Die Lobby des Hotels Elephant in Weimar schwirrt wie ein Bienenstock. Viele alte Männer sitzen zusammen, man hört Deutsch, Polnisch, Englisch, Hebräisch, Russisch. Einer in gestreifter Häftlingskleidung brüllt deutsche Kommandos durch den Raum. Ehemalige Häftlinge und ihre Befreier sitzen zusammen. Manche kennen sich noch von früheren Treffen. Und jeder sieht: Es werden jedes Jahr weniger. Wer heute noch als Zeitzeuge für die Nazi-Verbrechen auftreten kann, war damals, vor 70 Jahren, entweder ein Kind oder ein sehr junger Erwachsener. Pavel Kohn zum Beispiel wurde 1942 als 13-Jähriger mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Theresienstadt deportiert.
"Wenn man es insgesamt betrachtet, wurde es für mich immer schlimmer und schlimmer, vor allem deswegen, weil ich zuerst in Theresienstadt mit unserer ganzen vierköpfigen Familie zusammen war, später in Auschwitz-Birkenau waren wir noch drei, in Blechhammer mit meinem Bruder nur mehr zu zweit. Auf dem Todesmarsch war ich dann ganz alleine und allein bin ich auch in Buchenwald vollkommen erschöpft angekommen. Ich war total krank, hatte abgefrorene Füße und musste damit rechnen, einige Zehen zu verlieren."
Die Überlebenden wollen erzählen
Pavel Kohn hat es überlebt. Auch, wenn er auf sich gestellt war und wenn er sagt, dass es Solidarität im Lager nur zwischen Eltern und Kindern gab - solange sie noch zusammen waren.
"Viele Konzentrationslagerüberlebende behaupten, dass ihnen die Solidarität der anderen beim Überleben geholfen hat. Es klingt schön, aber ich bezweifle es. Ich selber habe es in den KZs nicht erlebt. Im Ghetto Theresienstadt vielleicht noch: Dort hat sich der jüdische Ältestenrat, der im Auftrag der SS das tägliche Leben organisiert hat, zum Ziel gesetzt, den Kindern und Jugendlichen den Aufenthalt nach Möglichkeit zu erleichtern."
Auch in Buchenwald habe es ihm geholfen, dass er im Block 66 war, den politische Häftlinge für Kinder und Jugendliche eingerichtet hatten.
Nach einer Stunde Interview geht es weiter zu den nächsten Zeitzeugen, zu Überlebenden und Befreiern. Es ist schwer, sich immer wieder loszureißen, denn jeder hat Erlebnisse, die zu erzählen Stunden oder Tage dauerten. Und die Überlebenden wollen erzählen, wissen, dass sie die Letzten sind, die berichten können, und wissen auch, dass sie beim nächsten runden Jahrestag weniger sein werden.
Chava Ginsburg, eine Jüdin aus Ungarn, die Auschwitz, Bergen-Belsen, Markkleeberg und auch Mengeles Experimente überlebt hat, und die später in Israel Krankenschwester war, ist eine Botschaft besonders wichtig: "Wenn du deine Hoffnung verloren hast, kannst du keine Kinder in die Welt setzen, nicht heiraten, gar nichts tun. Hoffnung ist das wichtigste Wort der Existenz. Ich habe das Gefühl, gewonnen zu haben - nach all dem, was ich hinter mir habe. Und nun bin ich hier. Und ich glaube an die Menschheit."
Nicht vorbereitet auf diesen Anblick
Nicht ohne Weiteres zu unterscheiden von den Überlebenden sind die Befreier von damals, die am 11. April 1945 mit Jeeps und Panzern Buchenwald erreichten. Damals haben Welten sie getrennt. James Anderson war 19 Jahre alt, als er das KZ betrat. Als Front-Sanitäter hatte er vieles erlebt. Aber nichts hat ihn auf diesen Anblick vorbereitet.
"O God! I tell you that was devastating to see the poor. But they greeted us with everything, you know. They would hug us. And, you know, being a soldier you are not being hugged, you know. But we all - not just me - we couldn’t understand how people could be so cruel, you know."
Es sei niederschmetternd gewesen, die armen Menschen zu sehen. Sie begrüßten die Befreier euphorisch, umarmten sie. Als Soldat wird man eigentlich nicht umarmt, meint er. Keiner seiner Kameraden konnte verstehen, wie Menschen so grausam sein konnten. In seinem privaten Fotoalbum sind Aufnahmen vom Buchenwald-Eingangstor, von Soldaten und von Stapeln hautbezogener Skelette, die einmal Menschen waren.
"Being so young myself and see this could actually happen to people: It really hurt our minds, I tell you."
Er sei selbst noch so jung gewesen damals. Das ansehen zu müssen, hätte etwas in ihm zerstört. Gerade jetzt im Alter, mit 91, kämen die Bilder immer wieder hoch. Und dennoch hat er Vertrauen ins heutige Deutschland. Die Menschen seien andere als damals. Und wie ist es, als Ehrengast in Hitlers Lieblingshotel zu logieren? "Well, I’m honored to a point, if you want to know the truth." Ja, er fühlt sich schon geehrt, gibt noch weitere Interviews und muss dann zum Empfang des Oberbürgermeisters von Weimar. Die Tage in Weimar werden für Überlebende und Befreier eine Genugtuung, aber auch eine enorme Anstrengung sein.