"Die Musik ist der einzige Bereich, in dem der Mensch die Gegenwart realisiert." (Igor Strawinsky, 1936)
"Selbst wenn sie zu Worten gesetzt ist, überwiegt ihre eigene Magie und löscht die Gefahr der Worte. Am reinsten ist sie aber doch, wenn sie für sich spielt." (Elias Canetti, 1942)
Die Zitate des Schriftstellers Elias Canetti und des Komponisten Igor Strawinsky stammen aus Zeiten vor und inmitten des Zweiten Weltkriegs. Heute sind vollkommen andere Zeiten. Heute herrscht eine Pandemiekrise, die inzwischen zu einer Zeit der Bedrückung und der Beschwernis für körperliche und psychische Gesundheit angewachsen ist, für viele sogar zu einer tiefen Seelenkrise.
Sehnsucht nach ein bisschen Normalität
In dieser Ausnahmesituation harren wir bereits seit mehr als einem Jahr aus. So lange, dass sie ihrerseits fast schon zur Gewohnheit geworden ist, zu einer traurigen Routine. Wir sehnen uns nach einem bisschen Normalität, nach einer Rückkehr zu den Gepflogenheiten eines uns geläufigen Tagesablaufs, nach der Beweglichkeit, die unser Leben bestimmte, nach den Begegnungen und Umarmungen, die uns Freude bereiteten und uns guttaten.
Etliche von uns haben Verluste erlitten. Es sind Geliebte und Freunde verstorben, zu früh und manchmal in totaler Einsamkeit. Abschiede haben nicht stattgefunden und die Trauer konnte sich in der Öffentlichkeit nicht zeigen, weshalb man häufig gezwungen war, mit ihr alleine zu bleiben. Es wurde nach Trost gesucht, auch wenn man vom Tode in der eigenen Umgebung nichts wusste. Und dieser Trost wurde nicht selten in der Musik gefunden.
Erinnern Sie sich an die Wochen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, an das allabendliche Balkonsingen? Ein gemeinsames Trostsingen ganzer Straßenzüge? Und an das nachbarschaftliche Musizieren als Unterbrechung der grauen Misere, als kurze Aufhebung des trostlosen Eingesperrtseins? Richtig helfen konnte man einander zwar nicht, jedenfalls nicht über die kleinen praktischen Bekundungen der Solidarität hinaus, aber die Gelegenheit zum Trösten und zum Getröstetwerden wollte man nicht verpassen.
Hin und wieder gab es Trost in der Musik. Das Musizieren wirkte offenbar wie eine kleine, kurzzeitige Befreiung, wie ein Aufatmen inmitten der anhaltenden Niedergeschlagenheit, wie eine Unterbrechung der bleiernen Zeit. Im tönenden Gruß der Musik vernahmen wir die Botschaft, dass das Leben weiterhin lebenswert sei. In ihrer klingenden Aufmunterung wurde uns zugeflüstert: Verzagt nicht, denn "es gibt Geborgenheit im Schlechten", wie eine schöne Formulierung des Philosophen Peter Strasser lautet.
Musik und Trost sind offenbar so etwas wie Geschwister im Geiste. Der Eindruck ist keineswegs falsch, dass der Musik eine regelrechte Trostkompetenz unterstellt wird. Zeugnisse dieser Trostkompetenz – auch aus schwersten Zeiten – sind gar nicht so selten. Die Sängerin und Komponistin Njeri Weth aus Spangenberg bietet in Düsseldorf seit 2004 eine "Trostkonzertreihe" an. Sie singt dort "Lieder voller Trost und Hoffnung". Unlängst wurde zum 40. Geburtstag des Archivs für Frau und Musik ein "Gruß- und Trostkonzert" veranstaltet. In der Reihe "musica femina München" fand im Jahre 2019 ein Konzert statt, in dem Musik gespielt wurde, die durch die Gedichte von Nelly Sachs inspiriert waren. Eine Trostkomposition, die dort zur Aufführung kam, stammte von der jüdischen Komponistin Felicitas Kukuck:
"O die Schornsteine/niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm/o der weinenden Kinder Nacht", hieß das Stück, das Trost angesichts des Extremen zu spenden versuchte. Und die Geigerin Ariadne Daskalakis und ihr Ensemble Vintage Köln bemühten sich Ende des vorigen Jahres in einem Konzert um eine, wie es hieß, "tröstende" Interpretation barocker Violinsonaten.
Musik als "der beste Trost"
Die Welt der Töne und des Gesangs verfügt in Zeiten der großen Furcht und Bedrängnis offenbar über eine Überlebenshartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht. Nachdem die Sprache verstummt ist und die Gesten unglaubwürdig geworden sind, hat die Musik ihre Segel angesichts menschlichen Leids noch längst nicht gestrichen. Auf sie scheint Verlass zu sein, wenn alle anderen Mittel zur Trostspende ausgeschöpft sind. Elias Canetti schrieb:
"Man glaubt ihr unbedingt, denn ihre Versicherung ist eine der Gefühle. Ihr Ablauf ist freier als alles, was sonst menschenmöglich scheint, und in dieser Freiheit liegt die Erlösung. […] Man braucht aus ihr nicht zu schöpfen, denn sie ist immer schon in uns da, und es genügt, schlicht zu hören, da man sonst vergeblich lernt."
Das Vertrauen, das hier der Musik entgegengebracht wird, ist nahezu grenzenlos. Von der Musik wird Rettung in der Gefahr erhofft, auch vor der Gefahr der Worte, vor deren Lügen und falschen Verführungen. Die Musik sei sogar, so Canetti, "der beste Trost".
Wenn aber die Musik über dieses Trostvermögen verfügt, dürfen wir hoffen, bei ihr in die Schule des Trostes und der Hoffnung gehen zu dürfen. Spiegelbildlich klärt uns Elias Canettis Charakterisierung der Musik nämlich über einige Wesenszüge des Trostes auf. Wir befinden uns in der Musik nicht im Raum der Worte, Gründe und der Argumente, sondern im Raum der "Gefühle" – "freier als alles, was sonst menschenmöglich scheint". Es handelt sich um eine Art "Erlösung".
Musik scheint zu befreien und in diesem Akt wird sie gewissermaßen zur Mutter des Trostes. Von der Musik lernen heißt, über den Trost lernen, so ließe sich Canettis Botschaft vorläufig zusammenfassen. Aber was ist das eigentlich "Trost"? Wie geht das vor sich, das Trösten? Und in welcher Lage verlangen wir nach Trost, angesichts welchen Leids fühlen wir uns aufgefordert, Trost zu spenden?
Trost ist ein Wort, das mit wenig Sympathie rechnen darf
Ganz wichtig ist die Unterscheidung von Trost und Hilfe. Nach Trost wird verlangt, sobald das Helfen nicht mehr hilft. Helfen gehört zur Ordnung des Tuns, setzt demnach voraus, dass Abhilfe geschaffen werden kann. Ein Mangel ist behebbar, eine Situation lässt sich zum Besseren kehren, ein Zustand ist wiederherstellbar, ein Fortschritt ist möglich, ein Leiden kann beendet werden.
Die Zeit des Helfens ist im Falle des Trostes jedoch abgelaufen. Und beim Trösten handelt es sich auch nicht um eine therapeutische Intervention, nicht um die Auflösung eines psychischen Konflikts oder gar um die Wiederherstellung psychischer Gesundheit. Auch wenn, wie beispielsweise in der Psychotherapie und im Besondern in der Traumatherapie bei Luise Reddemann vielfach über die heilende Kraft der Musik gesprochen wird, so hat dies mit Trost im Grunde wenig zu tun. Es sei kurz daran erinnert, dass Peter Strasser im Falle des Trostes von einer "Geborgenheit im Schlechten" gesprochen hat.
Im Grunde fremdeln wir mit dem Trost. Wir sind es gewohnt, Dinge zu verändern, die Weichen neu zu stellen, die Welt einzurichten gemäß unseren Wünschen und Vorhaben und dort, wo Unheilvolles geschieht, zumindest den Versuch zu unternehmen, zu heilen. Mit dem Unabänderlichen wollen wir uns nicht abfinden.
Trost ist deshalb ein Wort, das mit wenig Sympathie rechnen darf. Allzu nahe ist der Dunstkreis der Vertröstung, also die falsche Trostspende, die statt Hilfe zu leisten zu viel beim Alten lässt. Trösten schmeckt dann nach dem Unwillen, die Verhältnisse zu verändern. Vor allem der Trostspende angesichts des Leidens gilt das Misstrauen. Schmerz und Leiden wollen wirksam bekämpft werden.
Und tatsächlich sind die Mittel und die Techniken, dies zu tun, also dem Schmerz und dem Leiden entgegenzutreten, im Laufe der Zeit enorm gewachsen. Wer käme auf die Idee, diese Schmerz- und Leidensminimierung nicht wertschätzen zu wollen?
Aber vielleicht haben wir uns dennoch verhoben. Haben wir uns zu siegesgewiss an die Zurückdrängung des Leidens gemacht, sind wir zu kaltherzig mit der Bitte um Trost umgegangen und haben wir zu grimmig auf das Ansinnen, Trost zu spenden, reagiert?
Der kanadische Historiker und Politiker Michael Ignatieff hat in diesem Zusammenhang von einem "Aufstand gegen den Trost – und das Leiden" gesprochen. Wer trösten möchte, gilt schnell als Fortschrittsverweigerer, als jemand, der den Ruf um Hilfe ungehört verhallen lässt. Die Reputation des Trostes in der Moderne ist nicht die beste. Aber allzu forsch sollten wir uns von ihr nicht verabschieden, wie Ignatieff schreibt:
"Es gibt einfach zu viele Erfahrungen von Leid, vor denen uns die beste Politik der Welt nicht bewahren kann, zu viele Krankheiten der Seele, gegen die Medizin und Psychotherapie hilflos sind."
Überall droht falsches Pathos
Irgendwann werden wir in unserem Leben mit Widerfahrnissen konfrontiert, die weder ungeschehen gemacht noch vergessen werden können. Und die dazu angetan sind, tiefe Wunden zu hinterlassen. Unheil ohne Heilungschance sucht uns heim, der Sinn des Geschehenen bleibt unverstanden, wir wissen nicht mehr weiter, uns fällt Wenig oder Nichts mehr ein. Die Stunde, als das Protestieren und Rebellieren noch geholfen hatte, ist längst verstrichen.
Nun ist zwar die Macht der Worte nicht gänzlich gebrochen, wohl aber die der Argumente und somit die des Überzeugenwollens. Aus Gründen der Vernunft lässt sich kein Trost destillieren. Aber sogar das Sprechenwollen wird prekär, der falschen Rhetorik sind Tür und Tor geöffnet. Überall droht falsches Pathos.
Dennoch – es gibt Situationen, in denen die Einwilligung unausweichlich wird, wir uns ergeben müssen und auf Trost hoffen.
Dessen Angelegenheiten sind ernst. Wann immer Trost herbeigesehnt wird, hat die Trauer ihr Haupt erhoben. Es ist eine Niederlage erlitten worden, ein Unglück geschehen. Eine schwere Krankheit hat die Welt verdunkelt und es ist keinerlei Heilung in Sicht.
Ein Verlust, der nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, ist eingetreten. Da ist ein Riss im Leben entstanden, der sich nicht kitten lässt. Besser als der Theologe Fulbert Steffensky kann man die heikle Situation des Tröstens nicht kennzeichnen:
"Es soll mit der Zeit nicht nur Gras über alles Unglück wachsen, dass es erträglicher wird oder dass man es vergisst. […] Trost heißt nicht Wohlergehen nach der Trauer, sondern Beistand in der Trauer. Trost ist eines der mütterlichsten Wörter, die wir in unserer Sprache haben. Trost ist da, wo das Leben vereist und verbrennt. Sonst ist es kein Trost. Trost ist keine Belohnung der Trauer."
Trost gehört nicht zu den Lieblingsthemen der Philosophie. Philosophen, die sich mit dem Trost befasst haben, kann man leicht an den Fingern einer Hand abzählen. Das hängt womöglich damit zusammen, dass er sich zu einem nicht geringen Teil dem Denken entzieht. Dem Trost muss man gewissermaßen hinterherdenken. Man muss zufrieden sein, wenn man ihn ein bisschen verstehen lernt.
Ebenso wenig lässt er sich herbeidenken: Wer zu trösten versucht, bietet keine Denkübung an, will keine Diskussion anfangen. Wir trösten uns nicht und lassen uns nicht trösten mittels einer Prüfung und eines Austausches von Argumenten. Oft entzieht sich der Trost sogar unseren Begriffen und unserer Sprache. Er geschieht einfach. Wir sind manchmal getröstet, ohne dass wir es wissen. Der Trost ist uns unbegrifflich gegenwärtig.
Der britische Ethnologe Daniel Miller hat eine überaus interessante Studie über die Bewohner einer Londoner Straße verfasst, in der die ganz und gar unterschiedlichen häuslichen Lebensstile dieser Menschen untersucht wurden. "Der Trost der Dinge" heißt die Studie und sie zeigt, dass die Beziehung zu den Gegenständen, zu den Objekten in unserer Nähe "materielle und soziale Muster [bilden], die dem Leben des Einzelnen Ordnung [und] Sinn geben und ihm darüber hinaus ein Trost und eine Zuflucht sind."
"Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen"
Da ist die alte, fast erblindete Dame, die in einem klösterlichen Rhythmus alle Gegenstände ihres bescheidenen Haushalts abstaubt, immer wieder und immer wieder. Und da ist der leidenschaftliche Sammler in seinem Universum von 15.000 Schallplatten, der Hüter der Musik, der über eine Schatzkammer des Klangs verfügt und sich in der Obhut der Töne getröstet weiß. Er räsoniert nicht über den Trost, er braucht ihn nicht zu analysieren, also gedanklich zu zerlegen, um sich in seiner Umhüllung zu Hause zu fühlen.
Die alte Frau tastet sich durch die Geborgenheit ihrer Welt – staubwischend, immer wieder staubwischend und solchermaßen abgelenkt von ihrem Schicksal. Der Plattensammler ist woanders, bei den Dingen und nicht bei seiner Einsamkeit. Er hat diese für eine Weile vergessen – durch die freundschaftliche Gegenwart seiner Asservatenkammer der Musik.
Offenbar ist der Trost in seinem Kern unbegrifflich. Aber das heißt jedoch längst nicht, er sei unbegreiflich. Wir müssen also die Frage stellen, was geschieht, wenn getröstet wird und die Tröstung gelingt. Im Grunde genügt es, auf die Sprache zu achten. Es war bereits die Rede vom "Trost spenden".
Das Spenden gehört zur Ordnung des Gebens. Der Tröster schenkt Trost. Der Trostbedürftige möchte seinerseits Trost erhalten oder empfangen. Ihm wird Trost zuteil. Offenbar gehört der Trost zu den Gaben, die man anderen gleichsam in Gastfreundschaft gibt. Wer getröstet wird, ist gleichsam beim Trostspender zu Gast. Aber fragen wir weiter.
Am Anfang unserer weiteren Überlegungen steht ein wunderbares Zitat des Soziologen Georg Simmel aus den frühen Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts.
"Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen. Trost ist etwas anderes als Hilfe – sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz de Seele."
Simmel erfasst sehr präzise, dass "das Übel", wie er es nennt, während des Tröstens nicht verschwindet. Der Trost kann das Leiden nicht beenden, denn sonst hieße er nicht "Trost", sondern "Hilfe". Die Zeit des Tröstens bricht an, sobald die Zeit der Hilfe strenggenommen vorbei ist. Wer Trost mit Hilfe verwechselt, begeht demnach so etwas wie einen Kategorienfehler. Es ist also nicht das Leiden, das verschwindet, sondern man hofft nun auf eine zumindest zeitweise Erlösung vom "Leiden am Leiden".
Es ist "der Reflex (des Übels) in der tiefsten Instanz der Seele", der ins Visier des Trostes rückt. Wer schwer erkrankt ist und eine Heilung nicht mehr möglich, verlangt nach Trost, nicht obwohl, sondern weil diese Person gewissermaßen weiß, dass ihr nicht mehr wirklich geholfen werden kann. Sie leidet an ihrem Leiden und hofft auf Linderung – auf die Linderung ihres Leidens am Leiden.
Wer verzweifelt ist, weil seine Liebe nicht beantwortet wird oder sie ihm abhandengekommen ist, sei es durch Trennung oder durch den Tod der geliebten Person, sucht Trost. Dem Trostbedürftigen ist im Grunde nicht geholfen, indem man eine "neue" Liebe in Aussicht stellt. Diese Art therapeutischer Ratschläge geht fehl, weil nicht eine "neue" Liebe gesucht, sondern gerade die "alte", die "vergangene" vermisst und betrauert wird.
Ein solcher Liebeskummer dauert manchmal ein Leben lang, weil die Person in ihrer Trauer geradezu untröstlich bleibt. Trost unterscheidet sich also deutlich von Hilfsangeboten psychotherapeutischer Natur. Eine Traumatherapie beispielsweise soll und kann Hilfe leisten, aber sie ist kaum in der Lage, Trost zu spenden. Trost ist kein Studienfach. Die Bezeichnung "Experten des Trostes" klänge wie ein hölzernes Eisen. Wer das Trösten professionalisieren möchte, läuft Gefahr, dessen Natur gründlich zu verfehlen.
Trost ist nur Beistand in der Trauer
Während des Tröstens werden keine Probleme gelöst. Es findet keine Trauerarbeit statt, die Trauer wird nicht bearbeitet, das Leiden nicht beendet. Wie hieß es so treffend bei Steffensky:
"Trost heißt nicht Wohlergehen nach der Trauer, sondern Beistand in der Trauer."
Wer Trost sucht, erwartet von der tröstenden Person auch nicht, dass diese tatsächlich mitleide und ihrerseits in Trostlosigkeit und Trauer gehüllt sei. Aber was geht dann vor sich, wenn Trost gespendet und angenommen wird?
"Der Leidende gibt von seinem Schmerz ab."
Von Hans Blumenberg stammt die Formulierung, während der Tröstung vollziehe sich eine Art Delegation des Leidens auf die tröstende Person.
Die leidende Person ist nicht mehr allein in ihrem Leiden. Aber was genau gibt der Leidende von seinem Schmerz, von seinem Leiden ab? Er gibt sein Leiden am Leiden ab. Dieses übernimmt – für eine Weile – die tröstende Person. Sie nimmt dieses "Leiden am Leiden" auf sich. Es entsteht eine Art Genossenschaft im Leiden. Aber kein Leiden auf Augenhöhe.
Es wäre nämlich gelogen, wenn der Trostspender behaupten würde, den Schmerz der anderen Person zu empfinden, deren Trauer ebenso zu spüren wie sie, deren Leiden buchstäblich mitzuleiden. Aber der Trostspender entlastet die auf Trost angewiesene Person, indem er ihr "Leiden am Leiden" für eine Weile schultert. Er erlaubt der leidenden Person, für eine kurze Dauer ihr "Leiden am Leiden" zu vergessen. Es muss nicht immer nachgedacht werden, nicht immer argumentiert.
Blumenberg spricht sogar von einer "Vermeidung von Bewusstsein" während des Trostvorgangs. Es darf die Situation ummantelt werden, es muss nicht permanent gesprochen werden.
Wie bei allen Geschenken trifft auch auf den Vorgang des Trostschenkens zu, was Pierre Bourdieu "das Tabu der expliziten Formulierung" genannt hat: Der Preis bleibt im Verborgenen, das Geschenk spricht für sich. Das Geschenk darf nicht zerredet werden, der Trost ebenso wenig.
Etwas wird immer unausgesprochen bleiben. Dass die Musik so viele Menschen zu trösten vermag, hängt vermutlich damit zusammen, dass beim Hören etwas Ähnliches vor sich geht.
Die Musik tröstet, wie wir bereits bei Canetti vernommen haben, weil sie "nicht noch neue Worte macht". Mehr noch – sie löscht die Gefahr der Worte, wenn diese womöglich zu laut werden. Gerade in existenzieller Not verfügt die Musik offenbar über die Fähigkeit zu trösten. Aber weshalb ist das so? Warum gehört die Musik zu den wichtigsten Spendern von Trost?
Das tut sie, weil sie in der Lage ist, das Leiden für eine Weile vergessen zu lassen – oder besser gesagt – vom Leiden am Leiden für eine Weile abzulenken. Sie strebt, wie es der Philosoph Peter Sloterdijk ausdrückt, "in den a-kosmischen Schwebezustand zurück, in dem sich das verletzte Leben […] sammelt und heilt."
Aber wie vermag sie denn zu trösten? Was macht ausgerechnet die Musik zu einer Botschafterin des Trostes? Wie tut sie das? Was ist gleichsam ihr Zaubertrick?
Einen Hinweis finden wir bei Igor Strawinsky in seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1936:
"Die Musik ist der einzige Bereich, in dem der Mensch die Gegenwart realisiert. Durch die Unvollkommenheit unserer Natur unterliegen wir dem Ablauf der Zeit, den Kategorien der Zukunft und der Vergangenheit, ohne jemals die Gegenwart 'wirklich' machen zu können, also die Zeit stillstehen zu lassen."
In der Musik, so lassen sich diese Sätze Strawinskys verstehen, gibt es Momente, in denen wir dem gnadenlosen Dahinfließen der Zeit entkommen. In der Zeit sind wir immer unterwegs. Stillstand ist in ihrer geraden und strengen Linie vorwärts nicht vorgesehen.
In der Musik dagegen wird diese rastlose Bewegung – hin und wieder, in kostbaren Momenten – unterbrochen. Die Zeit ist stehengeblieben. Die Gegenwart der Musik hat den Strom der Zeit angehalten, ihre Gegenwart befreit uns von unserer Selbstgegenwart. Wir haben eine Weile vergessen, dass wir in der Zeit existieren: Wir sind ihr entkommen und mit ihr sind wir auch unseren Sorgen, unseren Leiden für eine Weile entkommen. Wir fühlen uns getröstet.
Wer kennt während eines Konzertes nicht die Erfahrung, dass die Zeit abhandengekommen war? Wer verspürt dann nicht den stillen Wunsch, die Musik möge nie enden, einfach bei uns bleiben und wir bei ihr? Wer erinnert sich nicht an solche Momente der Tröstung, an diese Augenblicke glücklichen Vergessens? Aber weshalb ist ausgerechnet die Musik so trostkompetent?
Wenn wir Musik hören, dann geschieht das nie anders als "im Modus des Im‑Klang‑Seins", schreibt Peter Sloterdijk:
"Kein Hörer kann glauben, am Rand des Hörbaren zu stehen. Das Ohr kennt kein Gegenüber, es entwickelt keine frontale 'Sicht' auf fernstehende Objekte, denn es hat 'Welt' oder 'Gegenstände' nur in dem Maße, wie es […] im auditiven Raum schwebt oder taucht."
Wenn wir hören, sind wir demnach im Klang, und es wäre keineswegs voreilig zu schlussfolgern, dass wir, wenn wir in der Musik sind, in bevorzugten Momenten auch im Einklang mit uns selbst verkehren. Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang seinerseits von einem Heimfahren ins Innerste. Aber es wäre ein Missverständnis zu meinen, wir begegneten dort unserem Ich. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall.
Die Kraft der Musik liegt nicht in den Worten
Im Klang sind wir umhüllt, gleichsam gehüllt in eine wohltuende Selbst- und Weltferne. Es hat eine freundliche Ablenkung von uns selbst stattgefunden. Vergessensfroh verweilen wir in einem Zwischen, irgendwo zwischen der Welt und uns selbst. Wir sind uns selbst glücklicherweise für eine Weile nicht mehr begegnet, wir waren aufgehoben in einem Andern.
Gewiss spricht die Musik. Sie ist zuweilen außerordentlich beredt, mit und ohne Worte. Jedoch liegt ihre Kraft nicht in den Worten, sondern in den Klängen. Diese reichen weiter und tiefer, als es die Worte jemals können.
"Das Mysterium, das uns die Musik vermittelt ist das Unaussprechliche. […] Wo es an Worten fehlt, kann der Mensch nur noch singen", sagt der französische Philosoph und Musikwissenschaftler Vladimir Jankélévitch, Wenn wir "in" der Musik sind, sind wir auch zeitweilig über unser Leiden am Leiden hinaus, in seltenen Augenblicken sogar über den Tod hinaus.
Wenn wir am Leben verzweifeln, bleibt eine Instanz, welche die Last der Deutung von uns nimmt. Auch wenn wir die Worte, die gesungen werden, nicht genau verstehen, so hilft uns die Musik, sie zu deuten. Sie nimmt uns – in Lebens- und Leidensangelegenheiten – die schwere Arbeit der Deutung für eine Weile ab. Das Unaussprechliche wird hör- und vernehmbar. Die Musik leistet Entrückungsarbeit. Laut Jankélévitch ist sie geschaffen für "pneumatische Evokationen."
Inmitten der Bedrückung und der Lebensschwärze reicht die Musik uns ihre Hand: Sie macht zwar nicht unser Leiden ungeschehen, sie lässt uns jedoch unser Leiden am Leiden für eine Weile vergessen. Trost und Musik sind tatsächlich "Geschwister im Geiste". Etwas wird immer unausgesprochen bleiben.