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Trend zum Streambait-Pop
Musik wie ein Sofakissen

Streamingdienste verändern nicht nur die Art, wie Hörer Musik konsumieren. Durch die vielen Playlists bei Spotify, Apple Music und Deezer hat sich auch die Musik selbst verändert. Die US-amerikanische Musikjournalistin Liz Pelly definiert sogar ein neues Genre: den Streambait-Pop.

Von Ina Plodroch |
    Musikerin Nina Nesbitt bei seinem Konzert 2014 - mit blonder Mähne und einer E-Gitarre
    Nina Nesbitt bei einem Konzert 2014: Ihre Songs tauchen bei der "New Music Friday"-Playlist von Spotify häufig auf (picture-alliance/dpa/EPA/URS FLUEELER)
    Liz Pelly ist Musikjournalistin aus den USA. Sie steht auf Indiemusik wie von der Band "Free Cake For Every Creature". Doch diese Musik hat es immer schwieriger in der Streaming-Welt, die gerade dabei ist, den Pop umzukrempeln. Für einen Artikel, in dem es eigentlich um etwas ganz anderes ging, hat sich Liz Pelly in diese Streaming-Welt begeben: "Ich habe mir einen Monat lang nur die populärsten Playlists bei Spotify angehört."
    Also die "New Music Friday"-Playlist zum Beispiel, die Spotify jeden Freitag erneuert und die Millionen Nutzer anklicken. Ein bestimmter Stil taucht besonders häufig auf: Musik von Psychopath, Charlotte Lawrence, Nina Nesbitt, Sasha Sloan. "Dumpfe, melancholische Stücke, ziemlich lahm und auch mal traurig."
    Die Fahrstuhlmusik der digitalen Welt
    Die Musikkritiker der "New York Times" nennen diese immer gleiche Musik: Spotify-Core. Liz Pelly findet einen anderen Namen in ihrem aktuellen Artikel im Magazin "The Baffler": Streambait-Pop. Eine Mischung aus Streaming und Clickbait: "Musik in der Streaming-Welt will entweder sofort unsere Aufmerksamkeit. Oder sie ist so unauffällig, dass wir sie deshalb nicht abschalten, weil wir sie kaum bemerken."
    Streambait-Pop ist die Fahrstuhlmusik in der digitalen Welt. Je weniger Aufmerksamkeit sie erfordert, desto erfolgreicher ist sie in der neuen Aufmerksamkeitsökonomie der Streaming-Anbieter. "Die Songs sind wirklich wie für die Plattform gemacht, weil sie perfekt in die Playlists passen und dort nahtlos ineinander übergehen."
    Es ist die Sofakissen gewordene Musik. Wer einmal drin liegt, will nicht mehr aufstehen, sondern immer weiter dieses leichte Hintergrundrauschen aus dem Handy neben sich haben. Genau das wollen die Streaming-Dienste: Nutzer, die endlos ihre Playlists hören und nie weiterskippen. Damit das gelingt, geht Spotify auch dazu über, Songs exklusiv für sich zu produzieren.
    "Ich lasse die Seelensuppe raus"
    Spotify unterscheidet zwischen Genre-Playlists, Stimmungs-Playlists und zusätzlich: Chill-Playlists. Das Zentrum des Streambait-Pops, der manchmal auch noch andere Einflüsse hat: "Vielleicht ein bisschen Hip-Hop oder ein Fingerschnippen." Die da schnippt ist nicht Liz Pelly aus den USA, sondern Michelle Leonard aus Berlin. Sie schreibt Songs für unter anderem Nico Santos, Glasperlenspiel oder Alice Merton. "Alle wollen jetzt in diese Spotify-Friday-List. Das ist, was früher die Charts waren."
    Diesen Streaming-Sound kennt sie natürlich: "Geh’ mal auf die neue Friday-List. Genau die gleiche Bpm-Anzahl." Der ist auch sehr atmosphärisch. "Es ist auch so dieses ‚Mir-ist-es-so-pseudo-Egal’. Das ist auch gerade so ein Zeitgeist-Ding: Das meine ich damit, das ist das wichtigste Instrument. Es klingt so, als würde ich jetzt im Wohnzimmer Musik machen."
    Auch Michelle Leonard hat schon einen Streambait-Song geschrieben, ohne dass sie sich das vorgenommen hat. Es ist eben der Zeitgeist, meint sie: "Auf der einen Seite ist es auch so: Ich lasse die Seelensuppe raus."
    Früher ging es um die starken Independent Woman, oder die markanten Männer, die viel zu selbstbewusst sind. Heute dürfen alle Gefühle und Unsicherheiten zeigen. Doch Streambait-Pop ist mehr als ein Zeitgeistphänomen, meint Liz Pelly.
    "Die Party ist vorbei"
    "Musikhören ist heute etwas, dass die Leute alleine machen. Zuhause, mit Kopfhörern oder am Laptop. Es ist nichts Kollektives mehr, und deshalb gibt’s auch gerade weniger dieser Komm-wir-gehen-raus-und-machen-Party-Songs. Die Themen sind viel trauriger geworden."
    Wie die Songs der 17-jährigen Billie Eilish. Sie interessiert sich nicht mehr für die Party selbst, sondern den traurigen Moment danach. Das Problem ist das System. Liz Pelly stellt klar: Sie hat nichts gegen Billie Eilish oder andere Künstler: "Das Problem dieses Phänomens ist das System, dass immer die gleichen Songs belohnt. Es wird momentan deutlich, dass die Streaming-Plattformen hauptsächlich für Popkünstler und Mainstream-Musiker arbeiten. Oder die, die genau danach klingen." Und super lässig auf dem immer gleichen Spotify-Soundteppich singen.
    Natürlich gibt es etliche Gegenbeispiele: Den Hip-Hop von Drake und Capital Bra klicken Millionen an. Ed Sheeran geht sowieso immer, Latin-Pop auch. Liz Pellys These weist dennoch auf ein zentrales Problem des Pop im 21. Jahrhunderts hin: Streaming-Dienste bringen keine Freiheiten für Künstler. Sondern führen in eine musikalische Sackgasse – mit Fingerschnippen und fluffigem Beat.