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Triosonaten von Bach
Verschollenes wurde rekonstruiert

Es fehlen Urfassungen im Katalog von Johann Sebastian Bach, sagt das Ensemble NeoBarock und es hat den Versuch unternommen, diese Fassungen selbst wiederherzustellen. Auf welchen Indizien diese These fußt, erzählt Maren Ries, Mitglied von NeoBarock im Interview.

Geigerin Maren Ries im Gesrpäch mit Susann El Kassar |
    Mitglieder eines Klavierquintett mit ihren Instrumenten auf der Bühne
    Das Ensemble NeoBarock macht Forschungsthesen hörbar. (Peter C. Theis)
    Susann El Kassar: "Das Ensemble NeoBarock hat auf seiner neuen CD "Metamorphose" vier Werke von Johann Sebastian Bach aufgenommen, die es in dieser Form bislang nicht gab. Das ist kein neu komponierter Bach, aber es sind neue Fassungen von Werken, die bislang als Sonaten für Viola da Gamba und Cembalo bekannt sind oder auch als Doppelkonzert für zwei Geigen, Streicher und Basso continuo. NeoBarock spielt diese Kompositionen als Triosonaten für zwei Geigen und Basso continuo. Hinter diesen Bach-Bearbeitungen steckt Forschungsarbeit, und auf welchen Quellen die beruht und was die Erkenntnisse sind, darüber habe ich vor kurzem mit Maren Ries, Geigerin bei NeoBarock, gesprochen. Und meine erste Frage an sie war, wieso ausgerechnet die Triosonate für zwei Geigen und Basso continuo die Zielform der Bearbeitungen auf der CD "Metamorphose" war."
    Maren Ries: "Also, es ist eigentlich die Ursprungsform, und es ist überhaupt diejenige Form des Barock, also die Standardbesetzung im Barock ist die Triosonate. Die Standardbesetzung von den Instrumenten her ist da normalerweise auch zwei Geigen und Continuo. Das war die Grundform des Barock.
    Was wir jetzt sozusagen versucht haben zu rekonstruieren, ist die Frühfassung der Werke, die wir von Bach kennen, in diese Ursprungsform, wie Bach sie wahrscheinlich in seiner Jugend auch geschrieben hat."
    Rekonstruktion von verschollenen Urfassungen
    El Kassar: "Das heißt - deswegen sagen sie Ursprungsform - die These ist, dass Johann Sebastian Bach diese Werke, also beispielsweise das Doppelkonzert für zwei Violinen, ursprünglich als Triosonate geschrieben hat und diese Urfassung uns aber verlorengegangen ist."
    Ries: "Genau das, was wir heute kennen, wo wirklich die Noten überliefert sind - man sie deswegen auch hauptsächlich spielt - sind eigentlich späte Fassungen aus seiner Leipziger Zeit. Er war aber natürlich, bevor er in Leipzig war, zum Beispiel in Weimar, in Köthen, und dort war vor allen Dingen Kammermusiker, und dort hat er höchstwahrscheinlich diese ganz normale Form, die Triosonate, komponiert.
    Wir haben interessanterweise von Bach eigentlich nur eine wirkliche Triosonate, die auch noch mit zwei Flöten überliefert ist, also gar nicht diese Standardbesetzung mit zwei Violinen und Basso continuo, sondern mit zwei Flöten und basso continuo, das ist die G-Dur Sonate; und man hat sich schon ganz lange gewundert, wo ist denn eigentlich die ganz normale Triosonaten-Besetzung bei Bach? Wo ist die verloren gegangen? Es scheint tatsächlich verlorengegangen zu sein. Vielleicht haben wir ja nochmal irgendwann Glück, dass wir die Sonaten, die wir jetzt versucht haben zu restaurieren, tatsächlich wiederfinden. Wir haben versucht, diese frühen Werke wieder zu finden bzw. wir finden sie im Moment nicht wirklich in Papierform, sondern dann zu rekonstruieren.
    El Kassar: "Was sind denn Anhaltspunkte für diese These, dass ausgerechnet diese vier Stücke in einer früheren Fassung existiert haben müssen?"
    Gambensonate, die wenig Instrumentenspezifisches zeigt
    Ries: "Vielleicht könnten wir bei den Gambensonaten anfangen: Wenn Sie an eine Gambe denken, dann erwartet man bei einem Stück für Gambe und obligates Cembalo in der Gambenstimme bestimmte instrumentenspezifische Klänge. Eine Gambe ist eigentlich dafür bekannt, dass sie Doppelgriffe, Arpeggien spielt. In den Gambensonaten bei Bach gibt es so etwas gar nicht. Es gibt vielleicht drei Doppelgriffe, die dann sehr vereinzelt plötzlich auftreten in den Sonaten, wo man sofort denkt: 'Oh, das ist irgendwie komisch. Vielleicht war das nicht die Ursprungbesetzung'."
    El Kassar: "Aber da muss ja eine zweite Stimme existiert haben. Wo ist sie denn hin verschwunden bei der Fassung für nur zwei Instrumente?"
    Ries: "Die hat sich sozusagen aufgelöst im Cembalo. Also, wir reden jetzt immer über Triosonaten. Das Barock kennt das Trio als Kompositionsform. Das bedeutet immer ein Bass. Das ist in dieser Variante mit der Gambe die linke Hand des Cembalos. Dann hat der Cembalist aber noch eine rechte Hand. Da spielt er sozusagen eine Melodiestimme. Und dann ist noch die Gambe da, die die andere Melodiestimme spielt. Also es sind zwei Personen am Werk, aber wir haben insgesamt drei Stimmen.
    Und wenn man das jetzt in die Triosonaten-Fassung, wie das Barock sie eigentlich kennt, zurückführt, haben wir wieder die linke Hand des Cembalisten spielt den Bass, damit seine rechte Hand nicht arbeitslos wird, unterstützt er diesen Bass mit Improvisationen, Harmonieausfüllungen. Seine Melodiestimme, die früher die rechte Hand gespielt hat, ist aber jetzt frei. Und da kommt das zweite Melodieinstrument ins Spiel. Dort kann man jetzt zum Beispiel eine Geige, eine Traversflöte, eine Oboe benutzen.
    Da muss man natürlich gucken: Wie ist der Ambitus dieser Stimme? Was könnte da überhaupt passen? Und da sind wir jetzt schon total drin in diesem ganzen Finden und Suchen. Für was könnte das mal eigentlich gestanden haben, diese Stimme. Und das, was heute als Gambenstimme überliefert ist, hat eben dieses Indiz: Wieso ist das so unspezifisch Gambe? Hat Bach vielleicht plötzlich einen Gambisten getroffen, der gesagt hat 'Hey, wollen wir heute Abend nicht Musik machen? Hast du noch was? Und er hatte nichts und hat gesagt Okay, wir machen das alte Trio halt zu zweit.'"
    El Kassar: "Und das heißt, das noch einmal klar zu ziehen. Sie haben jetzt für die Erstellung dieser ursprünglichen Triosonaten-Fassungen nichts erfinden müssen, sondern sie mussten sich nur das Material, was wir haben, sehr genau angucken und dann ein bisschen umsortieren."
    Nichts hinzuerfunden, alles stammt von Bach
    Ries: "Genau. Ganz exakt. Ich sage immer bei dieser Platte, weil natürlich viele sagen Was hast du denn da komponiert? Ich habe gar nichts komponiert.
    Jeden Ton, den Sie hören, der ist von Bach. Und genau: ich musste umsortieren. Also eigentlich ist es bei den Gambensonaten wirklich ganz leicht. Sie nehmen die linke Hand des Cembalisten spielt identisch weiterhin die Basso continuo Gruppe nennt man das, also immer noch ein Cembalo, eventuell unterstützt durch ein Cello. Das war auch relativ normal, ist bei uns auch eine Aufnahme so. Und die rechte Hand kann direkt von der Geige gespielt werden, weil es in diesem Fall eben auch so ist, dass die Komposition im Original wahrscheinlich für zwei Geigen und continuo war. Das heißt, man musste auch nicht groß was umlegen. Anders ist das manchmal, wenn es zum Beispiel Stücke gibt, die dann in der späteren Fassung ein anderes Instrument bekommen haben. Zum Beispiel bei der Fassung für zwei Traversflöten. Da sieht man bei der G-Dur Sonate ziemlich genau, dass es manchmal Brüche gibt, weil eine Traversflöte einfach nicht so tief spielen kann. Da hört man eine Tonleiter, die plötzlich nach oben abbricht. Er musste was umlegen, und so was kann man dann natürlich zurückführen und eine Geige weiter nach unten spielen lassen.
    Das war jetzt tatsächlich bei den Gambensonaten gar nicht häufig der Fall, dass das passieren musste, weil es tatsächlich sehr, sehr geigerisch liegt, das war für mich auch immer so der Punkt, wenn wir das dann ausprobiert haben. Manchmal hat man einfach als ausübenden Musiker das Gefühl: 'Ja, das passt!' Und vielleicht – die Gambisten mögen es mir verzeihen – es funktioniert teilweise sogar besser. Ich kann viel besser mit einer zweiten Geige spielen und das in Klangbalance bringen als mit einer rechten Hand eines Cembalos, was meist etwas zu leise ist. Das hatten wir ganz extrem das Gefühl bei der A-Dur Sonate BWV 1015.
    Bessere Balance zwischen den zwei Melodiestimmen
    Das ist ja original tatsächlich eine Sonate für obligates Cembalo und Violine, und die zweite Stimme, also wieder die rechte Hand des Cembalisten haben wir mit der zweiten Violine besetzt. Auch bei dieser Sonate gibt es viele Indizien, weshalb das so gewesen sein kann. Und da hatte ich erstmalig das Gefühl 'Oh, ich habe einen Partner in der anderen Violinstimme, mit dem ich wirklich, mit dem ich auch ein Forte austauschen kann, oder auch ein ganz leises Piano, ohne zu denken, ups! jetzt hab ich leider das obligate Cembalo doch überspielt.'"
    El Kassar: "Dieses Problem, dass man da nicht den richtigen Sparringspartner hat, das gibt es jetzt beim Doppelkonzert für zwei Violinen nicht. Wie ist denn da die Quellenlage? Was sind die Indizien, die darauf hinweisen, dass es ursprünglich ne Triosonate war.
    Ries: "Ja, das ist sogar ein ganz, ganz eindeutiges Indiz. Und trotzdem hatte ich tatsächlich bei dieser Sonate am meisten Angst, dass die Leute sagen 'Oh Gott, was machst du mit dem Doppelkonzert?' Interessanterweise ist es jetzt genau andersherum. Viele sagen die Gambensonaten, die höre ich doch lieber als Gamben und das Doppelkonzert: Oh ja, so kann es gewesen sein. Das Haupt Indiz ist: Bei Bach gibt es in einer Fuge, und der erste Satz vom Doppelkonzert ist quasi in der Art einer Fuge geschrieben, hat jede Stimme, die vorkommt, ein Thema. Die Themen werden einfach nacheinander vorgestellt, und die Viola, die aber im Doppelkonzert normalerweise besetzt ist, hat kein Thema. Und das ist bei einer Fuge an sich schon sehr speziell. Bei Bach ist es meiner Meinung nach undenkbar. Ich kenne keine Fuge von Bach, keine Fugenexposition, wo eine Stimme kein Thema hat. Und es zeigt eigentlich, dass es nur eine Hinzufügung war, dass auch dort vielleicht eine Triosonate vorlag, die bereits in Köthen komponiert hatte und wo er vielleicht im Kaffeehaus in Leipzig mehr Spieler zur Verfügung hatte und dachte 'Oh Mensch, ich hab so viele Schüler, die müssen jetzt irgendwie auch ran, und ich brauche noch ein kleines Orchester, und die Bratsche brauche jetzt noch eine Füllstimme'.
    El Kassar: "Jetzt heißt das, dass die Werke, die wir auf dieser CD haben, rekonstruierte Urfassungen von Bach sind. Und müssten wir dann, wenn wir Ihrer Logik folgen, sagen, dass es eigentlich die richtige, die wir im Konzert spielen sollten?"
    Ries: "Das fände ich jetzt ein bisschen hart, weil es sind ja doch nur Thesen. Theoretisch klar: Es ist die Erstfassung. Man kann aber genauso gut andersherum argumentieren. Man kann sagen, er hat sich vielleicht später weiterentwickelt, und die spätere Fassung ist vielleicht doch eine bessere Fassung. Also ich wäre da vorsichtig, mit was besser ist. Bei Bach steht sowas ja ganz viel nebeneinander. Wir haben das jetzt eigentlich erstmalig so bis zu Ende gedacht und wirklich eingespielt im Bereich der Kammermusik.
    Wir kennen das von Bach, und darauf fußt ja auch meine ganze These. Wir kennen das im Konzertschaffen, im Kantatenschaffen. Dort gibt es von Bach glücklicherweise wirklich die nebeneinanderstehenden, überlieferten Noten. Also gerade beim Doppelkonzert ist es ja so Wir haben das Doppelkonzert für zwei Violinen wirklich überliefert als Noten. Wir haben aber auch zehn Jahre später von ihm selbst überarbeitete Konzert für zwei Cembali, also das gleiche Konzert wie das Doppelkonzert, einen Ton runter transponiert von ihm selbst für zwei Cembali und Streicher. Und da fragt sich heute niemand 'Was ist das bessere Konzert? Das d-Moll Doppelkonzert für zwei Violinen oder das c-Moll-Doppelkonzert für zwei Cembali?' - da fängt man eigentlich auch nicht an, etwas besser zu finden. Also jeder persönlich kann das natürlich für sich machen."
    Metamorphose - Bachs verlorene Triosonaten
    Rekonstruktion der vermuteten Urfassungen von BWV 1015, 1028, 1029 und 1043
    Ensemble NeoBarock
    ambitus