"Ich war lange Zeit Religionslehrerin und merkte, dass viele der Schwierigkeiten meiner Schülerinnen daher kamen, dass sie gesellschaftlich und politisch so verdummt waren oder zerstört waren, dass die Botschaft des Evangeliums ihnen gar nichts sagen konnte in ihrem Zustand, wie sie waren", erklärt Dorothee Sölle im Juli 1969 in der Fernsehsendung "Zu Protokoll" im "Südwestfunk":
"Und von daher hat sich für mich also immer stärker die Nötigung ergeben, die Gesellschaft, in der wir leben, mit zu reflektieren, wenn von Theologie die Rede ist."
Religion und Politik zusammen denken, um die Menschen zu erreichen - das war die Lebensaufgabe der evangelischen Theologin, Dichterin und Schriftstellerin Dorothee Sölle. Und diese Lebensaufgabe wird besonders greifbar in den Politischen Nachtgebeten. Sölle und einige Mitstreiter entwickeln sie 1968, vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs und anderer gesellschaftspolitischer Streitthemen.
Sölle: "Die Verheißung, die etwa in der Bibel ausgedrückt ist, dass jeder Mensch die Chance des ewigen Lebens hat, die ermutigt uns dazu, an einer Veränderung der Zustände zu arbeiten, so dass auch der Einzelne ein erfülltes Leben gewinnen kann."
Premiere auf dem Katholikentag 1968
Die Idee für die Politischen Nachtgebete entsteht im Ökumenischen Arbeitskreis Köln. Zu dem zählt neben Sölle damals etwa der Schriftsteller Heinrich Böll und Sölles späterer Ehemann, der Theologe Fulbert Steffensky. Sie vertreten linke Positionen: gegen den Kapitalismus, gegen den Vietnamkrieg, für Einmischung und Engagement.
Die evangelische Kirche in Köln untersagt die Nachtgebete deshalb zunächst, sodass sie ihre Premiere beim Katholikentag in Essen haben, Anfang September 1968. Ihren Namen verdanken die Nachtgebete der späten Stunde: Sölle und ihre Mitstreiter bekommen die Anfangszeit 23 Uhr zugewiesen.
ich glaube an gott /der die welt nicht fertig geschaffen hat / wie ein ding das immer so bleiben muss / der nicht nach ewigen gesetzen regiert / die unabänderlich gelten / nicht nach natürlichen ordnungen / von armen und reichen / sachverständigen und uniformierten / herrschenden und ausgelieferten (Auszug aus dem "Credo" von Dorothee Sölle)
Ab Oktober '68 dürfen die Politischen Nachtgebete dann einmal im Monat in Köln stattfinden. In der katholischen Kirche St. Peter werden sie zwar kurzfristig noch untersagt, doch es klappt dann in der evangelischen Antoniterkirche – im Zentrum der Stadt und mit früherer Anfangszeit: 20:30 Uhr, da kann man vorher noch die Tagesschau gucken und sich politisch updaten.
"Wir Christen sind daran schuld"
Denn die Nachtgebete verhandeln aktuelle politische Themen: am 1. Oktober '68 zum Beispiel die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des kommunistischen Warschauer Paktes. Erst wird die politische Situation geschildert, dann aus der Bibel gelesen - in diesem Fall aus der Bergpredigt - und dann werden die Worte Jesu auf die aktuelle Situation hin ausgelegt:
"Ich aber sage Euch: Wer auch nur denkt, dass die Kommunisten jetzt ihre Maske fallengelassen haben, so dass Entspannungspolitik falsch ist, der macht sich schuldig." (Auszug aus dem Politischen Nachtgebet in Köln am 1. Oktober 1968)
Sölle: "Wir sagen den Leuten ja nicht nur: Die Gesellschaft ist böse. Oder: Die da oben sind böse. Sondern wir sagen im Wesentlichen ja: Wir Christen sind daran schuld, dass in diesem Lande diese und jene Zustände herrschen. Wir haben noch nicht eine andere Ordnung des Strafvollzugs gefunden. Wir beuten die Entwicklungsländer aus und verdienen also an jeder Banane, die wir essen, weil wir sie ja so ungerecht essen."
Zum ersten Nachtgebet in Köln kommen über 1 000 Menschen, die Antoniterkirche ist völlig überfüllt, und schon bald gibt es auch in anderen Städten ähnliche Formate. Den Erfolg der Politischen Nachtgebete erklärt die Historikerin Katharina Kunter mit deren Einzigartigkeit:
"Sie sind eigentlich in dieser Form, dass man wirklich das Politische persönlich und kirchlich zusammenbringt, die einzige spirituelle Form der politischen Linken in dieser Zeit geworden, die mit großem Erfolg eine Menge Leute angezogen haben, junge Leute angezogen haben, die in die alte Form von Gottesdienst überhaupt nicht mehr gegangen sind."
"Nicht nur Kirche der alten Männer"
"Da war dann Dorothee Sölle für uns eine Erlösung", sagt Hans Otte. Er war 18 Jahre alt und ging in Hannover zur Schule, als Dorothee Sölle in Köln die Politischen Nachtgebete etablierte:
"Die bot ein Verständnis von Theologie und Kirche an, mit dem wir uns identifizieren konnten und sagen konnten: Ja, das ist auch Kirche und das ist nicht die Kirche nur der alten Männern, sondern da wird doch versucht, Kirche auch darzustellen als jemanden, der vorwärts drängt und Menschenrechte auch einfordert."
Das kommt damals aber nicht überall in den Kirchen gut an, vor allem nicht bei den Kirchenleitungen. Dort werden die Politischen Nachtgebete auch schon mal als "Götzendienst" bezeichnet. Besonders polarisiert das von Dorothee Sölle abgewandelte Glaubensbekenntnis.
ich glaube an jesus christus / der aufersteht in unser leben / dass wir frei werden/ von vorurteilen und anmaßung / von angst und hass / und seine revolution weitertreiben / auf sein reich hin (Auszug aus dem "Credo" von Dorothee Sölle)
Die Politischen Nachtgebete gibt es in Köln bis 1972 - aber bis heute prägen sie die Kirchen, sagt die Historikerin Katharina Kunter:
"Die Form der Politischen Nachtgebete hat sich als ein Element auch später in vielen Liturgien immer wieder abgewandelt gezeigt."
"Eine andere Möglichkeit sehe ich kaum für das Christentum"
Sölle hatte also Erfolg, denn mit ihrer Verbindung von Religion und Politik wollte sie etwas bewegen - in der Welt, besonders aber auch im Christentum, wie sie 1969 im Interview beim "Südwestfunk" gesagt hat:
"Ja, das halte ich nicht nur für möglich, sondern ich bin dessen sogar relativ sicher, dass das Christentum in einiger Zeit doch mehr oder weniger verschwunden sein wird, oder dass es einen solchen Weg, in dem Glaube und Vernunft sich versöhnen - oder Glaube und Aufklärung miteinander arbeiten - gehen wird. Eine andere Möglichkeit sehe ich kaum für das Christentum. Also wenn es überhaupt Zukunft haben soll, dann muss es auch den kritischen Fragen standhalten, kann nicht vor diesen Fragen in einen irrationalen Bereich ausweichen."
Dorothee Sölles Credo ist heute Geschichte. Oft nostalgisch verklärt, manchmal Feindbild. Im kirchlichen Tagesgeschäft ecken die Nachtgebete nicht mehr an.