Trauma-Therapeut Georg Pieper hält einen Zettel mit aufgemaltem Fieberthermometer in der Hand. Nachdem eine Seminarteilnehmerin ein für sie traumatisches Erlebnis geschildert hat, lässt er sie auf der Skala des Thermometers einstufen, wie schlimm sich das Erzählte angefühlt hat. Beim Verein für Kinderhauserziehung im hessischen Bensheim sind an diesem Tag insgesamt 20 Pädagogen versammelt. Sie wollen lernen, wie sie traumatisierten Flüchtlingskindern helfen können, denn in ihrem Berufsalltag sind sie regelmäßig mit auffälligen Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Während der Raucherpause vor der Tür des Seminarhauses berichtet Teilnehmer Patrick Weyrich von seinen Erfahrungen mit minderjährigen Flüchtlingen:
"Die kommen bei uns an und zeigen uns oftmals ihre Narben. Und ich hole mir dann meist erst mal einen Atlas und geh' mit ihnen die Geschichte ein bisschen durch, was passiert ist. In welchem Land sie waren – oft ja auch im Gefängnis in Libyen. Die können nicht schlafen, die haben Angst vor Dunkelheit und deren Narben sind oft extrem. Da sieht man richtig, da ist tief mit dem Messer reingestochen worden. Das sind so die Momente."
Posttraumatische Belastungsstörung bei bis zu 70 Prozent der Flüchtlinge
Die Suche nach einer geeigneten Therapie für die Betroffenen gestaltet sich oft schwierig. Es gibt einfach nicht genügend Plätze in Deutschland. Dabei ist der Bedarf riesig. Nach Schätzungen von Psychologe Pieper leiden mehr als die Hälfte der männlichen und bis zu 70 Prozent der weiblichen minderjährigen Flüchtlinge unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Geschulte Lehrer und Pädagogen können ihren Schützlingen helfen, mit den Traumata umzugehen statt sie zu verdrängen. Nur so könnten Folgeprobleme vermieden werden, warnt Pieper:
"Sei es in die Richtung, dass diese Traumatisierten, die keine Behandlung erfahren haben, depressiv werden, sich zurückziehen, arbeitsunfähig und krank werden oder sei es, dass sie nach außen agieren, aggressiv werden, auch leichte Beute vielleicht werden für Extremisten."
Piepers Selbsthilfe-Programm für Pädagogen liefert Handwerkszeug um gegenzusteuern. Das Konzept geht grundsätzlich davon aus, dass Betroffene stärker leiden, wenn sie Erinnerung an Krieg und Gewalt verschweigen oder schönreden. Denn ihre Erinnerung sitzt tief und kehrt in Träumen wieder, wird durch Geräusche und Gefühle erneut geweckt. Stattdessen müssten sich die Schüler dem Erlebten stellen, in dem sie es aufschreiben, aufmalen und erzählen. Dabei dürfe auch der Schrecken nicht ausgeblendet werden:
"Wir müssen den Lehrern den Mut geben und so viel Wissen geben, dass sie die Kinder darin begleiten können, sich wirklich den Schmerzen und das Schlimme genau anzuschauen", erklärt Pieper und liefert gleich die Erklärung mit: "Nicht um sie zu quälen, sondern, wenn wir das schaffen uns dieses schlimmen Dinge anzuschauen, gewöhnen wir uns daran. Es tritt ein Habituationseffekt ein."
Schlimme Erlebnisse teilen
Der Gewöhnungseffekt könne am besten in der Gruppe entstehen, so der Therapeut weiter. Er empfiehlt etwa drei bis vier Kinder mit ähnlichen Erfahrungen zusammenzubringen. Wenn alle sich kennen und Vertrauen entwickelt haben, sollen sie ihre schlimmen Erlebnisse teilen.
Dabei sollen sie auch immer wieder anhand eines Thermometers einzuschätzen, wie belastend die Geschichte auf einer Skala von 0 bis 10 für sie ist. Dieses Vorgehen in der Gruppe erziele den positiven Effekt, so Pieper, "das Gefühl zu bekommen, ich bin nicht alleine da, weil die anderen hatten auch eine schlimme Geschichte. Und es noch mal und noch mal und noch mal zu erzählen. Und dabei festzustellen, dass es jedes mal ein bisschen leichter und weniger belastend wird. Und das ist der Fortschritt, den wir erzielen können."