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Traumaweitergabe
Spätfolgen von Diktaturerfahrungen

Die Tagung "Bis ins vierte Glied" in Schwerin widmet sich einem ernsten Thema: der sogenannten transgenerationalen Traumaweitergabe. Organisiert von den Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin diskutierten Experten, inwiefern die Traumata der NS- und DDR-Zeit noch die Kinder und Enkel prägen.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger |
    Als Urte Manjowk etwa sieben Jahre alt war, merkte sie, dass etwas nicht stimmte an der Geschichte ihres abwesenden Großvaters.
    "Es wurde über ihn gesprochen. Ich weiß nämlich, dass ich verschiedene Geschichten über ihn im Kopf hatte. Einmal, er ist an einer Lungenentzündung gestorben und einmal, er ist im Krieg gestorben. Und einmal ist er aber auch aus dem Krieg zurückgekommen. Das sind natürlich widersprüchliche Geschichten. Also habe ich mich irgendwann hingesetzt und habe gesagt: Mami, irgendwas stimmt hier nicht. Wie ist denn das nun? Warum ist er nicht mehr da? Was ist mit ihm passiert? Woraufhin sie komplett in Tränen ausbrach, und ich dann natürlich gleich - wie das eben immer ist mit Kindern: Oh Gott, was habe ich angerichtet?"
    Wie traumatische Erlebnisse verarbeitet werden
    Erst da erfuhr die heute 45-Jährige, dass ihr Großvater Günther Böhmer im Juli 1951 auf dem Weg zur Arbeit von der Staatssicherheit verhaftet worden war. Ihre Großmutter versuchte damals vergeblich heraus zu finden, wo er steckte. Dennoch hoffte sie auf seine Rückkehr. Ihren beiden Töchtern verbot sie, in der Öffentlichkeit über das Schicksal des Vaters zu reden oder gar den Staat zu kritisieren.
    Wie Menschen traumatische Erlebnisse wie diese verarbeiten, und was sie davon in welcher Form an ihre Kinder weitergeben, wird in Deutschland erst seit den 1980er Jahren erforscht. Auf der Schweriner Tagung über die sogenannte „Transgenerationale Traumaweitergabe" ging es um die Erfahrungen in beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihr Fortwirken bis heute. Harald Freyberger, Universitätsprofessor für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin in Greifswald:
    "Die Traumata in der NS-Zeit sind glaube ich am besten bei den Holocaust-Überlebenden dokumentiert und untersucht. Und da muss man schon sagen, dass die Einwirkungen von der ersten auf die nächste Generation sehr massiv waren, weil die Traumatisierungen ja Konzentrationslagerhaft, den Verlust viele Angehöriger, unbeschreibliche Folter, medizinische Experimente etc. betreffen. Demgegenüber sind die Erfahrungen während der DDR-Diktatur ja deshalb so pathogen, weil ja die Verfolgung nicht mit dem Ende der politischen Haft abgeschlossen war, sondern sich dann in Zersetzung und weiteren Repressalien fortführte."
    Traumata in der NS-Zeit
    Der Psychiater warnt davor, Kategorien zu bilden, welche Traumata wichtiger seien. Während die zweite und dritte Generation der Holocaust-Überlebenden sehr unter der Massivität gelitten hätten, seien die politisch Verfolgten in der DDR und ihre Kinder stärker betroffen von dem Schweigegelübde, das ihnen auferlegt wurde.
    "Das Schlimmste, was einem Menschen in der zweiten Generation passieren kann, ist eben dieses Schweigen. Er erlebt dann bei seinen Eltern, die ja möglicherweise betroffen sind oder bei seinen Großeltern Verhaltensmerkmale, die er sich nicht erklären kann, die unheimlich sind. Und das verändert natürlich die Beziehung zur Welt und zu den Menschen ganz grundsätzlich."
    Erhöhte Ängstlichkeit
    Untersuchungen zeigen, dass Eltern die durch das Trauma ausgelöste psychische Erkrankung oder andere gesundheitliche Folgen nicht 1:1 an ihre Kinder übertragen - auch wenn der allgemeine Gebrauch des Begriffs "transgenerationale Übertragung" dies nahelege, sagt Dr. Heide Glaesmer, stellvertretende Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie der Universität Leipzig. Die Nachkommen von Traumatisierten erkranken nicht häufiger psychisch, sondern weisen für solche Erkrankungen nur eine erhöhte Verletzlichkeit auf. Beispielsweise übernehmen sie nicht die Angststörung ihrer Eltern, sondern eine erhöhte Ängstlichkeit.
    Heide Glaesmer betont, dass noch ein dritter Akteur mit im Bunde ist, wenn es darum geht, ob ein Trauma weiter wirkt – oder nicht.
    "Dass das eingebettet ist natürlich auch in ein gesellschaftliches Klima. Je nachdem wie eine Gesellschaft sozusagen umgeht damit, also ob eine Auseinandersetzung mit der Wahrheit, mit dem was passiert ist, möglich ist oder nicht, ob derjenige sich als Opfer auch öffentlich darstellen kann und anerkannt wird, das macht einen Unterschied in diesen Weitergabeprozessen, weil es sonst etwas ist, was eben eher beschwiegen wird und im Geheimen passiert."
    Posttraumatische Reifung
    Eine Entschädigung, eine Gedenkstätte oder die Möglichkeit, das Schweigen zu brechen und als Zeitzeuge über das Erlebte zu sprechen, kann einem Traumatisierten helfen. Die Psychologen sprechen sogar von einer "posttraumatischen Reifung", wonach ein Mensch gestärkt daraus hervor gehen kann, dass er etwas Schlimmes überstanden hat.
    Wenig berücksichtigt scheint bislang der zeitliche Aspekt. Je länger die NS-Zeit oder die DDR der Geschichte angehören, desto weniger Täter leben noch.
    "Und wenn Täter sterben, dann trauen sich die Söhne und Enkel der Betroffenen viel eher sich zu artikulieren oder neugierig Fragen zu stellen. Und sie haben dann eine viel bessere Chance, von den Opfern auch Antworten zu erhalten. Es wird glaube ich in der historischen und Gesundheits-Forschung unterschätzt: Der Tod der Täter öffnet enorm viele Freiheitsgrade, darüber nachzudenken."
    Das Schweigen brechen
    Was die zweite oder dritte Generation vor den Erfahrungen ihrer Eltern bzw. Großeltern schützt, ist ebenfalls wenig erforscht. Die Experten raten dazu, das Schweigen zwischen den Generationen zu brechen. Und weisen, wie Harald Freyberger, auf eine Chance hin: Wer mit traumatisierten Eltern aufwachse, lerne früh zu helfen und für sich selbst zu sorgen. Die zweite Generation muss vorzeitig autonom werden, handlungsfähiger sein, sich ganz anders um die Eltern kümmern und sich mit ihnen auseinandersetzen.
    Die Beziehungen zwischen ehemals politisch Verfolgten in der DDR und ihren Kindern bezeichnet Dr. Stefan Trobisch-Lütge, Leiter der Berliner Beratungsstelle "Gegenwind", als zwiespältig:
    "Von der Seite der zweiten Generation geht es aus meiner Warte darum, dass vor allen Dingen Misstrauens-Phänomene im Raum stehen, das heißt, dass unklar ist, wie mit der Vergangenheit der Eltern eigentlich umzugehen ist bzw. dass teilweise auch gar nicht so richtig erkannt werden kann von den Nachkommen, welche Bedeutung sozusagen die Traumatisierung oder die Hafterlebnisse überhaupt im Leben der Eltern gehabt haben."
    Mit der Vergangenheit der Eltern umgehen
    Der Therapeut stellt bei der Nachfolgegeneration eine große Unsicherheit fest sowie das Bedürfnis, in einer Art Aushandeln heraus zu finden, unter welchen Umständen die Haft abgelaufen ist, wie sie sich auf die Eltern ausgewirkt hat – und ob diese ihre Kinder im Auge behalten haben oder ihnen gegenüber ein Risiko eingegangen sind.
    Er sieht einen großen Unterschied zwischen den Nachkommen der politisch Verfolgten in der DDR und der Holocaust-Opfer darin, "dass eigentlich in der Holocaust-Nachfolge-Generation wenig darüber aus der Forschung berichtet wird, dass da auch Widerspruch und Infrage-Stellung der Eltern erfolgt. Sondern da wird eben sehr stark von diesen projektiven Identifizierungsprozessen gesprochen, von Implantierung bestimmter traumatischer Abszesse der Eltern, aber weniger von einem Sich-Verwahren gegen die Geschichte der Eltern, einem Sich-Abgrenzen gegen die Geschichte, und das sind alles Dinge, die glaube ich bei dieser Generation, also der zweiten Generation der politisch Verfolgten aus der DDR eher zu beobachten sind."
    Die durch die Staatssicherheit gesähten Zweifel würden transgenerational an die Nachkommen weiter gegeben. Diese hinterfragten die Motive der Eltern sehr genau: Wollten sie aus Eigennutz aus der DDR fliehen, wollten sie mit ihrer Kritik das System verbessern - und hatten sie dabei das Wohl der Familie im Blick?
    Ausstellung "Erschossen in Moskau"
    Den Töchtern von Günther Böhmer dagegen erschloss sich das Schicksal ihres Vaters erst, als sie im Jahr 2006 in Schwerin die Ausstellung "Erschossen in Moskau" besuchten. Dort entdeckten sie den Namen ihres Vaters - als einem von vielen aus politischen Motiven Hingerichteten.
    Durch Nachforschungen erfuhren sie das Todesdatum - und erzählten dies ihrer mittlerweile über 90jährigen Mutter. Die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Anne Drescher, aus einem Brief an sie selbst.
    "Sie war fassungslos, weil sie nun nach 55 Jahren noch erfuhr, wann ihr Mann gestorben ist. Es folgte natürlich eine Nacht, in der sie kaum schlief. Am nächsten Morgen versicherte sie uns, dass es sie beruhigt, dieses Datum erfahren zu haben - das Hinrichtungsdatum. Ich erzählte ihr auch von der Reaktion ihrer vier Enkelkinder, die sie natürlich sehr berührt hat. Es tut ihr jetzt gut, dass wir gemeinsam über ihn sprechen können und nach der Zeit fragen, als er noch lebte. Sie brachte zum Ausdruck, dass sie manchmal den Wunsch hatte, mit uns über Vergangenes zu erzählen, es aber vermied. Sie empfindet es als wohltuend, dass er durch diese Gespräche in die Familie zurückgekehrt ist."
    Günther Böhmer ist längst rehabilitiert. Seine Töchter und Enkel sind nach Moskau gereist, um das Massengrab zu besuchen, in dem seine Asche und die der anderen Hingerichteten verscharrt worden war. Von der heutigen Gedenkstätte haben sie seiner Frau ein Foto mitgebracht.