Am 25. Oktober 2003 endete die Freiheit für Russlands reichsten Mann. Seit siebeneinhalb Jahren sitzt Michail Chodorkowski – entweder im Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosskaja Tischina, in der Strafkolonie Krasnokamensk an der russisch-chinesisch-mongolischen Grenze, 7000 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, oder im Karzer des Straflagers beziehungsweise Isolators, wie man Untersuchungsgefängnisse in Russland nennt.
Ungenutzte Stunden, Tage, Wochen im Überfluss, meint man. Besonders für einen, der als Spitzenmanager ein strenges, effizientes Zeitregiment gewohnt war. Etwa zwei Jahre dauerten jeweils die Verhandlungen, Jahre, in denen die Zeit selbst im Knast knapp wurde, erklärte seine Mutter, Marina Chodorkowskaja kurz vor der Verkündung des zweiten Urteils im zurückliegenden Dezember:
"Die Gerichtsverhandlung dauert jedes Mal von morgens bis 18 Uhr abends. Zum Gericht und vom Gericht zum Gefängnis braucht man zwei Stunden pro Fahrt wegen der vielen Staus. Wenn er in seine Zelle kommt, ist es 20 Uhr, und um 22 Uhr wird schon das Licht ausgeschaltet. Morgens um fünf ist Wecken. Er hat also kaum Zeit, sich mit dem Material zu befassen."
Auch die Lebensbedingungen in russischen Haftanstalten lassen wenig Muße fürs Schreiben. Untersuchungshäftlinge warten auf ihre Prozesse in Russland in Gemeinschaftszellen, mindestens zu viert oder zu fünft, manchmal teilen sich auch 20 bis 30 Personen eine Zelle. Die eigentliche Haft büßt ein Verurteilter in sogenannten Strafkolonien ab. Lager, mit Schlafräumen für 50 bis 100 Personen.
Im Mai 2005, nach anderthalb Jahren Untersuchungshaft, wurde der einstige Multimilliardär zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Auf dem Lagergelände zwischen Appellplatz, Speisesaal und Sanitäreinrichtungen können sich die Lagerhäftlinge frei bewegen, vorausgesetzt, sie haben sich keine Karzerstrafe, also den Knast im Knast, eingehandelt. In diesen Verliesen saß Chodorkowski häufiger, immer dann, wenn wieder, trotz der widrigen Umstände, ein Artikel von ihm in einer russischen oder, noch schlimmer, ausländischen Zeitung erschienen war.
Hauptsächlich aus diesen Beiträgen besteht das Buch. Es beginnt mit einem Schlussplädoyer, das er vor der Urteilsverkündung in dem zweiten, völlig absurden Prozess hielt. War er im ersten Verfahren der Steuerhinterziehung beschuldigt worden, warf das Gericht ihm im zweiten den Raub des gesamten Öls vor, das sein Konzern gefördert hat.
Wir bauten den besten Ölkonzern Russlands auf. Wir errichteten Sport- und Kulturzentren, erschlossen Dutzende neuer Fördermöglichkeiten, nahmen die Ausbeutung der ostsibirischen Reserven in Angriff und führten neue Technologien ein. Taten alles, wessen sich Rosneft, der Konzern, der Jukos übernahm, heute rühmt. Dank der auch durch unser Verdienst beträchtlich gestiegenen Ölförderung konnte unser Land die günstige Konjunktur für Öl ausnutzen.
Sein am vergangenen Dienstag gehaltenes Schlusswort im Berufungsverfahren fiel deutlich bitterer aus, was eine aktualisierte Neuauflage der "Briefe" dringend nötig macht. Chodorkowski, der Kritiker und Bewunderer beeindruckte, weil er sich tadellos während der vielen Prozessjahre hielt, machte nach der erfolglos verlaufenen Revision aus seiner Bitterkeit und Verachtung für das russische Justizwesen keinen Hehl mehr:
"Dieses Urteil zu korrigieren ist unmöglich. Das wird dumme Kosmetik. Sprechen Sie mich schuldig oder machen Sie Schluss mit diesem schändlichen Prozess. Oder verbünden Sie sich mit den Kriminellen, die auf das Gesetz spucken! Mit Verbrechern habe ich nichts zu besprechen. Ich brauche keine Gnade. Mein Schicksal hängt nicht von der heutigen Entscheidung ab. Hören wir, was das Gericht sagt, und schauen wir uns an, wie Russlands Justiz zu Anfang des 21. Jahrhunderts aussieht."
In den "Briefen aus dem Gefängnis" spricht bei aller detaillierter Kritik am heutigen autokratischen Russland noch überwiegend Zuversicht auf dessen Reformierbarkeit aus den Texten Chodorkowskis. Er macht in seinem "Programm 2020" konkrete Vorschläge für die Modernisierung, ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme, die – naheliegend – vor allem mit den korrupten Gerichten abrechnet.
Die Polizei-Bürokratie ist allmächtig. Ein Recht auf Privateigentum gibt es nicht. Die Menschenrechte haben bei einem Konflikt mit dem "System" keine Geltung. Obwohl im Gesetz verankert, werden die Rechte nicht vom Gericht verteidigt. Entweder, weil das Gericht selbst Angst hat oder weil es Teil des "Systems" ist. Wen überrascht, wenn niemand danach strebt, Verantwortung zu übernehmen? Wer soll die Wirtschaft modernisieren? Die Staatsanwälte? Eine solche Modernisierung hat man schon einmal versucht, es hat nicht geklappt. Die Wasserstoffbombe und Raketen konnten sie bauen, aber einen eigenen guten Fernseher, ein konkurrenzfähiges Auto, ein Handy kriegen wir bis heute nicht hin.
Aufschlussreich sind Passagen, in denen Chodorkowski eingesteht, mit welch intellektuellem Vergnügen er Anfang der 1990er-Jahre Gesetzeslücken aufspürte, um Staatsbetriebe zu Spottpreisen aufzukaufen. Deswegen ist er im Volk verhasst wie alle sogenannte Oligarchen, doch wegen dieser Taten wurde er nicht angeklagt. Er schildert die Anstrengung, die der Aufbau des Jukos-Konzerns kostete, wie wenig ihm der Reichtum bedeutete, wie beengend er das Korsett empfand, in dem er als Firmenchef steckte. Er beschreibt den Beginn seines sozialen Engagements, das mit der Rubelkrise 1998 einsetzte, als er persönlich zwar auch riesige Summen verlor, seine Angestellten jedoch um ihre Existenz zitterten.
Der Aufsatz-Sammlung ist ein Chodorkowski-Porträt von dem Spiegel-Autor Erich Follath beigefügt. Das mutet wie ein fälschlicherweise in die Mitte gesetztes Vorwort an, denn es kündigt die unmittelbar danach folgenden Briefwechsel an, nimmt zum Teil vorweg, was sich der berühmte Häftling und drei Schriftsteller zu sagen haben. Es sind der Verfasser von Krimis, Boris Akunin, der Science-Fiction-Schriftsteller Boris Strugatzki und die Gegenwartsautorin Ludmilla Ulitzkaja. Letztere himmelt, ja biedert sich Chodorkowski an, als hätte sie nie von der Kritik an ihm gehört. Zudem ist jeder ihrer Zeilen anzumerken, dass sie für ein Publikum geschrieben sind und nicht – zumindest zunächst – für den Empfänger. Was dieser umgehend moniert.
An diesem Briefwechsel sind vor allem Chodorkowskis Ausführungen interessant. Ausgerechnet der Gefangene Chodorkowski ruft darin nach einem starken Staat. Freilich versteht Chodorkowski unter einem starken Staat einen, der über die Verwendung des Geldes seiner Bürger Rechenschaft ablegt, der es ausgibt für eine moderne Infrastruktur, der es in Bildung, Gesundheit und soziale Gerechtigkeit investiert. "Die Briefe aus dem Gefängnis" zeigen den einstigen Chef des ehemaligen viertgrößten Ölkonzerns der Welt als einen politisch engagierten, zum Teil auch agierenden Mann, der sein Russland liebt, wie sein Sohn Pawel bei der Buchvorstellung in Berlin bestätigt:
"Das Verhältnis meines Vaters zu Russland hat sich nicht geändert, er ist und bleibt ein Patriot."
Ein besseres Lektorat hätte das unter lästigen Wiederholungen leidende Buch straffen können. Es ist dennoch sehr lesenswert.
Michail Chodorkowski: "Briefe aus dem Gefängnis". Albrecht Knaus Verlag, 288 Seiten, 19,99 Euro.
Ungenutzte Stunden, Tage, Wochen im Überfluss, meint man. Besonders für einen, der als Spitzenmanager ein strenges, effizientes Zeitregiment gewohnt war. Etwa zwei Jahre dauerten jeweils die Verhandlungen, Jahre, in denen die Zeit selbst im Knast knapp wurde, erklärte seine Mutter, Marina Chodorkowskaja kurz vor der Verkündung des zweiten Urteils im zurückliegenden Dezember:
"Die Gerichtsverhandlung dauert jedes Mal von morgens bis 18 Uhr abends. Zum Gericht und vom Gericht zum Gefängnis braucht man zwei Stunden pro Fahrt wegen der vielen Staus. Wenn er in seine Zelle kommt, ist es 20 Uhr, und um 22 Uhr wird schon das Licht ausgeschaltet. Morgens um fünf ist Wecken. Er hat also kaum Zeit, sich mit dem Material zu befassen."
Auch die Lebensbedingungen in russischen Haftanstalten lassen wenig Muße fürs Schreiben. Untersuchungshäftlinge warten auf ihre Prozesse in Russland in Gemeinschaftszellen, mindestens zu viert oder zu fünft, manchmal teilen sich auch 20 bis 30 Personen eine Zelle. Die eigentliche Haft büßt ein Verurteilter in sogenannten Strafkolonien ab. Lager, mit Schlafräumen für 50 bis 100 Personen.
Im Mai 2005, nach anderthalb Jahren Untersuchungshaft, wurde der einstige Multimilliardär zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Auf dem Lagergelände zwischen Appellplatz, Speisesaal und Sanitäreinrichtungen können sich die Lagerhäftlinge frei bewegen, vorausgesetzt, sie haben sich keine Karzerstrafe, also den Knast im Knast, eingehandelt. In diesen Verliesen saß Chodorkowski häufiger, immer dann, wenn wieder, trotz der widrigen Umstände, ein Artikel von ihm in einer russischen oder, noch schlimmer, ausländischen Zeitung erschienen war.
Hauptsächlich aus diesen Beiträgen besteht das Buch. Es beginnt mit einem Schlussplädoyer, das er vor der Urteilsverkündung in dem zweiten, völlig absurden Prozess hielt. War er im ersten Verfahren der Steuerhinterziehung beschuldigt worden, warf das Gericht ihm im zweiten den Raub des gesamten Öls vor, das sein Konzern gefördert hat.
Wir bauten den besten Ölkonzern Russlands auf. Wir errichteten Sport- und Kulturzentren, erschlossen Dutzende neuer Fördermöglichkeiten, nahmen die Ausbeutung der ostsibirischen Reserven in Angriff und führten neue Technologien ein. Taten alles, wessen sich Rosneft, der Konzern, der Jukos übernahm, heute rühmt. Dank der auch durch unser Verdienst beträchtlich gestiegenen Ölförderung konnte unser Land die günstige Konjunktur für Öl ausnutzen.
Sein am vergangenen Dienstag gehaltenes Schlusswort im Berufungsverfahren fiel deutlich bitterer aus, was eine aktualisierte Neuauflage der "Briefe" dringend nötig macht. Chodorkowski, der Kritiker und Bewunderer beeindruckte, weil er sich tadellos während der vielen Prozessjahre hielt, machte nach der erfolglos verlaufenen Revision aus seiner Bitterkeit und Verachtung für das russische Justizwesen keinen Hehl mehr:
"Dieses Urteil zu korrigieren ist unmöglich. Das wird dumme Kosmetik. Sprechen Sie mich schuldig oder machen Sie Schluss mit diesem schändlichen Prozess. Oder verbünden Sie sich mit den Kriminellen, die auf das Gesetz spucken! Mit Verbrechern habe ich nichts zu besprechen. Ich brauche keine Gnade. Mein Schicksal hängt nicht von der heutigen Entscheidung ab. Hören wir, was das Gericht sagt, und schauen wir uns an, wie Russlands Justiz zu Anfang des 21. Jahrhunderts aussieht."
In den "Briefen aus dem Gefängnis" spricht bei aller detaillierter Kritik am heutigen autokratischen Russland noch überwiegend Zuversicht auf dessen Reformierbarkeit aus den Texten Chodorkowskis. Er macht in seinem "Programm 2020" konkrete Vorschläge für die Modernisierung, ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme, die – naheliegend – vor allem mit den korrupten Gerichten abrechnet.
Die Polizei-Bürokratie ist allmächtig. Ein Recht auf Privateigentum gibt es nicht. Die Menschenrechte haben bei einem Konflikt mit dem "System" keine Geltung. Obwohl im Gesetz verankert, werden die Rechte nicht vom Gericht verteidigt. Entweder, weil das Gericht selbst Angst hat oder weil es Teil des "Systems" ist. Wen überrascht, wenn niemand danach strebt, Verantwortung zu übernehmen? Wer soll die Wirtschaft modernisieren? Die Staatsanwälte? Eine solche Modernisierung hat man schon einmal versucht, es hat nicht geklappt. Die Wasserstoffbombe und Raketen konnten sie bauen, aber einen eigenen guten Fernseher, ein konkurrenzfähiges Auto, ein Handy kriegen wir bis heute nicht hin.
Aufschlussreich sind Passagen, in denen Chodorkowski eingesteht, mit welch intellektuellem Vergnügen er Anfang der 1990er-Jahre Gesetzeslücken aufspürte, um Staatsbetriebe zu Spottpreisen aufzukaufen. Deswegen ist er im Volk verhasst wie alle sogenannte Oligarchen, doch wegen dieser Taten wurde er nicht angeklagt. Er schildert die Anstrengung, die der Aufbau des Jukos-Konzerns kostete, wie wenig ihm der Reichtum bedeutete, wie beengend er das Korsett empfand, in dem er als Firmenchef steckte. Er beschreibt den Beginn seines sozialen Engagements, das mit der Rubelkrise 1998 einsetzte, als er persönlich zwar auch riesige Summen verlor, seine Angestellten jedoch um ihre Existenz zitterten.
Der Aufsatz-Sammlung ist ein Chodorkowski-Porträt von dem Spiegel-Autor Erich Follath beigefügt. Das mutet wie ein fälschlicherweise in die Mitte gesetztes Vorwort an, denn es kündigt die unmittelbar danach folgenden Briefwechsel an, nimmt zum Teil vorweg, was sich der berühmte Häftling und drei Schriftsteller zu sagen haben. Es sind der Verfasser von Krimis, Boris Akunin, der Science-Fiction-Schriftsteller Boris Strugatzki und die Gegenwartsautorin Ludmilla Ulitzkaja. Letztere himmelt, ja biedert sich Chodorkowski an, als hätte sie nie von der Kritik an ihm gehört. Zudem ist jeder ihrer Zeilen anzumerken, dass sie für ein Publikum geschrieben sind und nicht – zumindest zunächst – für den Empfänger. Was dieser umgehend moniert.
An diesem Briefwechsel sind vor allem Chodorkowskis Ausführungen interessant. Ausgerechnet der Gefangene Chodorkowski ruft darin nach einem starken Staat. Freilich versteht Chodorkowski unter einem starken Staat einen, der über die Verwendung des Geldes seiner Bürger Rechenschaft ablegt, der es ausgibt für eine moderne Infrastruktur, der es in Bildung, Gesundheit und soziale Gerechtigkeit investiert. "Die Briefe aus dem Gefängnis" zeigen den einstigen Chef des ehemaligen viertgrößten Ölkonzerns der Welt als einen politisch engagierten, zum Teil auch agierenden Mann, der sein Russland liebt, wie sein Sohn Pawel bei der Buchvorstellung in Berlin bestätigt:
"Das Verhältnis meines Vaters zu Russland hat sich nicht geändert, er ist und bleibt ein Patriot."
Ein besseres Lektorat hätte das unter lästigen Wiederholungen leidende Buch straffen können. Es ist dennoch sehr lesenswert.
Michail Chodorkowski: "Briefe aus dem Gefängnis". Albrecht Knaus Verlag, 288 Seiten, 19,99 Euro.