhalte ich zunächst als Antwort, dass es keine versichertenbezogenen Daten in den Archiven gebe, da die Aufbewahrungsfristen längst verstrichen seien. Ein Interview wird abgelehnt.
Missstände mit "systematischem Charakter"
Dann leite ich die albtraumhaften Berichte von Anna und Petras ganz konkrete Schilderungen über den Arzt weiter. Am 20. November bezieht der Pressesprecher der DAK, Jörg Bodanowitz, nun doch Stellung:
"Uns sind jetzt durch Ihre Recherche Beschwerden bekannt geworden. Aber es gab nur einzelne Verschickungskinder, die sich bei uns gemeldet haben, wir sind lange Zeit davon ausgegangen, dass es sich um Einzelfälle handelt. Durch die doch relativ eindrücklichen und schockierenden Schilderungen, die sie uns geschickt haben, und weitere Schilderungen, die wir jetzt recherchiert haben, ist uns klargeworden, wie groß die Missstände damals in diesen Einrichtungen waren, die systematischen Charakter hatten."
Der DAK lagen vor meiner Anfrage, einschließlich Petra, bereits fünf Betroffenenberichte vor. Da das Justiziariat Petras Fall vertraulich behandelt habe, habe die Unternehmenskommunikation bei meiner ersten Anfrage nichts davon gewusst.
"Das, was die Betroffene erlebt hat, das ist ja unglaublich schrecklich und das ist völlig klar, dass ein Mensch sein Leben lang unter solchen Erlebnissen leidet. Der Täter, der sich damals an ihr vergangen hat, wird ja sicherlich kein Täter gewesen sein, der das nur einmal gemacht hat, weil man davon ausgehen kann, dass solche Täter Wiederholungstäter sind, gerade wenn sie sich sicher fühlen. Wir sind auch darauf eingestellt, dass sich weitere Opfer dieses Arztes bei uns melden werden."
Die DAK wolle jetzt gemeinsam mit den Betroffenen Licht ins Dunkel bringen, sagt Bodanowitz, und auch einen Ansprechpartner für Betroffene mit psychologischer Ausbildung einstellen. Petra erhält eine Entschuldigung im Namen der DAK-Geschäftsleitung. Und ein Gesprächsangebot. Sie ist froh über die Anerkennung. Hofft auf ehrliche Aufarbeitungsabsichten.
Wegen Verjährung wird der Täter aber nicht mehr zu belangen sein, und die Folgen für ihr späteres Leben: die sind nie wieder gut zu machen. Petra:
"Ich glaube, das hat mir ganz viel Freude genommen im Leben. Lebensfreude! Und auch Vertrauen in andere Menschen."