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Traumarbeit
Der Initiationstraum - Die Barbaren kommen (2/2)

In einem zweiteiligen Essay untersucht Ursula Krechel Mythologie und Bedeutung von sogenannten Initiationsträumen. Nach einem Jahrhundert der Erforschung des Unbewussten ein panoramatischer Blick zurück in die Zeit, als Träume noch etwas bedeuteten.

Von Ursula Krechel |
    Man sieht den auf den Boden gebogenen Zaun im Morgengrauen; er wird von einem Scheinwerfer aus dem Eurotunnel-Gelände angestrahlt.
    Der Initiationstraum des offenen Erdteils Europa? (AFP / PHILIPPE HUGUEN)
    Der Initiationstraum will gedeutet werden. Er bietet sich förmlich einer Deutung dar. Er ordnet die Welt auf eine sinnfällige, befriedigende Weise. Auch deshalb wird er im Gedächtnis behalten, weit über den Tag hinaus. Der Initiationstraum ist nie wirr, unklar, undeutliche Träume werden nicht als lebensgeschichtlich bedeutsam begriffen. Man könnte die Initiation als eine Zeit des Übergangs, eine Zeit der persönlichen oder historischen Wende bezeichnen, etwas Neues, Unbekanntes beginnt, ein Lebensalter, eine Stufe, eine soziale Situation muss unverhofft unter anderen Bedingungen gedeutet werden.
    (Produktion Deutschlandfunk 2006)
    Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Sie lebt in Berlin. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach Gedichtbände, Prosa, Theaterstücke, Hörspiele und Essays. Vielfache Auszeichnungen für ihr Werk, zuletzt wurde Ursula Krechel 2012 für ihren Roman "Landgericht" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

    Träume von Mächtigen und von Philosophen
    In den alten Gesellschaften in Rom, am Hofe des Pharao war der Traumdeuter ein ehrenwerter und angesehener Berater. Die Mächtigen träumten, ihre Träume wurden überliefert oder in einer langen Überlieferungstradition narrativ ausgeschmückt. Man könnte geradezu von einem Traumprivileg der Mächtigen in den alten Kulturen sprechen. Von Julius Caesar ist ein Traum überliefert, den er in der Nacht vor dem Übergang über den Rubikon geträumt hatte.
    Ein "gräulicher Traum: es kam ihm vor, als wenn er unnatürlicher Weise seine Mutter beschliefe."
    Auch von Kaiser Caligula und von Nero sind Träume überliefert, deren Eindeutigkeit nichts zu wünschen lässt: Träume der Initiation in die Ausgeschlossenheit, den kalten Karzer der Macht, Initiationen in die Geschichte der politischen Verbrecher, alle diese Träume sind von Sueton überliefert worden. Sein literarisches Hauptwerk sind die "Kaiserbiographien", eine chronique scandaleuse des römischen Imperiums.
    "Kaiser Caligula. 23. Januar 41 n. Chr. Am Tage vor seiner Ermordung hatte er einen Traum. Ihm war, er stehe im Himmel neben dem Throne des Zeus und werde vom Gott mit der großen Zehe des rechten Fußes fortgestoßen und auf den Erdball hinabgeschleudert."
    Es verbietet sich von selbst, nach der Authentizität antiker Träume zu fragen, sie transportieren Traumsymbole, Stimmungen, Charakteristiken der träumenden Gestalten. Immanuel Kant berichtet von einem Traum, in dem er mit der Nachtmütze auf dem Katheder stand, kläglich, unausgeschlafen, ein Bild, als wäre alles, was der Begründer der idealistischen Philosophie geleistet hat, nur eine Vorstufe, die erst im "angezogenen", morgendlich adäquaten Habit des Professors zuende geführt, zuende gedacht werden könnte, ein Ungenügen an sich selbst. Eine Scham wird in diesem rührenden Traum offenbar. Er ist eine spezifische Variante des Traums, den viele Menschen — unabhängig von ihrem persönlichen Lebenserfolg — kennengelernt haben und fürchten. Es sind Träume, noch einmal im Abitur vor einem weißen Blatt zu sitzen und eine Mathematikaufgabe grundsätzlich nicht zu begreifen, noch einmal wie ein jammervoller Mehlsack an einem Reck zu hängen und nicht den winzigsten Schwung zu schaffen, während rundherum die feixenden, körperlich überlegenen Mitschüler Spott und Hohn ausgießen. Es sind Träume der Initiation in die menschliche Fehlbarkeit, nobody is perfect. Aber es ist schmerzhaft, die lächerlichen Makel und Unfähigkeiten von neuem zu spüren, als wären sie weltbewegend.
    Politikerträume
    In seinem im Jahr 2000 veröffentlichten Tagebuch notiert Kurt Biedenkopf einen Traum. Es ist ungewöhnlich, dass Politiker heute Träume publizieren, denn der Traum könnte etwas offenbaren, das ihrem Image oder ihrem politischen Ansehen schaden und daher ihren inneren Aktionsradius einschränken könnte, sie in einem Licht erscheinen lassen, das ihnen abträglich ist. Er könnte etwas von ihnen zeigen, an das sie selbst nicht gedacht hatten, als sie den Traum notierten. Eine dunkle Kehrseite, eine mögliche Interpretation, für die ihre im Alltag tüchtigen Berater wahrhaftig keine Medienkompetenz entwickeln konnten. Der Politiker muss wachsam sein und handeln, zumindest muss er seine Handlungsfähigkeit vorweisen. Dazu gehört das Träumen ganz und gar nicht, im Zweifelsfall hat der Politiker "Visionen" von blühenden Landschaften oder einer Brücke über das Elbtal.
    "Gegen Morgen hatte ich einen merkwürdigen Traum. Wir wohnten in unserem Haus am Chiemsee; der Garten war ähnlich wie in Wirklichkeit, aber weitläufiger."
    So beschreibt Biedenkopf seinen Traum, den er in der Wiedervereinigungszeit, genau am 12. September 1990, datiert.
    "Am hinteren Gartentor standen einige Menschen brauner Hautfarbe. Sie hatten das Tor geöffnet, zögerten aber, in den Garten einzudringen, Plötzlich kamen weitere Menschen in weißen Gewändern, zum Teil mit Turbanen oder weißen Kopfbedeckungen. Sie warfen Abfall in den Garten, zum Teil in zerbeulten Behältnissen. Eines dieser Behältnisse flog in die Nähe des Hauses und fing an zu brennen. Die Menschen fingen an, in den Garten einzudringen. Ihnen voran kam ein kräftiger, groß gewachsener Mann mit weißem Turban und weißem Gewand auf mich zu. Er hielt einen schweren Gegenstand in der Hand, mit dem er mich offenbar angreifen wollte."
    Man könnte diesem Traum den ganz und gar nicht tiefenpsychologisch gemeinten Titel geben: Die Barbaren kommen. Jemand träumt vom Ende des Privilegs, ein Haus mit einem Zaun und einem Garten zu haben, weitläufiger als in Wirklichkeit. Und das Haus, das ich zufällig von Spaziergängen her kenne, hat tatsächlich eine wunderbare, Neid erregende Lage in einer Gegend mit strengen Bauauflagen, die möglicherweise ein CDU-Politiker, mit Freundschaften, Seilschaften zu CSU-Politikern leichter umgehen konnte als ein Normalbürger. Der Politiker träumt von der Masse derer, die am Zaun stehen, "ante portas", denen mit hungrigem Blick, und auf der anderen Seite sind die, die überwältigt werden, vielleicht solche, die Angst haben, ihre Privilegien zu verlieren, wie der Garten, das Haus über dem schönen See, das Gartentor mit der Videoanlage, das vor unliebsamen Besuchern schützen soll. Es ist ein Träumen in der Festung. Nur: dass die Festung ausschließlich denen, die draußen stehen, als solche erscheint. Doch denen, die in ihr geschützt sind, erscheint sie als komfortable, mit Recht erworbene, erarbeitete Normalität. Aber interessant und gleichzeitig in die Ferne des 21. Jahrhunderts zeigend ist ein Traumeinfall, der 1990 vielleicht nur exotisch oder sonderbar schien:
    Die unheimlichen, unerwünschten Ankömmlinge tragen Weiß, es ist die Farbe der Unschuld. Es ist die Farbe, die durch äußerste Sorgsamkeit rein erhalten werden muss. Auf rührende Weise sticht sie von der Hautfarbe der Ankömmlinge ab. Nur wo häufig und langwierig gewaschen werden kann, bleibt das Weiße weiß. Sieht man Bilder aus Schwellenländern, Bilder aus Slums, so wundert man sich immer, wie ein strahlendes Weiß Autorität und Selbstsicherheit vermittelt.
    Der Mann mit dem Turban, ein würdiger Greis, ein Diplomat, ein Vermittler zwischen den höchst gegensätzlichen Kulturen, den Hausbesitzern mit Gartenzaun und den braunen Migranten, die da sehnsüchtig, drohend, allein wegen ihrer Gegenwart, vor der großbürgerlichen Gewissheit verharren: eben er ist es, der den gefährlichen Gegenstand in den Garten wirft. Es ist die Zentralgestalt der Sorge in diesem Traum, der das Trauma der puren Anwesenheit der unerwünschten Ankömmlinge auf elegante Weise umschifft. Und der Träumer hat die instinktive Gewissheit: Dies ist nur der Anfang, die Mauer ist gefallen, Grenzen im Südosten sind nicht mehr vorhanden. Wo Ostdeutsche kamen, können Albaner, Kurden, Schiiten, Sunniten, Menschen aus Marokko, von der Elfenbeinküste, aus Kasachstan, Turkmenistan kommen. Die berüchtigten Visumsempfänger aus der Deutschen Botschaft in Kiew, sie sind nicht einmal braun, sondern weizenblond, sie stehen vor keinen Gartenzäunen. Sie alle kamen ja auch, und sie kommen weiter, und wir heißen sie nicht willkommen, die Genfer Konvention ist kein Gartentor. Die Türen und Tore sind geschlossen.
    Biedenkopf träumt seinen Traum in einen Zeitraum, der kaum länger als eine Schwangerschaft nach dem Mauerfall zurückliegt. Die ersten Trabi-Besitzer, die weit in die westliche Gewissheit vordrangen, wurden an den Gartenzäunen begrüßt, Bananen und Schokolade wurde gereicht, aber sie wollten schon Videorecorder, unverständlicherweise, Verbindungsstecker zwischen dieser Welt und einer anderen, und Artikel aus den Sex-Shops, von denen sie, als sie sie gekauft hatten, hoffentlich nicht allzu enttäuscht waren. Kurt Biedenkopfs Traum ist ein Initiationstraum in ein anderes Zeitalter, die persönlichen Anteile daran sind in kollektive umzuwandeln. Der Politiker ist — hier in diesem Traum überaus deutlich — der Repräsentant kollektiver Ängste.
    Flüchtlinge als Traumgestalten
    Wenn damals — 1990 — die Angstfarbe des Traums "braun" hieß, so sind zehn Jahre später schwarze Menschen gekommen und kommen weiter, die Grenzen sind offen, und die Angstträume haben sich nicht mehr so rasch anpassen können. Oder: hätten sie sich angepasst, sie wären einen Schritt zurück in die Eigenzensur gegangen. Wo Menschen wegen ihrer Hautfarbe mit dem Tod bedroht werden, träumt es sich nicht gut von der Bedrohung durch ebendiese bedrohten Menschen. Rechtsradikale Jugendliche äußern sich nicht über ihre Trauminhalte. Wo Fidschis geklatscht wurden, die doch eine eigenständige Kultur hatten, überlagert von kolonialen Kulturen, die versunken sind in einer neuen Unwissenheit oder in einer Erinnerung, von der wir nichts wissen, wo es keine Erfahrung und erst recht keine Neugier auf Menschen mit anderen Biographien gibt, versandet jedes Interesse, mutiert zu einer diffusen Angst am Gartenzaun. Unrat wird geworfen, Feuer wird entzündet, das eigene Terrain, das man sich augenblicklich von Gartenzwergen bewehrt vorstellen muss — ungeeigneten Helfern im kollektiven Umbruch — wird im Traum ein schier hypertrophes Gebilde, ein Territorium, dem eine Art von privater Landesverteidigung zusteht. Vielleicht macht das die Verlustangst im Traum aus, die auf kluge Weise in der Schwebe gehalten wird.
    Doch im Traum gibt es wie in Musikstücken eine Dominante, das ist hier eine Farbe, und diese Farbe ist: Weiß. Man könnte vermuten, die Farbe Weiß hätte im weitesten und vagesten Sinne mit Unschuld, mit einer offenen, zu beschreibenden Fläche zu tun, dem weißen Papier, dem unberührten, tiefen bayrischen Schnee, und so ist es ja auch.
    Die andrängenden Menschen kommen, sie haben zunächst nur eine Hautfarbe, nämlich braun, und dann treten die Ordnungsmächte des Braunen auf, und die sind weiß, eine sakrale Farbe, eine unbewusste Leerstelle. Das Weiß, das auch zwischen den Fronten verstanden wird als eine Farbe der Nicht-Kombattanten, eine Farbe des sich-Ergebens, sie muss geachtet, muss von dem zivilisierten europäischen Träumer mit dem Haus über dem schönen See verstanden werden. Das Weiß, von dem er alle historischen Konnotationen kennt, das Kulturen und zivilisatorische Stufen verbindende Weiß, mäßigt und lähmt ihn zugleich, mildert die "automatische" Fremdenfeindlichkeit. Der Träumer ist befangen, gefangen in seiner eigenen kulturellen Wahrnehmung der Farbe Weiß, in seiner Zivilisations-Erfahrung, die auch eine überpersönliche Initiations-Erfahrung ist.
    Ein anderer Traum: "Jacob, Menachem und Mimoun. Ein Familienepos" nennt der französische Schriftsteller marokkanisch-jüdischer Herkunft, Marcel Bénabou, ein faszinierendes Buch, das 2004 auf Deutsch erschienen ist. Er geht der Geschichte seiner Vorfahren nach, erfindet sich längst vergangene Vorfahren und beschreibt gleichzeitig, warum es ihm nicht möglich ist, ein Familienepos mit all den ihm innewohnenden Konventionen zu schreiben, das Projekt selbst, seine gigantisch angelegten Dimensionen, die Lächerlichkeit, ja Unmöglichkeit, sich in vergangene Gestalten einzufühlen, spielen eine große Rolle. Bénabou ist 1939 geboren, als Student kam er nach Paris, zwei Kulturen haben sich in seinem Schreiben produktiv amalgamiert, die fromme jüdische und die aufgeklärte westliche jenseits der Religionen, und so wurde er auch Teil der Zerstreuung, Zersetzung der jüdischen Gemeinde durch Assimilation, eines Schubs der Modernisierung. Von der Auslöschung der europäischen jüdischen Gemeinden, die traumatische Auswirkungen auf alle jüdischen Gemeinden hatte, spricht er nicht. In seinem wunderbar reichen Buch gibt es einen einzigen Traum, mit Fug und Recht kann man ihn einen Initiationstraum nennen. Marcel Bénabou selbst nennt ihn "einen Albtraum, der so tief in mir saß, dass er mich später noch, im Laufe der sechziger Jahre, mehrmals heimgesucht hat. Zu diesem Zeitpunkt, den ich leider nicht mehr datieren kann, habe ich ihn niedergeschrieben."
    "Aus einem Grund, der mir jetzt entfallen ist, gehe ich durch die Medina. Oder genauer: Ich komme aus dem Stadtteil Beni-M’hamed und gehe hinunter Richtung neue Mellah. Ein paar Araber, ausschließlich Männer, folgen mir schweigsam. Ich gehe und schaue mich hin und wieder um, um zu sehen, wie viele es sind. Es werden immer mehr, und ich versuche, immer schneller zu gehen. Mir versagen die Beine. Sie stecken immer tiefer im Boden, verschmelzen mit ihm, verschwinden schließlich ganz. Die Menge der Araber steht um mich herum. Manche lachen und zeigen mit dem Finger auf mich. Ich bin zu Tode verängstigt. Plötzlich taucht jemand auf, der kein Araber ist - ein Jude, ein Europäer? Ich will auf ihn zu rennen. Unmöglich. Ich versuche zu schreien, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Kein Laut entfährt meinem Mund; er ist hart wie Holz. Ich fuchtele mit den Armen, die immer schwächer werden. Der Mann verschwindet, ohne mich gesehen zu haben. Ich schwitze. Mir bleibt nur noch die Hoffnung, dass sich in der Menge jemand findet, der meine Familie kennt, der mich wiedererkennt. Das Gerede um mich herum wird immer lauter. Ich versuche, um Hilfe zu schreien. Kraft einer mir übermenschlich erscheinenden Anstrengung schaffe ich es, sehr undeutlich allerdings, so etwas wie "Mama" zu schreien. Schweißgebadet öffne ich die Augen. Ich brauche einige Zeit, bevor ich begreife, dass mein Albtraum zu Ende ist."
    Der Traum von der arabischen Aggression weist zurück in die Geschichte der Verfolgung von Juden, und er eröffnet hellsichtig und weitsichtig einen Blick auf den Konfliktherd des Nahen Ostens nach der Gründung des Staates Israel, auf das Immerwährende, Konstitutionelle der Geschichte zwischen Arabern und Juden.
    Der Traum von den anrückenden Fremden ist in einer globalisierten Welt mit offen gewordenen Grenzen längst Wirklichkeit geworden. Drinnen und Draußen, das ist auch eine Frage der Perspektive: Das billige T-Shirt reist von Thailand ins Kaufhaus in Essen-Steele, aber die Näherin des T-Shirts soll an ihrer Maschine mit krummem Rücken sitzen bleiben. Der Käufer und Träger des T-Shirts reist mit einem Billigflug an einen weißen Strand in Thailand, er exportiert einen weißen Körper und träumt von seiner eigenen Bräunung, führt sie tatkräftig mit einer arbeiterhaften Emsigkeit in die Wege, schmiert und massiert Öle und Cremes auf die weiße Oberfläche der europäischen Fleischmasse, er arbeitet an der Verwandlung in einen Urlaubskörper.
    Eine paneuropäische Zukunftsvision
    Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk schrieb vor ein paar Jahren eine paneuropäische Zukunftsvision, die die Süddeutsche Zeitung veröffntlichte:
    "Der Plan sieht ungefähr so aus: Die Zigeuner werden mit ihren Wagen mitten auf den Champs Elysées ihre Lager aufschlagen; halbwilde Ukrainer gründen vor den Toren Mailands ihre misogynen Kosakeneinheiten, besoffene Polen verwüsten die Weinberge an Rhein und Mosel; und Slowenen und Slowaken geben sich als Bewohner Slawoniens aus und treiben die Computersysteme der EU zur Verzweiflung."
    Was Stasiuk sich ausmalte, sind die klischeebehafteten Ängste von uns Alteuropäern: die Fremden stehen am Gartenzaun, rütteln am Gartenzaun, zünden ein Feuer an auf unserem Parkett, die Barbaren kommen, wir fürchten uns vor ihnen, die Großmütter haben die Wäsche von der Leine genommen und um drei früher einmal gestohlene Betttücher gebangt. Wir haben keine derart direkten Verlustängste, aber doch die Gewissheit, dass die Menschen an den Gartenzäunen ein Menschenrecht auf ein unversehrtes Leben haben und auf die dringlichen Lebensnotwendigkeiten, und sei es in der Selbstverständlichkeit der Menschenrechtskonvention. Und wir heißen die Ankömmlinge, die wir nicht mehr Barbaren nennen — und zwar in einer gelungenen Selbstzensur — nicht willkommen, verkriechen uns in unseren diffusen Ängsten.
    Der Initiationstraum des offenen Erdteils Europa heißt: die Fremden lungern am Gartenzaun, sie benehmen sich schlecht. Die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts heißt: sie wollen eine Lebensperspektive zu Lebzeiten und nicht irgendwann, und sie wollen Arbeit zu einem angemessenen Lohn.
    Ich steige aus einem Zug und habe unglaublich viel Gepäck bei mir. Es ist die Endstation des Zuges, und deshalb glaube ich, einigermaßen viel Zeit für das Aussteigen zu haben, dem ein Umsteigen auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig folgen soll. Ich bin allein, niemand hilft, das habe ich auch nicht erwartet, obwohl viele Menschen auf dem Bahnsteig sind. Zuerst hebe ich das schwerste und am schwierigsten zu tragende Gepäckstück aus dem Zug. Es sind zwei Plastiksäcke mit Blumenerde. Damit ich sie besser tragen kann, habe ich sie vor der Reise mit Klebeband wie zwei siamesische Zwillingssäcke zusammengeklebt, ich habe auch aus Klebeband eine Trageschlaufe geformt, das schien mir vernünftig.
    Aber beim Aussteigen reißt oder verrutscht die Schlaufe, das Klebeband klebt nicht so fest; ich muss die beiden Säcke doch einzeln transportieren und hieve sie in den nächsten Zug auf dem Gleis gegenüber. Als ich das geschafft habe, wende ich mich um. Der schwere Koffer und die Reisetasche sind noch in dem Zug, der mir jetzt vorkommt wie ein Güterzug, ein Deportationszug, doch ich kann mich nicht an die Mitreisenden erinnern, das ist mein Fehler. Im Augenblick des Umwendens stößt der Zug zurück, er rangiert und verlässt langsam das Bahnhofsgelände.
    Glücklicherweise steht ein Schaffner auf dem Bahnsteig, ich schildere ihm mein Missgeschick, der Zug ist mit meinem Gepäck davongefahren, doch Koffer und die Reisetasche können noch nicht verloren sein, alles muss registriert werden. Der Schaffner reagiert, als wüsste er von meinen vielen Aufbrüchen und Reisen im realen Leben. Das Gepäck sollte doch zu Frau Dr. Xang geschickt werden, aber Frau Dr. Xang wäre schon nach Peking aufgebrochen, sagt er. Was wollen Sie nun tun? Ich bin verzweifelt und entsetzt, ich habe zwei Säcke Blumenerde, aber kein persönliches Gepäck, nicht einmal eine Zahnbürste, und stehe da, stehe noch da, während ich aufwache."
    Traum von Erde als Heimat
    Ich träumte diesen Traum an einem Stipendienort, kurz vor meiner Abreise mit einem Gepäck von drei Monaten, ich fuhr aber nicht nach Hause, sondern war noch einmal zwei Wochen unterwegs. Die erste Aufgabe, die mich — endlich zuhause — erwartete, war die Besorgung eines Visums für eine nächste Reise. Ich verstand den Traum von der Blumenerde als eine Initiation in das unruhige Wanderleben, einen Vorschlag, das Persönliche, das Gepäck, verschmerzen zu lernen, und wenn es nach Peking reiste zu Frau Dr. Xang. Ich stand hier mit der Erde und einem nicht übermäßig hilfreichen Schaffner. Viele Auswanderer haben in früheren Zeiten ein Säckchen mit Heimaterde mitgenommen, es war ein kostbares Gut, zu nichts Wirklichem nutze, nur als eine Versicherung, ich bin mit meiner Herkunft verbunden.
    Von außen gesehen, bin ich nichts anderes als eine Migrantin in den früher zitierten Träumen, ich stehe nicht am Gartenzaun, aber am Gate, an der Gepäckaufgabe, auf zugigen Bahnsteigen. In diesem Traum bin ich eine fremde Pflanze, entwurzelt, nicht einmal einen Ballen Muttererde habe ich, und wie eine exotische Pflanze brauche ich, wenn ich verpflanzt werde, Erde aus dem Blumengeschäft, zwei Säcke zum Vorrat, Spezialerde, vorpräpariert, gut gedüngt, gut durchlüftet, als traute ich fremder Erde nicht. Ich habe diesen Traum verstanden als eine Initiation in das Wanderleben, omnia sua mecum portans, ich trage alles mit mir, was ich brauche und noch mehr, meine Vorstellung vom zu Schreibenden, meine Geschichte — und die Blumenerde, das scheinbar Unnötige ist das Wichtigste.
    Und ich erinnerte mich auch dunkel an eine Erzählung von Leo Tolstoi, die ich einmal vor langer Zeit gelesen hatte: "Wieviel Erde braucht der Mensch?" In dieser Erzählung wird einem Siedler oder einem Neubauer gesagt, er könne so viel Land haben, wie er an einem Tag gehend umrunden könne. Der Mann geht und geht, mit großen Schritten ohne Unterlass. Er hastet, er rennt, er ist begierig, sich einen möglichst großen Besitz anzueignen, und dann am Abend bricht er tot zusammen und muss begraben werden. Man kann diese Erzählung als eine Parabel von der Habgier lesen oder als einen sozialrevolutionären Appell gegen Großgrundbesitz. Die etwas säuerliche Moral der Geschichte, die eher eine Legende vom einfachen Leben ist, hieß: Der Mensch braucht nur so viel Erde, damit sein Körper nach seinem Tod bedeckt wird, so viel Erde, dass sie für seinen Sarg ausreicht.
    Nun habe ich Frau Xang vergessen und den Schaffner, auf den ich im Traum ärgerlich war, und mein Gepäck im Zug allemal. Doch eben dieses Vergessenkönnen, die offene Fläche des Zukünftigen, das auch Angst macht und eine Scham hinterlässt, scheint mir in allen Initiationsträumen das Wesentliche zu sein. Aber es könnte sein, dass der Traum von einer individuellen Initiation am Beginn des 21. Jahrhunderts ausgeträumt ist. Dass nicht nur das Unterwegssein globalisiert worden ist und die Ängste vor der Entwurzelung, sondern dass der Traum selbst nicht mehr individuell geträumt werden kann, vielleicht nur noch in seinen Draperien und seinen spezifischen Umständen. Dass auch die sinnerfüllte, raumzeitliche menschliche Gegebenheit, zu der der Initiationstraum führte oder von dem der Träumer sich Führung erwartete, ausgeträumt ist. Wie Walter Benjamin Ende der zwanziger Jahre seinen Essay "Traumkitsch" mit einem Aplomb begann: "Man träumt sich nicht mehr von der blauen Blume." Man träumte sachlich, und es könnte sein, dass die ins Zentrum eines Individuums zielenden Überlegungen zur Initiation an ein Ende gekommen sind, das noch gar nicht abzusehen ist. Träume, die nicht mehr individuell verankert sind, sind nicht automatisch archaische Träume – in diesen war eben überaus deutlich, dass der Traum eine allgemeinverständliche Geste haben musste. Wer mit der Mutter im Traum schläft, hat eine allgemein anerkannte Grenze überschritten, also ist der Inzest ein Rubikon, und die Überquerung des Flusses in Feindesland ist wie die Übertretung eines Sittengesetzes, das in fast allen Kulturen verankert ist. Das Träumen, das nicht mehr individuell ist, ist doch gleichzeitig nicht archetypisch im Sinne von C. G. Jung. Doch was ist es dann? Der Traum ist medial geworden, was der einzelne im Traum erlebt, ist eine Erzählung, deren Faden er nicht mehr in der Hand hat. Er hat sich selbst nicht mehr in der Hand, ruft klagend und unangemessen nach der Mutter und hält sich an einem Sack mit Blumenerde fest.
    Die Psychoanalyse geht heute von einer Mitteilungsfunktion des Traumes aus, im Gegensatz zu dem Freudschen Verdikt: "Der Traum ist an sich keine soziale Äußerung, kein Mittel der Verständigung." Der Traum stiftet eine Identität, die dem Träumer gehört, aber nicht nur ihm. Der Traum stiftet Geschichte und greift erzählend, Bilder entwickelnd in die Geschichte ein. Aber die Geschichte des Traums ist noch nicht geschrieben, viel weniger noch die Geschichte des Initiationstraums, der das träumende Individuum am Morgen in die Gesellschaft entlässt.