Nur bei einem Drittel bestätigte sich der Verdacht einer Geschlechtskrankheit. Nun haben die Wissenschaftler ihre Untersuchung auf weitere Kliniken in der DDR ausgedehnt - mit dem Ergebnis, dass auch in Berlin und Leipzig Frauen wochenlang in venerologischen Abteilungen verschwanden.
Ein Vorgehen, mit dem nicht konforme Frauen und Mädchen diszipliniert und verwahrt wurden, die schriftlich zur Verschwiegenheit verpflichtet wurden. Die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt war erste Anlaufstelle für Betroffene, die erstmals ihr Schweigen gebrochen und von ihrer Traumatisierung berichtet haben.
Es war eine tägliche Qual: Eine Zeitzeugin berichtet über die frauenärztlichen Untersuchungen in der geschlossenen Abteilung für Geschlechtskrankheiten an der DDR-Poliklinik Mitte in Halle.
"Dann nahm er ein dickes langes Glasrohr und rammte es tief in meinen Unterleib rein. Ich schrie vor lauter Schmerzen. Er meinte: Stell dich doch nicht so an. So jungfräulich ist hier niemand mehr. Als er fertig war, lief das Blut aus der Scheide."
Der Medizinhistoriker Florian Steger:
"Ein typisches Zitat, wie ich es von sehr sehr vielen Frauen so in ähnlicher Form gehört habe. Es wurden Abstriche entnommen, es wurden Ausspülungen gemacht. Frauen haben Fieberspritzen bekommen, was in der Zeit durchaus auch an anderen Stellen eingesetzt wurde, um Infektionen zu triggern, die aber immer eine Schüttelfrost-Reaktion nach sich zogen. Es wurde keine aufgeklärt, es war eine Behandlung ohne Einverständnis, die hier vollzogen wurde."
Zwangseinweisung auf Verdacht
Tausende, wenn nicht Zehntausende Frauen und Mädchen sind im Laufe der DDR-Zeit gegen ihren Willen in geschlossene Abteilungen für Geschlechtskrankheiten eingewiesen worden - in den meisten Fällen nicht wegen einer tatsächlichen Erkrankung, sondern aufgrund eines angeblichen Verdachts. Im Jahr 1968 etwa waren von der Zwangseinweisung landesweit rund 3.000 im Schnitt 22 Jahre alte Frauen betroffen. Mehr als zwei Drittel von ihnen stellten sich als gesund heraus, wie eine ärztliche Fachzeitschrift zwei Jahre später analysierte.
Nach einer ersten Untersuchung über die frühere Poliklinik in Halle haben Florian Steger und Maximilian Schochow von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Ende vergangener Woche in Berlin eine erweiterte Studie vorgestellt: "Traumatisierung durch politisierte Medizin" lautet ihr Titel, und darin vergleichen die Autoren verschiedene sogenannte Venerologische Stationen ehemaliger DDR-Polinikliniken miteinander. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin:
"Es handelt sich um ein DDR-weites Phänomen. Vermutlich haben wir eine sechstellige Opferzahl, von der wir ausgehen müssen. Halle war sicherlich der Ort, der vorbildlich war im Negativum für die Bildung solcher Institutionen."
235 Frauen und Mädchen wurden allein im Jahr 1977 in Halle zwangseingewiesen. Hier herrschte ein hierarchisches Terrorsystem, berichtete der Wissenschaftler auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: Die Eingangstür war verriegelt, im Flur befand sich eine Gitterbox mit einem Hocker, und auch die Fenster waren vergittert.
Unter dem sadistisch-autoritären Stationsleiter, dem Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Gerd Münx, könnten zwischen 1961 und '82 rund 5.000 Frauen und Mädchen gegen ihren Willen jeweils vier bis sechs Wochen lang hier festgehalten worden sein. Nur ein knappes Drittel von ihnen hatte tatsächlich eine Geschlechtskrankheit, wie Münx selbst in einer Broschüre 1979 schrieb. Eine damalige Stationsmitarbeiterin:
"Auch ein so junges Mädchen, also das, das haben wir damals nur schlucken müssen. Ich konnte das gar nicht begreifen: Die Kleine hat immer wieder gesagt, ich hatte ja noch gar keinen Mann gehabt."
Betroffene brechen ihr Schweigen
Erst vor wenigen Jahren haben Frauen das von ihnen abverlangte Schweigen durchbrochen und ihre mit Scham besetzte Geschichte erzählt. Betroffen waren Mädchen und Frauen zwischen 12 und 72 Jahren aus allen Teilen der Bevölkerung. Nicht wenige von ihnen hatten bereits Gewalterfahrungen wie Misshandlung und sexuellen Missbrauch in ihren Familien erlebt - und waren früh von zu Hause weggegangen.
Wie kam jemand auf die geschlossene Abteilung? Der Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit reichte aus, um eine Vielzahl von Frauen dort einzuliefern: Frauen, die häufig ihren Partner wechselten, ärztlichen Auflagen nicht nachkamen oder von erkrankten Männern denunziert wurden. Ärzte und Fürsorgerinnen wiesen sie - anders als gesetzlich vorgeschrieben - sofort ein. Aber auch Polizisten, Erziehungsheime und nicht zuletzt Eltern brachten sie auf die Stationen. Florian Steger:
"Auch wenn Frauen sich rumgetrieben haben auf dem Bahnhof. Ich erinnere noch sehr gut einen Transportpolizisten, der dann beschrieben hat, wie er die Frauen weggefischt hat regelrecht, um sie zu erziehen, und abgegeben hat dann in der Station. Und, das muss man auch sagen, Frauen, die mit ihren Kindern nicht zurechtgekommen sind, haben ihre Kinder dort auch zum Teil abgeben können und haben es auch getan. Und auch Frauen und junge Mädchen aus den Jugendwerkhöfen sind dort auch in diese Stationen gekommen."
Den eigentlichen Grund für dieses Vorgehen verdeutlicht die Hausordnung der Abteilung für Geschlechtskrankheiten in Halle:
"Durch erzieherische Einwirkung muss erreicht werden, dass diese Bürger nach ihrer Krankenhausentlassung die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen."
Isoliert - und diszipliniert
Nicht die Therapie angeblicher Rumtreiberinnen oder Arbeitsbummelantinnen stand im Vordergrund. Ab 1961 regelte die "Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten" die Zwangseinweisung geschlechtskranker und krankheitsverdächtiger Menschen. Ähnlich wie bereits in der Sowjetischen Besatzungszone wurden die Betroffenen auf Klinik-Stationen etwa in Berlin, Dresden und Leipzig isoliert - und diszipliniert.
Die Wissenschaftler fanden in alten Akten viele Gemeinsamkeiten. Die Aufnahme, die Gestaltung der Stationen und ihre interne Hierarchie ähnelten sich: Die Frauen mussten sich entkleiden, waschen und teilweise rasieren sowie die persönlichen Gegenstände abgeben. Die Eingangstüren waren versperrt, die Fenster vergittert, über die Schlafräume wachten Stubenälteste.
Täglich mussten die Frauen und Mädchen zum Abstrich auf den Behandlungsstuhl, wo einigen absichtsvoll Schmerzen zugefügt, andere verletzt und sogar defloriert wurden.
"Welchen Sinn macht es, selbst bei Vorhandensein einer gynäkologischen Erkrankung, jemanden vier bis sechs Wochen lang täglich gynäkologisch zu untersuchen? Wer dann noch sagt, dass dies therapeutische Einrichtungen gewesen sind, der muss die Lehrbücher neu schreiben der Gynäkologie. Denn es handelt sich hier um eine ganz klare Repressionsmaßnahme zur Demütigung von Frauen, die schwer traumatisierend auch gewirkt hat."
Traumatisiert bis heute
Die Traumatisierung wirkt sich bis heute aus. Die Betroffenen ängstigen sich vor gynäkologischen Untersuchungen. Viele haben gleich nach ihrer Entlassung schnell eine Familie gegründet - aber ihren Mann, teilweise auch die Kinder wieder verlassen. Für nicht wenige ist es schwierig, sich auf Sexualität und langwierige Beziehungen einzulassen. Außerdem lastet die Vergangenheit auf dem Verhältnis zwischen Müttern und Kindern.
"Die Akteure dieser politisierten Medizin sind verantwortlich für die Traumatisierung von Mädchen und Frauen in diesen totalen Einrichtungen, die somatische wie psychische Folgen nach sich gezogen haben. Und die auch Beispiel für eine transgenerationale Weitergabe dieser Gewalterfahrung gewesen sind."
Ein System, das Ärzte - teils unter Beobachtung durch die Stasi - aktiv gestalteten, betont der Medizinhistoriker. Ohne Vorgaben des Ministeriums für Gesundheitswesen regelten die Chefärzte den Alltag auf den Stationen mit einer Hausordnung, die mancherorts Belohnung und Bestrafung vorsah.
In Leipzig-Thonberg seien die Frauen und Mädchen weniger diszipliniert, als verwahrt und isoliert worden, erzählt Steger. Besuche waren auf den meisten Stationen nicht erlaubt. In Berlin-Buch wurden ab 1977 die Sicherungsmaßnahmen sogar weiter ausgebaut. Ohne Einwilligung und Aufklärung führte diese Station an den Patientinnen Kosmetiktests durch - und provozierte damit Hauterkrankungen und Aggressionen.
Die Frauen mussten sich schriftlich dazu verpflichten, über ihren Aufenthalt zu schweigen. Manche verschwanden sechs Wochen lang, ohne dies ihren Kindern erklären zu dürfen. Diese wurden, wenn der Vater nicht im Haushalt lebte, in Heime gesteckt, einige sogar zur Zwangsadoption freigegeben. Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie an der Universität Zürich, bezeichnet die Schweigepflichtserklärung als besonders repressiv. Dass man ...
"... unter Strafe stand und unter Gewaltandrohung, häufig ja Haft, wenn man etwas erzählt hätte. [...] Für Frauen eine ganz besondere Strafe, weil Frauen sich in ihrem sozialen engeren Umfeld natürlich gerne Unterstützung holen und dazu es gehört, Freundinnen, Nahestehenden etwas zu berichten, eigentlich auch den Kindern. Und das halte ich noch mal für eine Sache, die eine ganz besondere Dynamik in Gang gesetzt hat [...], nämlich auch dass es doch noch so lange nach der Wende dauerte, bis sich dann einige Frauen [...] versucht haben, Gehör zu verschaffen."
"Haft mit Körperverletzung"
Birgit Neumann-Becker war als Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt erste Anlaufstelle für Betroffene. Sie zählt die Zwangseinweisungen zu einem Bündel repressiver Maßnahmen, mit denen nicht konforme Menschen diszipliniert werden sollten.
Frauen und Mädchen, betont die Theologin, wurden in besonderer Weise gestraft. Die Zwangseinweisung sei eine Art Haft mit Körperverletzung gewesen - eine bis heute nicht rehabilitierte Menschenrechtsverletzung.
"Sodass wir ich glaube eine besondere Unnachgiebigkeit bei Frauen feststellen konnten, wenn sie nicht funktioniert haben, eine ordentliche sozialistische Familie aufzubauen, das war die Erwartung, und die Kinder so zu erziehen, wie der Staat sie brauchte. Dann griff das gesamte Repressionspotenzial dieses Staates - und nicht unbedingt, weil sie sich politisch betätigt haben, sondern weil sie nicht funktioniert haben."