Jürgen Zurheide: Ich begrüße dazu am Telefon Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Morgen, Herr Brakel!
Kristian Brakel: Guten Morgen!
Zurheide: Herr Brakel, Erdogan pöbelt zum Beispiel in Paris gegen Journalisten, Sie werden das auch gehört haben. Für welches Publikum tut er das eigentlich aus Ihrer Sicht, für das türkische Publikum, denn hier in Europa wird er wissen und ahnen, dass das nicht so gut ankommt, oder sehe ich das falsch?
Brakel: Ich glaube, das ist gar nicht so kalkuliert. Das ist, glaube ich, einfach, Erdogan ist Erdogan, und das, was er da diesem Journalisten vorgeworfen hat, also dass er im Prinzip für die Gülen-Bewegung arbeiten würde, wenn er so eine unbotmäßige Frage stellen würde nach Waffenlieferungen nach Syrien, das ist, glaube ich, wirklich das, was er denkt. Also er wittert Verschwörung an jeder Ecke und er ist wirklich der Ansicht, dass es Journalisten nicht zusteht, ihn zu adressieren. Ich glaube nicht, dass er auf die Außenwirkung bedacht ist. Das ist inzwischen etwas, was seine Minister noch für ihn machen müssen, die müssen dann zurückrudern, wie Casuvoglu etwa, aber er selber ist da in einem ganz anderen Film.
Sich nicht mit allen europäischen Partnern zerlegen
Zurheide: Das heißt, wenn wir hier in Europa uns die Fragen stellen und auch wir, wenn wir solche Sendungen machen – Ende der Eiszeit und all solche Begriffe –, was sehen Sie denn da gerade, was die Türkei, die türkische Regierung, diese Administration versucht? Was versucht sie?
Brakel: Ich glaube, es gibt wirklich das ehrliche Bemühen, also jetzt zum Beispiel Außenminister Casuvoglu, es gab das auch schon vorher von anderen Ministern der Regierung, ein besseres Verhältnis herzustellen wieder, mit vielen Staaten der EU und vor allen Dingen eben auch mit Deutschland, weil man eben weiß, dass man sich nicht mit allen europäischen Staaten und eben vor allem so zentralen Staaten wie Deutschland und Frankreich zerlegen kann, gerade zu einem Zeitpunkt, in dem man sich ja mit den Amerikanern immer weiter entzweit. Das ist aber ein reines Zweckbündnis beider Seiten, ich glaube, es macht sich hoffentlich – bei der Bundesregierung bin ich da manchmal nicht ganz sicher – niemand darüber Illusionen, dass es nicht darum geht, die ganzen Entwicklungen, die in der Türkei innenpolitisch stattgefunden haben in den letzten zwei Jahren, die irgendwie zurückzudrehen. Es geht, das hat man, glaube ich, auch gesehen, das ist ja jetzt zum Beispiel Peter Steudtner, dieser eine deutsche Menschenrechtler, der die Türkei verlassen durfte, andere Personen, die auch aus der Haft entlassen wurden, vielleicht wird sich hoffentlich auch was im Fall von Deniz Yücel tun, aber die ganzen Prozesse gegen türkische Journalistinnen und Journalisten gegen türkische Menschenrechtler und Menschenrechtlerinnen, die gehen mit unverminderter Härte weiter.
Zurheide: Also wenn wir jetzt auf den Besuch heute in Deutschland schauen, den Sie angesprochen haben, Casuvoglu bei Sigmar Gabriel, dann sagen Sie, da werden schöne Bilder produziert, aber sonst erwarten Sie nicht viel, oder was erwarten Sie, offen gefragt?
Brakel: Nein, also ich erwarte schon etwas. Ich glaube, man sieht schon aus den Entwicklungen der letzten Wochen, dass die türkische Seite sich bemüht, gut Wetter zu machen. Man bemüht sich, wieder zu einem arbeitsfähigen Verhältnis mit der Bundesregierung zu kommen, dass eben Waffenexporte möglich sind, dass die Bundesregierung auch auf europäischer Ebene nicht mauert, wenn es zum Beispiel um Kreditlinien der Europäischen Investitionsbank geht, dass vielleicht die Bundesregierung auch ihr Veto zurücknimmt, was ein Upgrade der EU-Zollunion mit der Türkei angeht, also all solche Dinge, die für die türkische Seite schon relevant sind und die auch viele europäische Partner gerne wollen. Ich glaube, da könnte vielleicht tatsächlich etwas entstehen. Man darf sich, glaube ich, nur nicht der Illusion hingeben, dass es darum geht, den autoritären Kurs, den die Türkei im Inneren verfolgt, dass man den zurückdreht, sondern es geht rein um dieses bilaterale beziehungsweise multilaterale Verhältnis zu Europa, zur Bundesrepublik.
Ein rein transaktionales Verhältnis
Zurheide: Ich könnte das jetzt böse zugespitzt formulieren, was Sie gerade gesagt haben: Man will fast nichts geben, aber einiges bekommen. Ist das zu böse?
Brakel: Ich glaube, man will oder man hofft, dass man ein Verhältnis hinbekommt, das halt rein transaktional ist, dass man sagt, wir geben euch etwa Deniz Yücel, und dafür nehmt ihr euer Veto bei der Zollunion zurück. Man ist schon bereit, einige Sachen anzubieten, glaube ich, aber man gibt sich, glaube ich, der Illusion hin, dass zum Beispiel die harschen Worte, die ja auch immer wieder in Deutschland gefallen sind, von deutschen Politikern, dass die letztlich rein strategischer Natur waren, also dass es nicht wirklich zum Beispiel in der deutschen Öffentlichkeit eine Sorge darum gibt, was innenpolitisch in der Türkei passiert. Ich glaube auch, dass das etwas ist, was die Bundesregierung unterschätzt, dass man hofft, dass vielleicht mit anderen Ländern – also Beispiel Ägypten, da ist man ja auch nach ein bisschen Aufregung über Menschenrechtsverletzungen nach dem Putsch 2013 wieder so zum Business as usual zurückgekehrt. Ich glaube aber, mit dem deutsch-türkischen Verhältnis wird das so nicht funktionieren einfach. Wir haben ja sehr viele interkulturelle Verbindungen, es gibt ja sehr viele Leute, die von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei betroffen waren, die nach Deutschland geflüchtet sind. Also dieses Thema, was in der Türkei selber passiert, das wird immer wieder auf die politische Agenda kommen in Deutschland, und das wird es einfach so schwierig machen, einfach rein zu so einem transaktionalen Verhältnis zu kommen, wie die Türkei und wie sich das vielleicht die Bundesregierung auch wünscht.
Zurheide: Man könnte ja auch feststellen, dass der Druck, der auf die Türkei ausgeübt wird – zum Beispiel dass es keine Rüstungsexporte gibt, das haben Sie vorhin angesprochen, dass bei Krediten Zurückhaltung geübt wird –, dass das eigentlich Wirkung zeigt, weil – und jetzt komme ich zu meiner Frage – weil eben in der Türkei selbst die wirtschaftliche Lage bei Weitem nicht so gut ist, wie die Regierung das darstellt. Wie nehmen Sie die wirtschaftliche Lage wahr? Die Wachstumszahlen zum Beispiel von 10 Prozent, sagen viele im Ausland, die können niemals stimmen. Was ist da richtig?
Brakel: Diese bekannte Finanz-Ratingagentur Fitch hat gestern erst ein Wachstum im letzten Quartal 2017 von rund fünf Prozent bestätigt, also es gibt wohl schon relativ hohe Wachstumsraten. Die haben zum Teil natürlich damit zu tun, dass das Wachstum 2016 nach dem Putsch so abgesunken war, aber grundsätzlich gibt es positive Entwicklungen in der Türkei. Es ist nicht ganz klar, wie dauerhaft das ist, das hat vielleicht auch mit Konjunkturmaßnahmen der Regierung zu tun, und Wachstum ist halt eben nicht alles. Es gibt eine galoppierende Inflation, die so hoch ist wie noch nie vorher, obwohl es dieses hohe Wachstum ist, sind die Arbeitslosenraten sehr, sehr hoch.
"Gesamtsystem Erdogan wird sich nicht zurückdrehen lassen"
Zurheide: Die Währung verliert an Wert.
Brakel: Ja, genau. Also es gibt sehr viele Sachen, die durchaus gut, also die funktionieren, aber es ist nicht unbedingt so, dass das, was die Regierung sich vorstellt, und auch das, was Erdogan ja ausgegeben hat, nämlich bis 2023 bei den zehn wichtigsten Volkswirtschaften der Welt zu sein, dass das mit diesen Wachstumsraten möglich ist. Selbst wenn man sagt, fünf Prozent, sind das ja immer noch Zahlen, die nach Rechnung der Weltbank und des IMF nicht dazu ausreichen werden, diese sogenannte Middle-Income Trap zu überwinden, und die nicht daran anknüpfen können, was die Türkei zum Teil in dem Jahr vorher, also zum Beispiel 2010 erreicht hat. Und ich glaube, das ist halt für die türkische Regierung ein großes Problem.
Zurheide: Kommen wir noch mal zurück zur politischen Lage, das heißt, Ihre Prognose ist ganz klar, man versucht zum Beispiel Deniz Yücel als Verhandlungsmasse einzubringen – so hart muss man das sagen –, aber Sie sagen auch, im Inneren wird die Türkei, zumindest diese Administration unter Erdogan, sich überhaupt in nichts reinreden lassen. Ist das Ihre klare Prognose?
Brakel: Man kann, glaube ich, schon versuchen, an einzelnen Stellen – und ich glaube, das ist auch das Richtige –, man kann versuchen, an einzelnen Stellen Druck zu machen, an einzelnen Stellen Konzessionen zu erwirken. Aber dieses Gesamtsystem Erdogan, hinter dem natürlich auch nicht nur er steht, sondern eben auch noch viele andere Leute, die davon profitieren, das wird sich nicht zurückdrehen lassen. Das hat einfach sehr stark mit seiner Person zu tun, das hat sehr stark damit zu tun, wie er die Welt sieht, die ja auch gerade nach diesem Putschversuch sehr stark von Paranoia geprägt ist. Also ich glaube, da ist keine Entspannung zu erwarten. Aber das bedeutet nicht, dass die Bundesregierung nicht selbst, wenn zum Beispiel Deniz Yücel frei kommt, was wir hoffen müssen, dass man nicht auch danach noch sagen kann, gut, also wir haben Punkt a, b, c, den ihr gerne von uns wollt, und dann wollen wir aber zum Beispiel auch etwas von euch, also im Bereich der Menschenrechtssituation, im Bereich der Pressefreiheit in der Türkei. Ich glaube, da kann man schon mit Druck etwas erreichen, aber man muss es halt wollen und man muss halt hoffen, dass sich da auch die deutsche Bereitschaft nicht einfach zurücknimmt, sobald etwa alle deutschen Staatsbürger aus dem Gefängnis sind. Möglich sind Dinge, die halt nicht dieses komplette System und die komplette Herrschaft Erdogans gefährden, also einen gewissen Spielraum, den kann man schon erarbeiten. Das weiß ja auch die türkische Seite zum Teil, dass jetzt nicht wegen jeder NGO oder wegen jedem kritischen Journalisten gleich die komplette Regierung stürzt.
Zurheide: Das war Kristian Brakel von der Böll-Stiftung. Ich bedanke mich heute Morgen ganz herzlich für dieses Interview, danke schön, auf Wiederhören!
Brakel: Danke Ihnen!
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