Die Spaltung der Gesellschaft steht derzeit hoch im Kurs in der französischen Literatur. Nicht nur hat Nicolas Mathieu für seine literarische Milieustudie "Wie später ihre Kinder" den Prix Goncourt erhalten. Didier Eribon, Édouard Louis und natürlich Michel Houellebecq haben mit ihren Essays und Fiktionen über die sozialen Verwerfungen der Gegenwart viel Aufmerksamkeit erhalten. Auch in Tristan Garcias jetzt auf Deutsch vorliegendem Roman "Das Siebte" steht die Suche nach der eigenen Identität in einer zerklüfteten Gesellschaft im Mittelpunkt. Es geht um eine Fantasie-Szenerie, in der ein namenloser Held gleich sieben Mal nach seiner Identität und seinem Weg zum Glück suchen darf: Sobald er stirbt, beginnt ein neues Leben samt Erinnerungen und Erfahrungen aus seinen früheren Existenzen. Im Alter von sieben Jahren erleidet Garcias Ich-Erzähler – immer aufs Neue - heftiges Nasenbluten, ein geheimes Zeichen seiner Unsterblichkeit, wie ein obskurer Arzt namens Fran dem kleinen Jungen in einem Pariser Krankenhaus verrät:
"- Wenn ich nicht sterbe, was wird dann aus mir?
- Christus ist auferstanden, aber mehr auch nicht: Er ist nur ein Mal ins Leben zurückgekehrt, danach ist er für immer in den Himmel verschwunden. Du jedoch wirst lange leben, ans Ende gelangen und wiederkommen, einmal, zweimal, dann noch einmal und immer wieder.
- Woher wollen Sie das wissen?
- Ich habe es in einem Buch gelesen, und ich weiß es. Überleg mal, ob du tief drinnen etwas Besonderes spürst."
Ich dachte nach.
- Ich weiß nicht.
- Es ist ganz einfach, Kumpel: Du musst daran glauben. Wenn du an dem, was ich sage, zweifelst, kann ich dir nichts garantieren. Sonst verspreche ich dir das ewige Leben. Deal?
- Ok."
- Christus ist auferstanden, aber mehr auch nicht: Er ist nur ein Mal ins Leben zurückgekehrt, danach ist er für immer in den Himmel verschwunden. Du jedoch wirst lange leben, ans Ende gelangen und wiederkommen, einmal, zweimal, dann noch einmal und immer wieder.
- Woher wollen Sie das wissen?
- Ich habe es in einem Buch gelesen, und ich weiß es. Überleg mal, ob du tief drinnen etwas Besonderes spürst."
Ich dachte nach.
- Ich weiß nicht.
- Es ist ganz einfach, Kumpel: Du musst daran glauben. Wenn du an dem, was ich sage, zweifelst, kann ich dir nichts garantieren. Sonst verspreche ich dir das ewige Leben. Deal?
- Ok."
Verfall, Enttäuschungen, Unbill
Diesen Deal wird Garcias Ich-Erzähler noch bitter bereuen, denn das Leben, das ist der Tenor der sieben Lebensgeschichten, ist gezeichnet von Verfall, Enttäuschungen und Unbill. Nachdem er jeweils im Alter von sieben Jahren seinen vertrauten Fran kennenlernt, zieht Garcias Held mit siebzehn endgültig aus der Provinz nach Paris und lernt dort während des "Winteraufstands" seine Lebensliebe kennen, die blonde, hagere "Hardy".
"Zu jener Zeit entstand als Folge der langen Wirtschaftskrise, die die Stimmung im Land erhitzt hatte, eine neue Bewegung, Wir waren halb Zuschauer, halb Akteure des Aufstands, weil wir keiner Organisation angehörten und die Politik mit dem gesunden Menschenverstand der Naiven reflektierten. Andere unter Hardys Freunden hatten sich seit langem radikalisiert und prophezeiten einen Bürgerkrieg: Nichts hielt mehr zusammen. In Paris kam es bei den großen Winterstreiks zum Zusammenstoß mit den Ordnungskräften; wir demonstrierten gemeinsam mit unseren Kommilitonen im Schneetreiben. Wenige Meter vor unserer Riege gab es drei Tote: Ich bekam Angst und wollte Hardy in Sicherheit bringen."
Tristan Garcia hat "Das Siebte" ursprünglich im Jahr 2015 veröffentlicht, wenige Monate vor den ersten Studentenprotesten der "Nuit débout", auf die später die gewalttätigen Ausschreitungen der Gelbwesten folgten. Man darf dem Autor also durchaus eine bemerkenswerte Voraussicht bescheinigen. "Das Siebte" ist dabei nur der letzte Teil eines – natürlich – siebenteiligen Roman-Zyklus'. In dem retten sich die Menschen vor dem Kapitalismus und der "Industrie der Traurigkeit" durch eine ominöse Droge, die sie in ein anderes Lebensalter befördert. In einem anderen Szenario lebt man in so genannten "Hemisphären", in streng voneinander getrennten weltanschaulichen, politischen, ethnischen oder anderweitig hochspezialisierten Identitäts-Gruppen. Dann wieder durchstreift eine enttäuschte Sozialistin als Phantom die revolutionäre Zukunft, oder ein hippiesker Guru schart in einem "Forschungszentrum für Hypothesen" im Namen des "autoritären Relativismus" seine Anhänger um sich: Glaube was du willst, aber lass die anderen damit zufrieden.
"Die Welt war schlecht gemacht"
An zündenden sozialkritischen Ideen mangelt es Romanautor Tristan Garcia, der Schüler des kommunistischen Alt-Philosophen Alain Badiou war, keineswegs. Die Handlungsmotive des Zyklus' werden in seinem 300-seitigen Roman "Das Siebte" wieder aufgenommen und an einem der sieben Leben seines Ich-Erzählers exemplifiziert. Ausgestattet mit dem Wissen mehrerer Menschenleben, kann der zwar seine Unsterblichkeit wissenschaftlich erklären, muss dabei aber erkennen:
"Die Welt war schlecht gemacht; je mehr ich über meine Erfahrungen nachsann, desto stärker wurde ich mir der Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Verzweiflung, des unsinnigen Schmerzes, des disproportionierten Kampfes, der Dummheit und des Unglücks des Menschen bewusst."
Nicht als Anführer einer Bürgerkriegsmiliz, als Schriftsteller oder Nobelpreisträger, als radikaler Hedonist oder als Beamter in der Einwanderungsbehörde in einem Provinz-Kaff, und schon gar nicht als Allmächtiger, der mit seinen Wiedergeburten das Raum-Zeit-Kontinuum manipuliert, wird dieser zutiefst verlorene Untote die Welt zum Besseren ändern oder gar zum Glück finden. Tristan Garcia begibt sich auf einen einen wilden Ritt durch Zukunftsszenarien sowie Lebensalter und –entwürfe. Seine ungebremste Erzähllust findet ihr Pendant in der Sprache: Seine Sätze wirken wie spontan hingeworfen, unbearbeitet. Garcias Romane, die beim Pariser Prestige-Verlag Gallimard erscheinen und dem Vernehmen nach längst nicht mehr lektoriert werden, haftet etwas Ungeschliffenes, Rohes an – was kein schlechtes Zeugnis sein muss, zumal dann nicht, wenn allein der Ideenreichtum die Geschichte trägt.
Lebe intensiv und kritisch!
Die Bedeutung der titelgebenden Ziffer Sieben, die auf Tugenden und Todsünden, auf den Wochenzyklus und allerlei Mystik verweist, bleibt dabei nur ein wiederkehrendes literarisch-spielerisches Motiv ohne erkennbare tiefere Bedeutung. Am Ende dieser furiosen, manchmal auch einfach haltlos absurden, ja exaltierten Geschichte einer sechsfachen Wiedergeburt stehen recht lose Erkenntnisse, die Garcia bereits in seinen Essays formuliert hat: lebe intensiv und kritisch, aber übertreib es nicht! Suche deine individuelle Identität, aber bitte nur im Rahmen eines kollektiven Gesellschaftsentwurfs. Die Revolte der Unterdrückten, der Rückzug aus der Gesellschaft, die Enttäuschungen, die jeder kritisch lebende Geist erfahren muss, das stilistische Wechselspiel zwischen sozialem Realismus und einer atemlosen Fantastik, all das fand sich bereits in Garcias zuletzt auf Deutsch erschienenem Roman "Faber. Der Zerstörer". "Das Siebte" ist zwar zwei Jahre später erschienen, wirkt aber wie eine literarische Vorstufe, in der Tristan Garcia seinen Helden auf eine abenteuerliche Reise zur totalen Selbstauflösung schickt.
Tristan Garcia: "Das Siebte"
Aus dem Französischen von Birgit Leib
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 304 Seiten, 24 Euro.
Aus dem Französischen von Birgit Leib
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 304 Seiten, 24 Euro.