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Traumatisierte Polizisten

Albträume, Angstzustände, immer wieder Arbeitsunfähigkeit - nach dem Amoklauf in Winnenden kämpfen Polizisten und Kriminalbeamte noch lange mit Schwierigkeiten. Themen wie posttraumatische Belastungsstörungen sind noch Neuland bei der Polizei.

Von Caroline Wenzel |
    Aufwärmen vor dem Karatetraining. Ernst Kappel, weißer Karate-Anzug, Pferdeschwanz, 1,80 Meter groß, durchtrainiert, kämpft gegen einen unsichtbaren Feind. Ruhig und konzentriert. Beim Training kann er abschalten. Für einen Moment die Bilder loswerden, die ihn verfolgen.

    Kriminaloberkommissar Ernst Kappel ist mehrfacher Karate-Landesmeister. Ihn haut so schnell nichts um, dachte er immer. Aber nach dem Amoklauf von Winnenden ist er sich plötzlich seiner Verletzlichkeit bewusst geworden.

    "Durch 35 Jahre Karate übt man und trainiert man Extremsituationen. Angriff, Verteidigung, im sportlichen Rahmen natürlich. Und da fühlt man sich relativ gut gewappnet. Diesen Angriff auf meine Seele, der lautlos vonstatten ging, auf den war ich überhaupt nicht vorbereitet. Der hat mich aus heiterem Himmel getroffen. Und ich hatte kein Mittel dagegen."

    Manchmal scheint es ihm, als wäre es gestern gewesen. 15 Stunden war er am Tag des Amoklaufs im Einsatz. Nach dem flüchtigen Täter fahnden. Überlebende Schüler befragen. Und dann: Leichenschau. Verletzungen dokumentieren, Einschüsse zählen. Bis Mitternacht. Bilder, die er nicht mehr los wird. Auf der Rückfahrt vom Karatetraining erinnert er sich:

    "Es begann so nach zwei Monaten mit massiven Schlafstörungen. Die Träume begannen. Ich hab zu jeder Tages- und Nachtzeit die Bilder der Opfer vor mir gehabt. Dann habe ich sie nachts im Schlaf gesehen. Ich hab mich immer mehr zurückgezogen, auch von meiner Familie zurückgezogen."

    Albträume, Angstzustände, immer wieder Arbeitsunfähigkeit. Ernst Kappel wurde reizbar und aggressiv, kannte sich selbst nicht mehr. Nach ein paar Monaten ging er zum Polizeiarzt. Der konnte nichts anfangen mit seinen Schilderungen. Als Kriminalbeamter sind Sie den Umgang mit Leichen doch gewohnt, sagte er zu ihm.

    Posttraumatische Belastungsstörung, diese Diagnose stand erst später fest. Und zufällig erfuhr Ernst Kappel: Mehr als ein Dutzend Kollegen sind ebenfalls betroffen. Das Thema sei noch Neuland bei der Polizei, erklärt der Landespolizeipräsident Wolf Hammann.

    "Es hat mich sehr betroffen gemacht, dass jetzt Jahre nach diesem Amoklauf immer noch die Kollegen und Kolleginnen sehr heftig zum Teil unter diesen Verletzungen, die sie damals erlitten haben, psychisch leiden. Wir haben zwar Polizeiärzte, aber keine Spezialisten für Traumata, so dass wir immer wieder die Kollegen und Kolleginnen auch zu externer Hilfe schicken."

    Erst vor einem halben Jahr hat Ernst Kappel einen Platz bei einem Trauma-Therapeuten gefunden. Dreieinhalb Jahre nach dem Amoklauf. Warum hat es so lange gedauert, fragt er sich. Warum hat die Politik in Baden-Württemberg so spät reagiert? Der Amoklauf sei ein Ausnahmeereignis gewesen, meint – fast entschuldigend - Thomas Blenke, damals polizeipolitischer Sprecher, heute innenpolitischer Sprecher der CDU- Landtagsfraktion. Immerhin gebe es aber seit rund 15 Jahren sogenannte Konfliktberater bei der Polizei.

    "Es gibt in jeder Dienststelle, also in jeder Polizeidirektion im Land, solche Konfliktberater, die speziell auch darauf geschult sind, Kollegen, die dienstlich oder auch privat in spezielle Konfliktsituationen kommen, denen zu helfen. Mit der Situation fertig werden muss jeder im Prinzip selber dann am Ende."

    Ernst Kappel arbeitet immer noch bei der Polizei in Backnang. Allerdings macht er nur noch Schreibtischarbeit und manchmal Hausbesuche. Sachbearbeitung bei Rauschgiftdelikten. Keine Leichen, keine Sondereinsätze mehr. Immer wieder war er zeitweilig arbeitsunfähig. Zum Kampf gegen die Bilder von damals kam der Kampf darum, dass seine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit beamtenrechtlich anerkannt wird. Jetzt ist es wohl bald soweit - nach vier Jahren.

    "Dass es sich so hinzieht, das habe ich nicht auf dem Schirm gehabt. Wo es letztlich daran gelegen ist, dass es so lange gedauert hat, kann ich nicht sagen. Ich denke, es ist viel im Bereich der Verwaltung nicht optimal gelaufen. Ich hielte für die Zukunft ein System für notwendig, das auf die Betroffenen zugeht."

    Immerhin waren die Betroffenen jüngst zu ersten Gesprächen ins Innenministerium nach Stuttgart eingeladen. Der Landespolizeipräsident:

    "Es geht nicht nur darum, dass sie vielleicht nicht optimal therapiert worden sind, sondern dass es auch im Behördenwirrwarr verhältnismäßig schwierig ist. Wir haben beschlossen, dass wir künftig einen Ansprechpartner, einen sogenannten Fallmanager, für traumatisierte Kollegen installieren."

    Eine gute Idee, ein erster Schritt, findet Ernst Kappel. Aber er will mehr bewegen. Er wünscht sich bei der Polizei ein Notfallteam, das Betroffene wie ihn von Anfang an begleitet und berät.

    "Ich denke, dass dies die Möglichkeit wäre, damit eine schnelle Hilfe geschehen kann. Das bedeutet dann auch, dass so eine Ausprägung eines Krankheitsbildes unter Umständen gar nicht erst zustande kommt. Ich denke, der Aufbau eines solchen Notfallteams wird nicht große Kosten verursachen. Hier müsste das Land etwas Geld in die Hand nehmen, um diese Notfallbegleiter auch extern vielleicht noch zusätzlich auszubilden."

    Ob sein Vorschlag tatsächlich Gehör finden wird, dürfte eine finanzielle Frage sein. Im Rahmen der Neuorganisation der Polizei soll sich nun eine Projektgruppe speziell mit diesem Thema befassen.

    Ernst Kappel kämpft weiter um sein inneres Gleichgewicht. Das Karatetraining hilft ihm dabei. Von seinem Dienstherrn fühlte er sich bislang ziemlich allein gelassen. Er hofft, dass sich daran in Zukunft etwas ändern wird.