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Trend zu Konzertfilmen
Mehr als ein Mitschnitt

Konzerte wie Mega-Sportevents: Popstars wie Beyoncé, Talyor Swift oder Justin Timberlake wirken wirken wie Leistungssportler auf der Bühne. Aktuelle Konzertfilme dokumentieren das eindrücklich. Vielen gelten die Mitschnitte als reine Fan-Objekte - dabei können sie so viel mehr sein.

Von Elissa Hiersemann |
Filmszene aus dem Netflix-Dokufilm "Homecoming" von und mit der US-Sängerin Beyoncé. Die Szene zeigt die Sängerin beim Umkleiden für ihren Auftritt in der Garderobe.
Der Konzertfilm "Homecoming" zeigt, wie Popstar Beyoncé an ihre Leistungsgrenze geht (picture alliance/dpa/Everett Collection)
Es gibt eine neue Zeitrechnung in Sachen Konzertfilme. Sie heißt: vor und nach "Homecoming", dem Konzertfilm zum Auftritt von Beyoncé beim Coachella Festival 2018. Mit dem Film setzt Beyoncé neue Maßstäbe. Mehr als 200 Menschen sind involviert. Tänzer*innen, Musiker*innen. Alle samt People Of Colour. Queen Bey - wie ihre Fans sie liebevoll nennen - will vor allem ihrer Gemeinschaft, der Black Community, ein Denkmal setzen. Als erste schwarze Frau überhaupt bespielt sie die Hauptbühne beim Coachella Festival in Kalifornien und stellt dafür eine gigantische etwa 100-köpfige Marching Band der Historischen afroamerikanischen Colleges und Hochschulen zusammen, mit der sie die Bühne teilt.
Blick hinter die Kulissen
"Homecoming" ist mehr als ein bloßer Konzertmitschnitt. Dem Zuschauer wird ein Blick hinter die Kulissen des Pop-Großspektakels gewährt. Er bekommt eine Ahnung, wie aufwendig die Proben waren, die insgesamt acht Monate gedauert haben. Allein vier Monate für die Band und nochmal vier für die Tänzer*innen. Beyoncé erzählt von ihrer schwierigen Schwangerschaft mit ihren Zwillingen. 99 Kilo wog die damals 35-Jährige nach der Geburt und hatte ein Jahr, um wieder fit zu werden für den Auftritt beim Coachella Festival.
Der R'n'B-Sängerin geht an ihre Leistungsgrenze. Stundenlanges Proben, obendrein eine Diät. Kein Brot, kein Zucker, kein Fleisch, kein Alkohol. Am Ende passt sie wieder in ihr altes Kostüm von vor der Geburt. Der Film zeigt, was leicht und mühelos aussieht, ist extrem harte Arbeit. Das ringt dem Zuschauer einerseits Respekt ab und zeigt andererseits, wie die alten Klischees immer noch greifen. Zum Beispiel, dass ein Popstar rank und schlank zu sein hat. Beyoncé erscheint als eine Art Übermensch, der selbst bei der größten Schinderei nie schwitzt bezeihungsweise uns nur so viel Schweiß sehen lässt, wie die Künstlerin es eben will. Kontrolle über das eigene Image ist alles. "Homecoming" ist eine große Inszenierung des "Popmythos Beyoncé". Für Schwächen und Zweifel gibt es keinen Platz.
Dagegen spielt Schweiß in dem Konzertfilm "Amazing Grace", der Anfang 2019 veröffentlicht wurde, eine der Hauptrollen. "Amazing Grace" wurde im Jahr 1972 gefilmt. Es geht um den Auftritt der damals 29-jährigen Aretha Franklin in einer kleinen Baptistenkirche in Los Angeles. Damals bereits ein Star singt die Queen of Soul Gospelsongs und schwitzt sich dabei die Seele aus dem Leib. Niemand kommt auf die Idee, ihr ein Taschentuch zu reichen. Dieser Film ist selbst beim Zuschauen eine physische Erfahrung.
Dokumentation von Jahrhunderttalenten
"Amazing Grace" ist herausragend, weil der Film dokumentiert, was für ein Jahrhunderttalent die mittlerweile verstorbene, Aretha Franklin gewesen ist und auch, weil er die Anfänge von Konzertfilmen erzählt. Sydney Pollack ist der Regisseur. Es ist frappierend und beeindruckend zugleich, wie ahnungslos man Anfang der 70er war, was die Aufnahmen eines Konzertfilms angeht. Die Kameramänner rücken Aretha Franklin in den unmöglichsten Positionen auf die Pelle.
Die Bilder sind verwackelt, Heranzoomen ist ein großes Experiment - und trotzdem ist dieser Film ein Highlight. Auch weil er einfängt, was zwischenmenschlich passiert. Das schwierige Verhältnis zwischen Aretha Franklin und ihrem Vater, der seine Tochter managt. Referend C.L. Franklin, ein berühmter charismatischer Prediger, der im Film zwar über sie spricht, aber immer so, als wäre sie gar nicht im Raum. Beeindruckend auch, wie der schwarze Gospelchor und sein Leiter Reverend Cleveland zusammen mit Aretha Franklin dieses Konzert zu einem Gottesdienst machen, der die knapp 100 Leute in der Kirche in Ekstase versetzt.
Der Popstar als Leistungssportler
Auch wenn aktuelle Konzertfilme eher wie Mega-Sportevents in gewaltigen Hallen rüberkommen und die Musiker wie Leistungssportler, sind auch sie einen Blick wert. Justin Timberlakes Konzertfilm zu seiner "20/20 Experience Tour" zeigt ähnlich wie Taylor Swifts "Reputation Stadium Tour" wie viel Disziplin und Perfektion nötig sind, um Konzerthallen mit 60.000 Leuten bei Laune zu halten. Zweifel, Lampenfieber oder Zusammenbrüche spielen auch hier keine Rolle. Im Mittelpunkt stehen Teamgeist und das Gemeinschaftsgefühl bei einer weltweiten Stadiontournee, die im Fall von Justin Timberlake ganze zwei Jahre gedauert hat.
Natürlich ersetzt kein Konzertfilm der Welt das Live-Erlebnis. Aber nicht jeder kann bei einem Coachella-Auftritt von Beyoncé dabei sein, um sich die Kehle aus dem Leib zu schreien und in den besten Momenten zu weinen vor Glück. Aber Konzertfilme bieten einen anderen Blick: Als Zuschauer*in ist man beim Konzertfilm am Geschehen näher dran und gleichzeitig emotional weiter weg. Das lässt Raum für tiefere Einblicke ins Popgeschäft und eine kritische Auseinandersetzung damit.