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Trittin sieht massives Unterschichtenproblem

Die SPD stichelt gegen die Grünen mit Aussagen wie "großbürgerliche Umweltfreunde". Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen, sieht das gelassen. Er kritisiert die Pläne der Regierung zu Hartz IV: "Das ist soziale Kälte vom schlimmsten."

Jürgen Trittin im Gespräch mit Silvia Engels |
    Silvia Engels: Heute ist es auf den Tag genau ein Jahr her, dass die SPD bei der Bundestagswahl mit 23 Prozent der abgegebenen Stimmen disaströs abschnitt. Kurz darauf übernahm Sigmar Gabriel den Parteivorsitz. Seitdem ist er bemüht, die Sozialdemokraten in der Opposition inhaltlich neu auszurichten. Wichtige Zwischenstation dazu sollte gestern ein eintägiger Sonderparteitag in Berlin sein.

    Am Telefon ist Jürgen Trittin. Er ist Fraktionschef der Grünen im Bundestag. Guten Morgen, Herr Trittin.

    Jürgen Trittin: Guten Morgen, Frau Engels!

    Engels: Könnten Sie sich mit dieser SPD direkt wieder eine Bundesregierung vorstellen?

    Trittin: Ich weiß nicht, wie die SPD sich entwickeln wird. Sie ist jetzt ein Jahr in der Opposition. Unverkennbar ist ein Versuch einer Neuorientierung. Die Frage von Regierungsmehrheiten stellt sich immer entlang von Inhalten, also: Kann man eine Politik machen, die beispielsweise sich dem Klimaschutz, einer anderen Energiepolitik verpflichtet sieht, die sich wieder der sozialen Gerechtigkeit in diesem Lande verschrieben hat, der Wahrung von Bürgerrechten. Hier liegt, glaube ich, bei der SPD noch relativ viel Arbeit, was die Neuorientierung angeht.

    Engels: Ein Streitpunkt zu den Grünen könnte ja vor allen Dingen der Umgang mit Migranten sein. Da hat sich ja der Ton zuletzt verschärft. Hören wir noch einmal das eine Woche alte Zitat von SPD-Chef Gabriel; er hatte gesagt, wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen. Zitat Ende. - Ist so etwas akzeptabel für die Grünen?

    Trittin: Es gibt jetzt ja die Neigung, sozusagen die Grünen und die SPD möglichst bei jeder Gelegenheit gegeneinander aufzustellen. Diese Haltung von Sigmar Gabriel war falsch. Ich glaube, viele Sozialdemokraten sehen das genauso. Wir leiden in Deutschland nicht an einem Integrations- und einem Migrationsproblem, sondern wir haben in Deutschland ein massives Unterschichtsproblem, von dem Migrantinnen und Migranten betroffen sind. Wenn wir nicht endlich dieses Unterschichtproblem angehen, wenn wir nicht anfangen, Kindern aus allen sozialen Schichten Bildungsmöglichkeiten zu erlauben, wenn wir nicht anfangen, einen Mindestlohn in diesem Land einzuführen, dann verschärfen sich die Desintegrationstendenzen. Also mehr Sozialstaat, das ist die Antwort auf das Unterschichtsproblem in diesem Lande. Und davon lenken manche Debatten häufig einfach nur ab.

    Engels: Sigmar Gabriel hat aber gestern auch ganz gut gegen die Grünen gestichelt. Er hat sie "großbürgerliche Umweltfreunde" genannt und "eine Projektionsfläche für alle möglichen, auch unerfüllbaren Wünsche". Gefällt Ihnen die Beschreibung?

    Trittin: Ich glaube, Parteitagsreden gehorchen ihrer eigenen Logik. Sie dienen dazu, die Familie zusammenzuhalten. Und dann muss man die Welt draußen in den jeweils konsensualen Farben des eigenen Ladens malen. Wenn die SPD glaubt, wir seien großwetterlich und gutbürgerlich und nur für Schönwetterwünsche da, dann mag sie das glauben. Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt das heute nicht mehr, sie sieht in den Grünen die Antwort auf die konzeptionelle Krise dieser Gesellschaft und die Antwort und die Alternative zu ehemaligen Volksparteien, die mehr und mehr in ihrer Konzeptionslosigkeit und Orientierungslosigkeit hilflos wirken. Und deswegen glaube ich, wir tragen solche Zuschreibungen auf Parteitagen mit der notwendigen Gelassenheit und konzentrieren uns auf das, was nötig ist, nämlich die Auseinandersetzung mit CDU, CSU und FDP, die in beispielsloser sozialer und ökologischer Verantwortungslosigkeit dieses Land ruinieren.

    Engels: Darauf kommen wir gleich zu sprechen. – Noch ein Blick aber auf Ihre nun derzeit sehr guten Umfragewerte. Müssen Sie sich da auf härteren Gegenwind möglicherweise aus neidischen Parteien wie der SPD einstellen?

    Trittin: Ich glaube, dass gute Umfragewerte für die Grünen bei den Mitkonkurrenten nicht nur Freude auslösen, das sollen sie auch nicht. Nichtsdestotrotz: Wir freuen uns darüber. Wir arbeiten daran, diese Stimmung auch in Stimmen umzusetzen. Unser nächstes Etappenziel ist die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg am 27. März nächsten Jahres, wo wir in Baden-Württemberg versuchen wollen, dazu beizutragen, dass Schwarz-Gelb dort keine Mehrheit mehr hat. Und da kommt es eben vor allen Dingen auf grünes gutes Abschneiden an, wie das übrigens in Nordrhein-Westfalen auch der Fall war. Da haben wir es geschafft, trotz Verlusten der SPD eine schwarz-gelbe Regierung abzulösen.

    Engels: Herr Trittin, dann schauen wir auf das große Thema dieses Wochenendes: Das ist die künftige staatliche Zuwendung für Langzeitarbeitslose. Fünf Euro mehr für Hartz IV-Empfänger im Monat, damit steigt der Regelsatz auf 364 Euro. Grüne, SPD und Sozialverbände haben schon Kritik geäußert. Scheitert dieser Plan im Bundesrat, weil SPD, Grüne und Linke dagegen sind?

    Trittin: Dieses ist zustimmungspflichtig und ich will an dieser Stelle eines sagen: Fünf Euro mehr von einer Koalition, die in der Lage gewesen ist, mal eben eine Milliarde Hoteliers zuzuschieben wie dem Herrn Mövenpick, das zeigt den ganzen Charakter dieser Koalition. Das ist soziale Kälte vom schlimmsten. Was wir bräuchten, wäre tatsächlich eine Möglichkeit, auch von Langzeitarbeitslosen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Und da sagen uns alle Wohlfahrtsverbände, das geht nicht mit diesen Kleckerbeträgen. Und sich dann noch hinzustellen und zu sagen, eigentlich müsste man ja die Hartz-IV-Sätze für Kinder noch weiter senken, aber wir sind so großzügig und tun das nicht, das ist ein Abgrund an Zynismus, der sich hier auftut, dass es einem fast ekelig wird.

    Engels: Nun hat das Umfrageinstitut Emnid aber am Wochenende ermittelt, dass sich 56 Prozent der befragten Deutschen gegen eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze aussprechen, nur 36 Prozent sind für eine Erhöhung. Wie erklären Sie sich das?

    Trittin: Ich glaube, das hat damit zu tun, dass viele Menschen zurecht das Gefühl haben, dass viele, die arbeiten, nicht genug Geld verdienen. Das löst man aber nicht dadurch, dass man Langzeitarbeitslose diskriminiert und ausgrenzt. Das schafft genau die Integrationsprobleme, auf denen man dann auf der anderen Seite gerne diskutiert. Sondern man schafft das dadurch, dass man in Deutschland endlich das einführt, was es in Resteuropa als Normalfall gibt, nämlich auch eine Untergrenze für all diejenigen, die arbeiten. Nur, wenn wir endlich einen gesetzlichen Mindestlohn in diesem Lande haben, werden wir die Lohnabwärtsspirale stoppen können. Das ist übrigens auch die beste und sicherste Antwort darauf, dass nicht Menschen im Alter in die Armut geraten. Also Mindestlohn und Anhebung der Hartz IV-Sätze, das ist die richtige Antwort, entlastet übrigens die Haushalte ungemein. Das, was wir jetzt haben, ist nämlich eine Situation, wo wir für über eine Million Menschen regelmäßig Steuergelder dafür aufwenden, um ihre Löhne, ihre zu niedrigen Löhne aufzustocken. Das zu beenden, ist eine der Hauptgründe für den Mindestlohn. Und dann ändern sich auch solche Einstellungen.

    Engels: Müssen die Grünen auf der anderen Seite nicht aufpassen, die Akzeptanz für solche Schritte in der Bevölkerung nicht zu verlieren, denn die muss am Ende das Ganze zahlen? Das heißt auch mehr Forderungsansprüche an Hartz IV-Empfänger?

    Trittin: Ich glaube, dass wir mit diesem Konzept, was ich Ihnen eben vorgestellt habe, nämlich Anhebung der Hartz IV-Sätze und gleichzeitig Einführung eines Mindestlohnes, die Haushalte entlasten und damit auf eine große Akzeptanz auch und gerade bei der Bevölkerung stoßen.

    Engels: Jürgen Trittin, Fraktionschef von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch heute früh.

    Trittin: Ich danke Ihnen. Tschüss!