In den USA ist es am Mittwoch (6.1.2021) während einer Sitzung des Kongresses in Washington zur Bestätigung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl zu Ausschreitungen gekommen. Anhänger von US-Präsident Donald Trump, der seine Niederlage nicht anerkennen will, demonstrierten zunächst vor dem Kapitol, durchbrachen dann Polizeiabsperrungen und stürmten das Gebäude schließlich. Vier Menschen kamen bei den Unruhen ums Leben. Journalisten wurden attackiert. Trump hatte seine Anhänger zuvor in einer Rede dazu aufgerufen, vor dem Sitz des Kongresses gegen das Wahlergebnis zu protestieren.
Die Sitzung des Kongresses konnte später fortgeführt werden und die Wahl des Demokraten Joe Biden zum nächsten Präsidenten wurde formell bestätigt. Dass der Kongress sich nicht habe unter Druck setzen lassen, sei die gute Nachricht, sagte der Außenpolitiker der Grünen, Jürgen Trittin, im Deutschlandfunk.
Dirk Müller: Herr Trittin, funktioniert Amerika noch?
Jürgen Trittin: Am Ende haben der Senat und das Repräsentantenhaus die lächerlichen Einsprüche mit überwältigender Mehrheit zurückgewiesen. Im Senat waren es in der Regel höchstens zehn, die das unterstützt haben. Aber das ist ein beispielloser Vorgang, wie die Feststellung eines regulären Wahlergebnisses von einem rechten Mob, von teilweise offenen Neonazis unter Beförderung des amtierenden Präsidenten versucht worden ist, wegzuputschen. Es handelte sich um einen Putsch mit Ansage, der da stattgefunden hat. Donald Trump hat Tage vorher angekündigt, man würde sehen, was am 6. Januar passieren würde – und nun haben wir es gesehen.
"Das pflegt man als Putsch zu bezeichnen"
Müller: Das war auch in den sozialen Netzwerken zu lesen. Jetzt haben wir von Experten auch gelesen und gehört, ein Putsch ist immer im Zusammenhang mit Armee, mit Militärführung und so weiter. Sie sagen: ein Putsch.
Trittin: Man kann sich die Welt natürlich schönreden. Es war der Versuch eines Putsches einer Minderheit, die nicht über jedenfalls sichtbare Waffen an dieser Stelle verfügte, um die Abgeordneten gewaltsam daran zu hindern, ihrer verfassungsmäßigen Tätigkeit nachzugehen. Das pflegt man als Putsch zu bezeichnen.
Müller: Wollen wir über die Begrifflichkeiten nun nicht beckmessern. Es ist ein Ereignis gewesen mit Gewalt, was wir noch nie in den USA so erlebt haben, erst recht auch nicht in diesem Jahrhundert, auch nicht im vergangenen Jahrhundert. Ist das ein singuläres Ereignis?
Trittin: Ich glaube, wir müssen unsere Wahrnehmung schärfen. Ich glaube, wir haben die vier Jahre Trump, die jetzt hinter uns liegen, in Europa mit der Illusion verbracht, Trump und die mit ihm streitenden, noch hinter ihm stehenden Kräfte würden das nicht meinen, was sie sagen. Und wir haben sehr lange gebraucht, um zu begreifen, dass sie meinen, was sie sagen. Das haben wir beim Iran-Abkommen, bei der Behandlung Europas, das sei schlimmer als China, erlebt und wir haben es jetzt auch erlebt. Ich habe in Europa wenige gefunden, die die Warnung, die vor drei Tagen von zehn noch lebenden US-Verteidigungsministern in der "Washington Post" aufgeschrieben wurde, die vor einem Coup, also einem Putsch gewarnt haben, wirklich ernst genommen. Da hat man gedacht, solche Leute sind vielleicht ein bisschen älter und versponnen, aber dass Menschen wie Dick Cheney und Donald Rumsfeld, die nun wirklich keiner progressiven Anwandlung verdächtig sind, eine solche Warnung meinen aussprechen zu müssen, spätestens da hätten in Europa alle Alarmglocken läuten müssen.
"Es geht um den Bestand der Demokratie"
Müller: Sie haben das auch materiell ernst genommen?
Trittin: Ja. Wenn man sieht, wie groß die Spaltung in den USA ist und wie stark die Missachtung der Institutionen mittlerweile ist. Die Wählerinnen und Wähler der Republikaner, die in der Nacht befragt worden sind, haben zu 45 Prozent erklärt, sie fänden den Sturm auf das Kapitol richtig. 70 Prozent in einer anderen Umfrage haben erklärt, es handelt sich um eine gestohlene Wahl. Vor diesem Hintergrund ist eigentlich die positive Nachricht, dass sich am Ende der Kongress nicht hat unter Druck setzen lassen, dass auch die Gerichte und die staatlichen Verwaltungen auch in den von Republikanern regierten Bundesstaaten sich nicht jenseits der Verfassung begeben haben. Das ist die gute Nachricht und die Verteidigung dieser Institutionen. Nur die Ernsthaftigkeit der Herausforderung, die wollten auch hier offensichtlich viele nicht sehen.
Müller: Also Sie sagen ganz klar, es geht um mehr, es geht tatsächlich um den Bestand der Demokratie?
Trittin: Es geht um den Bestand der Demokratie, und dieser Kampf ist nicht zu Ende. Die Republikaner, die sich jetzt sozusagen – manche sagen opportunistisch, manche sagen aus Respekt vor der Verfassung, obwohl sie lange Zeit Trump-Unterstützer waren wie Lindsay Graham oder Mitch McConnell –, die sich dann wieder auf die Institutionen und die Verfahren eingelassen haben, die sind ja der eine Teil. Der andere Teil sind diejenigen wie Ted Cruz und andere, die genau dieses Konzept fortsetzen: Wir mobilisieren den rechten Rand, wir setzen auf einen Schulterschluss mit denjenigen, die rassistisch die weiße Vorherrschaft in den USA verteidigen wollen. Und Ted Cruz' Verhalten sagt ja ganz eindeutig: Ich möchte 2024 das versuchen, woran ich 2016 wegen Trump gescheitert bin, aber ich mache das im gleichen Stil wie Trump.
Transatlantische Zusammenarbeit unter Biden
Müller: Aber die Republikaner werden es ja auch politische, rhetorisch, inhaltlich versuchen. Gewalt ist jetzt eine neue Dimension, die dazugekommen ist. Jetzt sagen Sie, das hätte man vielleicht ahnen können, viele haben darauf hingewiesen, es ist vielleicht nicht ernst genug genommen worden. Aber wie stark sind die Republikaner unter Donald Trump nach wie vor inhaltlich, um das Blatt in ein, zwei Jahren politisch auch wieder zu verändern?
Trittin: Man muss sich klarmachen, dass diese Wählerinnen und Wähler von Donald Trump mit 73 Millionen mehr waren als zum besten Wahlergebnis von Barack Obama. Da weist er ja bei jeder unpassenden Gelegenheit drauf hin. Und es war eine riesige Kraftanstrengung der Demokraten, dass sie es mit über 80 Millionen Menschen geschafft haben, dagegen zu mobilisieren. In einer Situation, die jetzt auf uns zukommt: Wir haben ein Fenster der Gelegenheit, zwei Jahre, bis zur nächsten Mid-Term-Election, die auf der einen Seite in den USA die Biden-Administration nutzen muss, um wesentliche Dinge umzusetzen, die sie versprochen haben - Investitionen in die Infrastruktur, eine andere Klimapolitik. Aber ich finde, wir Europäer sollten die Gelegenheit auch nutzen, dieses Fenster der Gelegenheit für eine neue transatlantische Zusammenarbeit zu benutzen – wissend, dass 2022 es nicht ausgemacht ist, dass nicht die Republikaner auch mit einem starken Einschlag in Richtung Ted Cruz/ Trump dann die Mehrheit holen.
Müller: Ist das kein Automatismus, wenn Joe Biden jetzt übernimmt am 20. Januar ganz offiziell, dass sich die transatlantischen Beziehungen auch wieder völlig neu darstellen werden?
Trittin: Wir haben die Chance für eine transatlantische Klimainitiative, wir haben die Chance für eine gemeinsame Kooperation in der Weltgesundheitsorganisation und wir haben die Chance, dafür Sorge zu tragen, dass die Verbreitung von Nuklearwaffen und die Rüstungskontrolle wieder eine Chance bekommt. Und diese drei transatlantischen Brücken, die sollten wir jetzt ganz schnell zu zimmern beginnen.
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