Juliane Reil: Der Titelsong "London Blues" aus dem mittlerweile achten Studioalbum von Little Axe. Neben einer Live-Band spielt er Samples von Plattentellern ein. Vor 25 Jahren eine unorthodoxe Idee, die später von Künstlern wie Beck oder Moby in den Mainstream befördert wurde.
In den 90er-Jahren wurden beide Künstler gehypt. Alles kann zum Hype werden: ein Auto, eine Band, eine Modemarke, ein Getränk – sogar ein Politiker. Anfang des Jahres erst haben wir den Martin-Schulz-Hype erlebt. Wie aus dem Nichts feierte man den SPD-Kanzlerkandidaten – vollkommen überhöht – wie den neuen Messias.
Wie kommt solch ein Hype zustande? Nach welchen Mechanismen läuft er ab? Und: Wer ist eigentlich für ihn verantwortlich? Mit diesen Fragen hat sich der deutsche Theaterkritiker, Autor und Hochschullehrer Bernd Sucher auseinandergesetzt. Er ist Herausgeber des Bandes "Was ist ein Hype?". Guten Tag zum Corsogespräch, Herr Sucher.
Bernd Sucher: Guten Tag, Frau Reil.
Reil: Was ist ein Hype? Wie würden Sie das in aller Kürze definieren?
Sucher: Ein Hype ist der Versuch, ein Produkt, welcher Art auch immer, vielleicht auch nur einen Gedanken oder den Kanzler, wie Sie gerade gesagt haben, nach oben zu befördern. Das heißt: Ein Hype kann nur funktionieren – wenn ich das schon sagen darf – mit einer Öffentlichkeit, mit einer publizierenden Medienöffentlichkeit.
Reil: Die Medien haben also eine sehr wichtige Rolle bei der Produktion eines Hypes?
Sucher: Es gibt keinen Hype ohne Medien. Es kann keinen Hype geben, der praktisch zu Mundpropaganda oder so – das funktioniert nicht. Es gibt wahrscheinlich auch noch den Hype im Netz – das funktioniert. Das sind die Klicks oder so. Dann wird über Klicks gehypt, aber ohne Medien geht es eben nicht.
"Journalisten lieben es, Dinge zu entdecken"
Reil: Aber der Hype ist ja eben die Übertreibung, die Überhöhung. Es scheint mir, der Hype ist eigentlich etwas sehr Unseriöses – und trotzdem sind Journalisten da beteiligt und haben eine wichtige Funktion. Wie erklären Sie sich diesen Gegensatz?
Sucher: Ich glaube, die Journalisten – und ich war das ja bis vor zehn Jahren – lieben es, Dinge zu entdecken und dann großzumachen. Also, ich weiß von mir, dass ich Regisseure entdeckt habe und daran gearbeitet habe, dass aus denen was wird. Das nannte man damals noch nicht Hype, sondern das hieß dann irgendwie, "Ich habe einen Regisseur gemacht". Es entsteht aus der Eitelkeit von Journalisten, wenn Sie so wollen, oder der Eitelkeit von Medienmenschen, die sich positionieren, indem sie andere Produkte – oder andere Menschen – positionieren.
"Widerspruch ändert nichts am Hype"
Reil: Kann man sich denn einem Hype als Journalist auch entziehen? Was sagen Sie da aus Ihrer Erfahrung? Dass ein Hype stattfindet zu einem Theaterstück, zu einem Film, den Sie aber überhaupt gar nicht mitmachen können?
Sucher: Das Schlimmste – oder das Beste – was man machen kann, um so was zu verhindern ist, praktisch es nicht wahrzunehmen. Ein Buch wird gehypt und ich entscheide – in der "Süddeutschen Zeitung" oder wo auch immer: Dieses Buch findet in unserer Zeitung nicht statt.
Reil: Aber ist das wirklich so? Weil in irgendeiner Form muss ich mich doch positionieren, sonst werde ich doch gar nicht wahrgenommen?
Sucher: Das Verrückte ist ja, dass selbst wenn ich es … Also ich positioniere mich negativ in diesem Fall – also, ein Buch wird gehypt, "der tollste Roman seit Proust", und ich sage: Das ist nicht so. Komischerweise führt diese Negation des Hypes weiterhin zum Hype, weil dieses Ding wird ja verhandelt. Solange etwas verhandelt wird, bleibt es im Hypestream, wenn Sie so wollen. Selbst der Widerspruch ändert nichts am Hype. Es gab ja auch für "Toni Erdmann", das ist ja dieses Buch, negative Kritiken. Aber schon alleine, dass jemand mitmacht – auch auf der falschen Seite für die Produzenten – bleibt der Hype bestehen.
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Claqueure gibt es auch heute noch
Reil: Bei dem Film "Toni Erdmann", den Sie jetzt gerade schon erwähnt haben, war es ja so: Im Prinzip aus dem Nichts heraus ein ganz starker Film, der in Cannes eben gefeiert wurde und dann unheimlich viele Preise eingeheimst hat. Und dann ist er auf einmal verschwunden für meine Wahrnehmung. Wie endet denn eigentlich ein Hype? Verschwindet der so im Nichts? Oder gibt es da auch ganz starke Brüche?
Sucher: Ich glaube, der verläppert sich. Der verläppert sich, weil nicht mehr darüber geredet, nicht mehr darüber geschrieben wird. Und der Anfang des Hypes ist ja auch wahrscheinlich nicht – also, das versuchten wir rauszukriegen in diesem Bändchen, in diesem Band; dieser Hype ist ja wahrscheinlich initiiert worden von den Produzenten dieses Films. Wir haben lange versucht, mit den Produzenten, mit der Agentur, die für die ganze Medienbeschallung dieses Films zuständig war, richtige Interviews zu führen. Das war nicht möglich. Maren Ade hat gesagt: Wenn es denn ein Hype ist, dann müssen andere darüber reden, aber nicht ich – und empfahl da die Produzenten und diese Medienfirma, diese Agentur. Und die haben sich sehr, sehr gewunden, weil die Frage war natürlich: War diese Pressevorführung bei diesen Festspielen irgendwie anders? Haben die die Journalisten anders gekriegt? Ganz schlicht: Wohnten die im Carlton auf Kosten der Produzenten oder kriegten die nur Champagner und keinen Kaffee? Solche Dinge wollten wir rauskriegen mit meinen Studenten zusammen, und da entzogen die sich.
Ich glaube erstens: Was wahrscheinlich wirklich stimmt ist, dass kein Mensch von einer Frau – und einer deutschen noch dazu – so einen Film erwartet hat. Plötzlich machten die Deutschen was, was nicht Wim Wenders war oder so. Das war Nummer eins, also die Erwartungshaltung an diese Nation und diese Kulturnation ist eine andere als dieser Film. Und vielleicht haben die auch nachgeholfen. Ich meine, wir kennen das ja auch aus Theatern: Seit dem 18. Jahrhundert gibt es Claqueure, die wurden dafür bezahlt, dass sie jubeln oder "buh" rufen. Das gibt es ja heute auch noch. Wer weiß denn, was an diesem Vorführtag in Cannes passiert ist? Ob da Menschen drin saßen, die sofort sich totgelacht haben und alle lachten mit?
"Jeder in den Medien ist ein potenzieller Pusher"
Reil: Hype als kapitalistische Kulturtechnik, konnte ich in dem Buch lesen "Was ist ein Hype?". Können Sie mir da auf die Sprünge helfen? Warum ist der Kapitalismus prädestiniert für den Hype?
Sucher: Der Kapitalismus will ja verkaufen. Der Film soll ja auch verkauft werden, so wie ein Jaguar verkauft werden soll. Einen Hype gibt es nicht in kommunistischen Gesellschaften, weil es auch keine Werbung gab. Also, sie hatten in der DDR keine, sie hatten in Russland keine. Es funktioniert nur, wenn ein Produkt, ein Mensch oder wer auch immer verkauft werden soll.
Reil: Sind wir denn 2017 gerade besonders anfällig für Hypes?
Sucher: Wir wollen immer noch mehr das Neue, verstehen Sie? Diese Schnelligkeit führt dazu – deshalb ist Erdmann ja auch schon wieder weg –, dass man immer wieder etwas anderes pushen will. Und jeder, der in diesen Medien arbeitet, ist sozusagen ein potenzieller Pusher. Und wenn alle dieses Pushen wollen, dann gibt es plötzlich 70 verschiedene Hype-Filme und 70 verschiedene Hype-Autos und so weiter. Klar sind wir anfällig, besonders anfällig. Aber das kommt durch diese Medienpräsenz.
Bernd Sucher (Hg): "Was ist ein Hype?"
Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2017. 120 Seiten, 14,90 Euro
Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2017. 120 Seiten, 14,90 Euro
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