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Trinken ohne Eile

Der Moment, den alle fürchten: wenn kurz vor elf die letzte Bestellung ausgerufen wird. Ein Startsignal in den Pubs auf der Insel, das Gedränge auslöst an der Theke. Die letzte Gelegenheit sich mit meist gleich noch einigen Glas Alkohol einzudecken, die dann hastig ausgetrunken werden. Denn Minuten später - gegen viertel nach elf - werden die beliebten Kneipen gnadenlos geschlossen, so wie das Gesetz es vorschreibt. Doch die letzte Runde dieser Panikbestellungen ist eingeläutet. Die Regierung macht jetzt tatsächlich Ernst mit ihrem Plan, die umstrittene Sperrstunde zu kippen. Aus London berichtet Martin Zagatta.

05.09.2005
    Flexiblere Öffnungszeiten würden auch dazu beitragen, unter Alkoholeinfluss begangene Vergehen und Krawall zu vermindern. So verteidigt Kulturministerin Tessa Jowell die Abschaffung der Sperrstunde ab November. Zwei Drittel der britischen Pubs haben Schanklizenzen mindestens bis Mitternacht beantragt und bis zwei Uhr morgens am Wochenende. Einige Pubs und 90 Prozent aller Clubs wollen dann noch länger offen bleiben, teilweise die ganze Nacht hindurch.

    Er habe einige Zeit im Ausland verbracht und wünsche sich dieselbe Freiheit wie anderswo. Dass der Wunsch des Pub-Besuchers nun Wirklichkeit wird in England und Wales, kommt fast einer Kulturrevolution gleich. Schließlich gilt die frühe Sperrstunde schon seit dem Ersten Weltkrieg. Damals war sie eingeführt worden, um sicherzustellen, dass die Arbeiter in den Munitionsfabriken einigermaßen nüchtern und pünktlich ihren Dienst antraten.

    Die Abschaffung der Sperrstunde und die verlängerten Öffnungszeiten sind allerdings auch höchst umstritten. Ruhestörungen bis tief in die Nacht hinein befürchten jetzt viele, die in der Nähe von Pubs wohnen. Nachbarschaftsvereinigungen haben massenweise Einsprüche eingereicht. Und Ärzte, die Notaufnahmen der Krankenhäuser und Suchtexperten warnen, dass dem Alkoholismus in Großbritannien jetzt erst recht Tür und Tor geöffnet werde. Die Polizei geht von erheblichen Schwierigkeiten aus, wenn die Schanklizenzen jetzt ausgedehnt werden - ohne die Einstellung von zusätzlichen Beamten drohe ein Chaos.

    Je mehr Alkohol man den Leuten zu trinken gibt, je mehr Möglichkeiten man ihnen gibt, um so betrunkener werden sie, meint Andy Trotter von der Londoner Polizei. Die Verlängerung der Öffnungszeiten, so befürchtet er, werde zu einer Zunahme von Gewalt und Krawall führen. Die Polizeiführung spricht von einer Erlaubnis zum 24-Stunden-Trinken und verweist darauf, dass die Briten schon jetzt ein großes Problem mit dem so genannten Binge-Drinking haben, eine Art Kampftrinken, an dem sich auch immer mehr Frauen beteiligen.

    Die Regierung dagegen glaubt, gerade mit flexibleren Öffnungszeiten dem hastigen in sich hinein schütten vor der Sperrstunde ein Ende machen zu können. Mit dem neuen Gesetz hat sie die Zuständigkeiten für die Schanklizenzen auf die Kommunen übertragen, die jetzt auch für Beschwerden und Einsprüche von Nachbarn verantwortlich sind. Krawallmacher können künftig - ähnlich wie Fußball-Hooligans - mit einem Kneipenverbot bestraft werden. Pubs, die an Betrunkene ausschenken oder Ruhestörungen dulden, soll die Schließung drohen. Handhabe genug für die Behörden, argumentiert die Linksregierung, zur Freude der Nachtschwärmer.

    Pub-Besuche seien doch etwas sehr britisches - und so früh wie bisher zu schließen, passe dazu einfach nicht. Zustimmung an der Theke zu der Politik der Regierung. Zumindest in den Pubs scheint Tony Blair gewillt, das Versprechen einzulösen, das er bei seinem Amtsantritt vor acht Jahren abgegeben hat: Großbritannien grundlegend zu verändern.