Jeder dritte Belgier isst täglich Schokolade. Glaubt man Marketing-Untersuchungen, dann ist der - Zitat - "regelmäßige Normalverbraucher" männlich, zwischen 18 und 34 Jahre alt und Leitender Angestellter oder Freiberufler. Auf Platz zwei liegen Hausfrauen, gefolgt von Konfekt liebenden Studenten. Brüssel ist ihr Mekka. Über die ganze Stadt verteilt, vor allem aber rund um die Grand Place, liegen die schmucken Filialen kleiner unabhängiger Chocolatiers und die der großen weltberühmten Hersteller wie etwa Leonidas und Godiva, die weltweit Hunderte Läden unterhalten. Sie zählen zu den etwas günstigeren Marken, Wittamer und Marcolini hingegen gelten als besonders exquisit - und teuer. Für ein Kilo gemischte Pralinen kann man bei den feineren Adressen leicht fünfzig Euro und mehr loswerden. Direkt an der Grand Place liegt auch das Schokoladen-Museum, und etwas außerhalb leistet Brüssel sich sogar ein Schokoladen-Restaurant: Kakaosuppe u. Fischpastete mit weißer Schokolade finden sich hier genauso auf der Menükarte wie Salate mit bittersüßem Kakaoschrot, Hühnchen mit Bitterschokosauce oder Tatar mit groben Schokoladenkörnern.
Pralinen sind in Belgien ein so allgegenwärtiges Kultur- und Nationalgut, dass sie sogar den Weg auf die Bühne gefunden haben. Das Stück ist eine süße Liebeserklärung und zugleich eine ironische Abrechnung mit der Schokoladenlust der Belgier.
"Ich heiße Philippe Blasband, ich esse gerne Schokolade. (Ironisch:) Seit 24 Stunden und 12 Minuten habe ich keine mehr gegessen."
In dunkelgrauen Jeans und Sweatshirt sitzt der stämmige Schriftsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Filmemacher hinter den Kulissen im Brüsseler "Théâtre Marni". Auf der Bühne dieses ehemaligen Kinos, aus dem aller Plüsch verbannt wurde, läuft eine Vorstellung seines Stücks "Les mangeuses de chocolat", Die Schokoladenesserinnen. Philippe Blasband, 1964 in Teheran als Kind eines polnischen Juden und einer muslimischen Iranerin geboren, weiß, wovon er spricht:
"Ich habe als Kind in Belgien gelebt, von meinem 5. bis 11. Lebensjahr. Da habe ich das Schokoladenessen gelernt. Zumal meine Großeltern, insbesondere meine Großmutter, leidenschaftlich gerne Schokolade aßen. Das gehörte zur Kultur unserer Familie."
Und so schrieb Philippe Blasband das Stück über die Schokoladenesserinnen. Drei Frauen mittleren Alters, die eine Gruppentherapie machen, um ihre Sucht zu bezwingen.
"Ich dachte, ich hätte die Schokoladentherapie erfunden, aber es gibt sie wirklich! Das erfuhr ich, als ich das Stück inszenierte. Es gibt - selbstverständlich in den USA - eine Therapie für Schokoladensüchtige."
Im Theaterstück erscheint die Sucht zuerst als Problem. Doch je deutlicher sich der Misserfolg der Gruppentherapie abzeichnet - nicht zuletzt, weil die Therapeutin gestehen muss, ihre eigenen Probleme durch übermäßigen Schokoladengenuss zu verdrängen -, desto mehr schimmert die Moral durch: "Hoch lebe die Schokolade!"
"Schokoladengenuss hat subtile Auswirkungen. Schokolade enthält anscheinend lusterregende und antidepressive Stoffe. Viel wichtiger aber ist die ganze Kultur. Schokolade ist wie guter Wein, nur wird man nicht beschwipst. Natürlich kann man zunehmen oder Leberbeschwerden bekommen, wenn die Pralinen zuviel Zucker enthalten. Aber als Droge ist Schokolade harmlos. Als ich mein Stück inszenierte, hatte ich eine Art 'Coming out' vor meinen Freunden und Eltern. Meine Schokoladensucht war aber allen völlig egal. Auch die Gesellschaft akzeptiert sie - mehr als Alkoholsüchtige oder Raucher."
Fast dreihundertmal sind die "Schokoladenesserinnen" bisher im französischen Original gespielt worden. Inzwischen gibt es auch ebenso erfolgreiche flämische, spanische, tschechische Übersetzungen und Inszenierungen. Im Saal sitzen regelmäßig "chocolatiers":
"Jaja, zum Beispiel Monsieur Galler. Er hat viel gelacht. Dabei war er mit einem Detail - das ich aufgeschnappt hatte - nicht einverstanden. Irgendwann heißt es, dass Frauen, die in einem Pralinengeschäft arbeiten, nicht schwanger werden. 'Aber nein, ganz und gar nicht,' sagte Monsieur Galler, im Augenblick sind drei meiner Arbeiterinnen gerade im Mutterschaftsurlaub.'"
Noch nie hat man so viele Arten von Schokolade gesehen, es ist wahrlich ein Hohn. Es gibt keine Substanz, die man nicht mit Schokolade verarbeitet hätte. Durch diesen Betrug wollte man manchen Leuten, die die mehr oder weniger unangenehmen Medikamente nur widerwillig schlucken, vorgaukeln, dass es möglich sei, die Schokolade zum Grundstoff für alle Arzneien zu machen. Jeden Tag verkündet man neue Schokoladensorten: mit Tapioka, mit Moos, mit Chininsulfat und Pfeilwurz. Ein Hersteller setzte noch einen drauf und bot sogar eine so genannte "Emmenagogum-Schokolade mit Eisenfeilspänen" an! Wenn das so weitergeht, werden bald alle Arzneimittel-Drogen zu Schokolade verarbeitet, und für jede Krankheit gibt es dann eine eigene Schokolade!
Beobachtungen eines unbekannten Journalisten 1860 in Paris. Sie erinnern an die Erfolgsgeschichte des Schweizers Jean Neuhaus, der sich 1857 in Brüssel niederließ. Er eröffnete in der belgischen Hauptstadt seine "pharmazeutische Süßwarenhandlung". Fortan verkauft Neuhaus Lakritze, sowie besonders süße Hustenbonbons und bittere Schokoladenriegel. Als Heilmittel, das angeblich Herz und Lungen stärke, war Kakao zu diesem Zeitpunkt längst bekannt. Neuhaus’ gleichnamiger Enkel gilt heute als Erfinder der belgischen Praline - das Verfahren zur Herstellung ließ er sich 1912 patentieren. Namensgeber der Köstlichkeit soll der französische Marschall Plessis-Praslin sein, der im 17. Jahrhundert lebte: Dessen Küchenjunge hatte eine Mandel aus einer verschütteten Rohzuckermasse gefischt.
Neuhaus zählt heute zu den exquisitesten Schokoladen-Marken in Belgien. Außer den großen Marktführern sind es aber vor allem die kleinen unabhängigen Pralinenwerkstätten mit nur einer einzigen Verkaufsstelle, die die Auswahl an belgischer Schokolade so ungeheuer vielfältig und individuell erscheinen lassen.
Denn jeder Chocolatier pflegt seine persönlichen Vorlieben, der eine für fruchtige Füllungen, der andere für einen besonders hohen Kakaoanteil. Letzteres etwa gilt für Pierre Marcolini, einen der angesehensten belgischen Chocolatiers: Jede seiner Pralinen, heißt es, ist von Hand geschöpft und einige enthalten mit über 70 Prozent einen weit höheren Kakao-Anteil als die meisten Produkte der Konkurrenz. Ab achtzig Prozent Kakao gilt Schokolade nämlich als ungenießbar, und so sind Marcolinis Bitterschokolade-Kreationen nicht für jedermanns Geschmack, sondern eine höchst exklusive Angelegenheit. Unter den 512 Pralinenmachern, die beim belgischen Verband der Schokoladenhersteller gemeldet sind, gibt es übrigens genau fünf Pralinenmacherinnen.
Rue Père Eudore Devroye, hinter dem Brüsseler Jesuitengymnasium Saint-Michel. Platanen und Vorgärten verleihen der ruhigen Seitenstraße einen beschaulichen Charakter. Nummer 197 ist ein niedriges Haus in hellem Ockerton, mit einer olivgrünen Tür. Aus einer stattlichen Glyzine lugt ein kleines Aushängeschild: "Passion Chocolat", Schokoladen-Leidenschaft.
"Ursprünglich war ich Sekretärin. Aber ich wollte selbständig arbeiten, in einem eigenen Betrieb. Ich entschied mich für die Schokolade, weil ich gerne Schokolade esse. Und dieser Beruf ist so schön, man kann 10.000 verschiedene Pralinen kreieren, die Dekoration ist wichtig, der Kontakt zu den Kunden angenehm. Der Wechsel fiel mir nicht leicht, vor allem weil ich alleinstehend war mit vier Kindern. Zum Glück kümmerten sich die Großen um die Kleinen - denn ich besuchte drei Jahre lang dreimal pro Woche die Abendschule. Die Familie hielt zusammen. Es ist schwer, nach einem Arbeitstag abends in die Schule zu gehen, um einen neuen Beruf zu erlernen. Aber dank der Leidenschaft habe ich es geschafft. (Voilà)"
Die zierliche Frau hat verschmitzte Augen und hellblonde Locken. Sie trägt Berufskleidung, eine schwarz-weiß karierte Hose, eine weiße Jacke mit kurzen Ärmeln. Zwei kleine, weiß gekachelte Kellerräume bilden ihre Werkstatt. Über ein Förderband rollen gerade flache Pralinenherzen. Ein Ventilator kühlt sie ab, bevor ein Mitarbeiter Namen daraufspritzt. Eine Bestellung für den Geburtstag einer Stammkundin.
"Ich bin Feinschmeckerin, kein 'Vielfraß'. Meine Pralinen sind bewusst so klein, damit ich mehrere essen kann. Denn wenn man ein oder zwei dicke Pralinen isst, ist man satt. Ich mache also kleine Pralinen mit dünner Schokoladenhülle, damit man die Füllung gut schmeckt. Und da habe ich natürlich meine Vorlieben! Ingwer oder Minze mag ich zum Beispiel nicht, die werde ich gewiss nie verarbeiten! Aber Früchte. Ihre Frische passt gut zum Geschmack der Bitterschokolade. Ich mache also Ganaches mit Passionsfrucht, Mandarine Pampelmuse, Banane, schwarzer Johannisbeere. (2:44) Übrigens: Die Leute mögen die sehr dunkle Schokolade immer lieber."
Jeden Monat erfindet Claire Macq eine neue Praline. Dafür nimmt sie eine andere aus ihrem Sortiment. Die Obergrenze liegt bei 72 verschiedenen Kreationen. Denn alles wird wöchentlich frisch zubereitet. Einige Klassiker gibt es bei ihr nur zu bestimmten Anlässen:
"Zum Beispiel machen wir in der Weihnachtszeit korkenförmige Pralinen mit Marc de Champagne-Füllung, Pralinen mit Kastanienpüree oder mit den ersten Mandarinen der Saison."
Die aufwendige Herstellung der Pralinen nimmt natürlich die meiste Zeit der "chocolatière" in Anspruch. Es gibt aber noch etwas anderes, was Claire Macq am Herzen liegt: Die Verpackung.
"Ich nenne das immer meine Pausenzeit. Die Arbeit in der Werkstatt ist lustig, aber auch ermüdend, die Maschinen hinter mir machen Lärm. Aber einmal im Monat begebe ich mich einen Tag lang auf die Suche nach neuen Seidenbändern und Verzierungen. Im Herbst wähle ich natürlich Herbstfarben und herbstlichen Schmuck. Jeden Monat suche ich eine andere aus, auch meine Boutique dekoriere ich alle vier Wochen neu. Das ist ein Tick von mir. Die Kunden schätzen das. (6:12) Ich kann da eine kleine Anekdote erzählen. Eines Tages suchte eine Dame meine Boutique. Abends rief sie ihre Freundin an und sagte: 'Ich habe in der Straße kein Pralinengeschäft gesehen, lediglich ein Dekorationsgeschäft.' (lacht und kichert) Das fand ich ziemlich lustig. (lacht)"
Zu den ersten Kunden des vor sieben Jahren eröffneten "Passion Chocolat" zählten die Nachbarn - darunter auch die Jesuitenpater.
"Sie sind bis heute gute Kunden. Ihr Haus für die Novizen liegt nämlich gleich um die Ecke. Und die kaufen oft Pralinen, sogar in der Fastenzeit. Dann frage ich, ob sie denn keine Gewissensbisse haben. (lacht und kichert) - Nein, nein, Madame Macq, antworten sie, da gibt es viel Schlimmeres als Schokolade..."
Stundenlang kann Claire Macq über ihren Beruf erzählen, mit ansteckender Begeisterung. Warum aber gibt es eigentlich so wenig Frauen in diesem Metier?
Die Pralinenmacher - das ist ein echtes Macho-Milieu. Dabei arbeitet eine Frau in der Werkstatt künstlerisch, oft auch präziser. Im Prinzip ergänzen sich Männer und Frauen. Aber ich kenne kaum eine andere 'chocolatière'. Das Ausgießen der Formen zum Beispiel bedeutet körperliche Schwerstarbeit. Da braucht man sehr kräftige Arme. Aber die bekommt man im Laufe der Zeit, und man gießt ja nicht den ganzen Tag lang. Die Maschinen erleichtern viele Arbeitsgänge. Trotzdem, es gibt wenig Frauen."
Der Kakao
Wie glänzt auf meinen dunklen Lippen
diese Wolke aus Tau
und welcher Duft
kitzelt meine Nase!
So gieße ich den Nektar
in ein einfaches Tongefäß,
gegen das jedoch
keine noch so kostbare Tasse aus Murano
den Vergleich halten kann.
Nicht auf einmal fülle ich es
und nicht mit flüchtiger Gebärde,
sondern lasse
durch häufiges und geschicktes Quirlen
einen federleichten Schaum
aus dem süßen Saft emporsteigen.
Es ist für mich dann
ein angenehmes Spiel,
den verbleibenden Saft
immer weiter zu verrühren
und ihn in die Tasse zu gießen,
bis sie ganz voll ist.
Meine Lippen nähern sich gierig
der schäumenden Tasse,
um die Götterflüssigkeit zu berühren
und in sich aufzusaugen.
Welch ein Geschmack!
Welch neuer Morgentau!
Welch duftende Blume!
Gibt es Ambrosia,
die dem Gaumen noch mehr schmeichelt?
"Der Kakao" ein lateinisches Versgedicht des Jesuitenpaters Tommaso Strozzi erschien 1786 in Bologna. Zu dieser Zeit waren die bitteren Bohnen nicht nur als wohlschmeckendes Getränk, sondern vor allem als Heilmittel und Aphrodisiakum in ganz Europa begehrt. Wer sie tatsächlich aus der Neuen in die Alte Welt brachte, ob Kolumbus oder ein anderer spanischer Seefahrer, steht bis heute nicht ganz genau fest. Sicher aber ist, dass der Kakao in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Spanien gelangte und die daraus gewonnene Schokolade, damals nur als Getränk bekannt, vor allem am spanischen Königshof überaus schnell beliebt wurde. Und zugleich gewann sie in der katholischen Welt große Bedeutung - der Grund ist relativ simpel: Weil Flüssiges in der Fastenzeit erlaubt war und weil die Schokolade einen so großen Nährwert hat, diente sie in Spanien und Italien zunächst vor allem als Fastengetränk.
Im 17. Jahrhundert bringt die in Madrid aufgewachsene Habsburgerin Anna von Österreich das Getränk mit an den französischen Hof, und es dauert nicht lange, bis die Schokolade von hier aus zum Statussymbol der europäischen Aristokratie avanciert. Sie ist Ausdruck eines mondänen Lebensstils und wird von der feinen Gesellschaft gerne als erstes Schmankerl des Tages morgens im Bett verzehrt. Die Verklärung der Schokolade als sinnliches Erlebnis dient dem Adel nicht zuletzt dazu, sich vom asketischen und lustfeindlichen Lebensstil des Kaffee trinkenden Bürgertums im 17. und 18. Jahrhundert abzugrenzen. Als der Niederländer Jakob van Houten 1828 ein Verfahren zur Trennung von Kakaopulver und Kakaobutter entwickelt, beginnt eine neue Zeit. Der entfettete und deshalb weniger nahrhafte, dafür besser verdaubare Kakao wird allmählich zum Volksgetränk, die Tafelschokolade zum neuen Genussmittel, und die Praline bald darauf zur Gaumenfreude für Kenner.
Der rechte Flügel eines gewaltigen Portals öffnet sich. Dahinter eine düstere Halle, die von einem immensen Spiegel mit goldenem Barockrahmen beherrscht wird. Eine kleine Tür führt ins Atelier von Bob Mordant. Der kleine, etwas rundliche Mann ist ein vielbeschäftigter Porzellanrestaurator - und ein ebenso kompetenter Pralinenkenner:
"Wie ich auf die Schokolade gekommen bin? Mit meinen 49 Jahren erinnere ich mich nicht mehr genau. In meiner Kindheit lagen zuhause immer die berühmten Schokoladenriegel von Côte d'Or, die haben wir geliebt. Aber inzwischen kaufe ich nur noch Pralinen, und zwar keine reich verzierten, hübschen, sondern ganz schlichte, nüchterne Formen, die im Mund überraschende Geschmacksnuancen freisetzen."
Verträumt schauen die hellgrauen Augen über die vielen Tische und Regale, die mit angeknacksten, zerbrochenen, reparierten Vasen, Schalen, Tellern, Nippesfigürchen, Plastiken aus vielen Jahrhunderten übersät sind:
"Ich denke, dass sich meine Vorlieben im Laufe der Zeit verfeinert haben. Heute esse ich Schokolade nicht mehr so wie vor 15, 20 oder 30 Jahren. Ich habe gelernt, Schokolade zu genießen. Ich bin mir bewusst geworden, welch großes Privileg es ist, im Land der besten, berühmtesten Pralinenmacher zu leben. Ich habe das Glück gehabt, aus einer schier unendlichen Vielzahl von Pralinen auswählen zu können. Ich habe massenweise Pralinen gekostet, von allen 'chocolatiers', und mich dann entschieden. Je älter ich geworden bin, desto stärker hat sich mein Geschmack herauskristallisiert. Heute schätze ich am meisten die schwarze, bittere Schokolade."
Bob Mordants Blick schweift noch weiter ab, nach draußen, in den Terrassengarten.
"Man isst eine Praline anders als eine Tafel Schokolade. Man wählt seine Praline aus, in einer Schachtel befinden sich ganz unterschiedliche. Man hat gewisse Vorlieben und entscheidet sich entsprechend. Bereits das ist eine regelrechte Zeremonie. Ich stelle fest, dass am Ende eines Dîners oft die Konversation versiegt, wenn die Pralinen gereicht werden. Die Gäste ziehen sich in ihr Innerstes zurück, und ein feierlicher Moment bricht an, wenn sie die Schokolade essen."
Pralinen als krönender Abschluss eines großen Essens, meistens zum Kaffee, Cognac oder Portwein - eine traditionelle Verbindung. Anders bei Bob Mordant:
"Ich beginne den Tag mit einer Praline im Mund. Das ist fantastisch. Ich liebe das über alles, ich bin dann auf Anhieb gut gelaunt. Dazu muss es ganz ruhig sein. Bloß keine Musik. Ich brauche Stille, um die Schokolade in all ihrer Reinheit zu kosten."
Am Ende eines langen Arbeitstages sind die Mitarbeiter seines Ateliers bereits nachhause gegangen, Bob Mordant hat die verschiedenen Öfen gerade ausgeschaltet. Obwohl er in dieser Situation normalerweise keine Pralinen isst, öffnet er die mitgebrachte Schachtel doch: Leidenschaft ist Leidenschaft:
Avec plaisir. Ah voilà, voilà. Hier sind meine Lieblingspralinen: Die Trüffel. Wirklich, die mag ich am liebsten. (Schmatzt - Délicieuse, tout-à-fait merveilleux. - Schmatzt) Köstlich, einfach wunderbar! (Schmatzt) Warum diese Trüffel? Es ist ein Genuss, sie zu zerkauen, sie im Mund zerschmelzen zu lassen, zu spüren, wie mein Speichel fließt, was dazu führt, dass mein Mund nach einer weiteren Praline verlangt. Er sagt: 'Eine genügt nicht, iss weiter, ziehe Gutes aus dem Genuss!' Das ist fast unerklärbar. Schokolade essen ist wahrhaftig ein Glücksmoment.
Man nehme eine Portion
ausgewählter Kakaofrüchte.
Diese Bohnen
sollen mit leichter Hitze
behandelt werden,
weil gebrannte Schokolade
einen angenehmen Geschmack hat.
Danach soll ein Fachmann
den gereinigten Teil der schmackhaften Frucht
auf einem glatten Stein ausbreiten
und ihn so lange schlagen,
bis er auf dem harten Marmor völlig zerkleinert ist.
Anschließend werden 16 Unzen
gereinigten Zuckers hinzugefügt
und das Ganze
mit geschickter und schneller Hand verrührt.
Man zögere nicht,
Vanille beizumischen,
durch die der delikate Nektar
wohlschmeckender wird.
Die schmackhaften Früchte
sollen alle auf einer Marmorplatte
mit Feuer bearbeitet werden,
und ein Zylinder aus Marmor
zerkleinere sie in kleinste Teile.
Man lasse hiervon nicht ab,
bis die resultierende Masse
so weich wie Butter ist.
Die Masse soll danach ein Jahr lang
in einem geschlossenen Ort lagern,
damit ihr die Zeit
noch mehr Kraft verleiht
und sie löslicher wird.
Dies ist die angenehme Prozedur,
das Lebenselixier herzustellen.
Die Poesie der Schokoladenherstellung, wie sie Tommaso Strozzi Ende des 18. Jahrhunderts beschrieb, ist heute der modernen Fabrikation gewichen. Nach der Fermentation, also dem Gärungsprozess, werden die Bohnen getrocknet, dann geröstet, und schließlich zur Kakaomasse gemahlen.
In Belgien wird seit Beginn des 20 Jahrhunderts die so genannte Deckschokolade industriell verarbeitet, der Grundstoff für gefüllte Schokoladenriegel und -tafeln, wie natürlich auch für die belgischen Pralinen.
Recyclart, ein Café unter einer Eisenbahnbrücke am Brüsseler Südbahnhof, das die Subkultur pflegt. Performancekünstler und Sänger, Studenten der Kunstakademie und ein eher lässiges Publikum treffen sich hier. Peter Scholliers, um die Fünfzig, schlank und schlaksig, graumeliertes Haar, hat sich bewusst für dieses Café entschieden:
"Einst stand die Côte d'Or-Fabrik gleich hier neben dem Südbahnhof. Ich bin Brüsseler. Früher nahm ich ab und zu den Zug, um irgendwohin zu fahren. Am Südbahnhof fielen immer zwei starke Gerüche auf: Der Geruch der Frittenbuden und - Tag und Nacht - der Geruch von warmer, süßer Schokolade. Wenn Menschen sich erinnern, denken sie immer an Orte und Gerüche. Für mich gehören diese beiden unwiderruflich zusammen.
Côte d'Or, die belgische Traditionsmarke mit dem trompetenden Elefanten als Emblem lässt den Professor für Sozialgeschichte an der Freien Universität Brüssel nicht mehr los:
"Erstens: Ich esse gerne Schokolade... Zweitens: Ich beschäftigte mich mit Löhnen. Ich schrieb Hunderte belgischer Unternehmen an, um ihre Lohnkarteien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzusehen. Nur Côte d'Or, die damals noch ihre Fabrik am Südbahnhof hatte, antwortete. Ich habe dort sehr viele Lohnkarteien gefunden. Aber um sie zu interpretieren, musste ich die ganze Unternehmensgeschichte von Côte d'Or schreiben."
Von der Geschichte dieses Unternehmens war es nur ein kleiner Schritt zur allgemeinen Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schokolade in Belgien.
"Zunächst, zwischen 1850 und 1880, lag Belgien etwas im Rückstand. Aber wir haben schnell aufgeholt und von anderen Ländern Produktions-, Marketing- und Verpackungsmethoden übernommen. Und die haben wir dann stark modernisiert. Dabei entstanden große Firmen, etwa die 'Alimenta AG', die ihrer Schokolade sehr bald den Markennamen 'Côte d'Or' gab. Zur gleichen Zeit erfanden die Belgier auch die einzeln verpackten Schokoladenriegel und -tafeln. Sie setzten sich bei uns sofort durch, erst danach auch in Frankreich oder England."
Über die Gründe dieses Erfolges forscht der Sozialgeschichtler derzeit intensiv:
"Zwischen Produktion und Konsum steht das Marketing. Es entwickelt sich enorm. Ich habe zum Beispiel ein Jahrbuch von 1943 gefunden, also aus der Kriegszeit. Es enthält enorm viel Werbung, ein Viertel davon für Schokolade. Sie ist sehr modern. Starke Bilder sprechen insbesondere Kinder und Arbeiter an.
"Wenn ich an meine eigene Kindheit und Jugend in den fünfziger und sechziger Jahren zurückdenke, dann fallen mir sofort die Leonidas-Läden ein. Diese Pralinenläden gehörten zum Straßenbild und zum Konsumverhalten der einfachen Leute. Pralinen waren ein Bestandteil unseres Alltags. Was wir uns besonders gefiel: In den Läden konnten wir unsere persönliche Auswahl treffen. Ich zum Beispiel wollte nur weiße Pralinen mit einer bestimmten Füllung. Die bekam ich dann auch. Und die Pralinen wurden dann auch noch hübsch verpackt. Die Schachteln oder 'ballotins' wurden in grell buntes, goldenes, silbernes oder weißes Papier gehüllt und mit einer Schleife verziert. Wenn heutzutage in New York, Hamburg oder Paris - und auf vielen Flughäfen! - belgische Pralinen zu kaufen sind, dann ist das einem guten Marketing zu verdanken. Jeder isst gerne Pralinen. Alkohol ist als Mitbringsel nicht immer geeignet, viele Leute mögen ihn nicht. Aber ich kenne nur sehr wenige Leute, die keine Schokolade oder Pralinen essen."
Die Côte d'Or-Fabrik am Südbahnhof, die Peter Scholliers' Leben und Arbeit so geprägt hat, verlegte ihre Produktion in den achtziger Jahren von Brüssel 15 Kilometer westlich nach Halle. Fast gleichzeitig wurde das belgische Traditionshaus auch noch an den Schweizer Multi Jacobs-Suchard verkauft, der seinerseits 1990 vom amerikanischen Kraft-Konzern übernommen wurde.
"Ich erinnere mich noch an die Diskussionen damals. Wir hatten das Gefühl eines Verlustes. Côte d'Or, das war so belgisch - und plötzlich nicht mehr unseres. Allmählich trösteten wir uns mit dem Gedanken, dass diese Schokolade noch immer in unserem Land produziert wird, nach denselben Verfahren. Wenn wir Belgier sagen: Côte d'Or ist von uns, dann ist es auch von uns."
Form und Inhalt - bei der Praline sind sie eine Frage der Förmchen. Denn ältere Schokoladenformen wurden im 19. Jahrhundert noch aus Kupfer und Silber in der Innenseite angefertigt. Und je glänzender das Metall, desto mehr glänzte am Ende auch die Oberfläche der fertigen Praline. Die europaweit größte Sammlung von Schokoladenformen findet sich, wie nicht anders zu erwarten, in Brüssel.
Die Villa von Irène Dorchy, der Witwe des Historikers, Malers und Sammlers Henry Dorchy im gepflegten Brüsseler Stadtbezirk Watermael-Boitsfort. Antike Kommoden und Tische, Fensterbänke, Regale und Schränke stehen voll mit sanft silbrig schimmernden, alten Schokoladen- und Pralinenformen. Sogar im offenen Kamin stehen sie, wie die meterhohe Vorder- und Rückseite eines Weihnachtsmannes aus versilbertem Kupfer. Ein Prunkstück. Irène Dorchy, eine zarte, betagte Dame im schlichten, hellgrauen Wollkostüm, sitzt auf einem langen Ledersofa:
"Alles begann zufällig. Mein Mann und ich spazierten kurz nach dem Krieg über den Antiquitätenmarkt auf dem Sablon-Platz in Brüssel. Ein Händler bot Schokoladenformen an. Wir fanden sie sehr hübsch und beschlossen, ein paar als Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Zuhause stellten wir sie auf eine Kommode. Sie gefielen uns so gut, dass wir sie lieber selbst behielten. So hat das angefangen. Eine Woche später gingen wir wieder auf den Antiquitätenmarkt, dann auf die Flohmärkte, schließlich zu den Confiseuren, die ihren Beruf aufgaben."
Genau 2.966 Formen zählt die Sammlung - die größte Europas - im Augenblick, und sie wird ständig umfangreicher. Aber die Suche wird schwieriger:
"Die Amerikaner haben fast alles aufgekauft. Nur manchmal hat man noch das Glück, ein schönes Stück zu finden. Aber durch die Amerikaner sind die Preise gestiegen. Als mein Mann und ich zu sammeln anfingen, waren die Formen billig. Die Confiseure wollten sie loswerden, weil sie verrostet oder nicht mehr ausreichend verzinnt waren. Sie warfen sie in die Mülltonne. Manchmal haben wir sie kistenweise fast umsonst bekommen. Heute ist das undenkbar. (2:47) Dabei gibt es noch einige spektakuläre Formen, die mir fehlen. Zum Beispiel ein 75 Zentimeter hoher Eiffelturm. Wenn ich den bekäme, wäre ich sehr glücklich. (lacht) Alles, was ich nicht habe, interessiert mich!"
Enkelin Laure Dorchy, eine Kunsthistorikerin, in einem eleganten, knöchellangen, weißen Wollkleid, ist eine ebenso leidenschaftliche Sammlerin:
"Seit meiner Kindheit komme ich in dieses Haus. Jedes Mal war ich von den Formen überwältigt, die überall herumstehen und -liegen. Ihr Anblick faszinierte mich. Diese Formen haben später meine eigene Sammlerleidenschaft angeregt. Ich sammle Juwelen, also ebenfalls glänzende Metallobjekte. Eines Tages erwachte aber auch mein Interesse für die Schokoladenformen. Mein Großvater hatte 1986 ein erstes Buch darüber geschrieben. Es war bald vergriffen. Er beschloss, ein neues Buch zu schreiben. Ich nutzte diese Chance, um mich an dem Projekt zu beteiligen. Zwei Jahre arbeiteten wir daran. Es enthält ganz neue Fotos."
Während Großvater Henry Dorchy die Schokoladenformen in erster Linie als historische Dokumente betrachtete, hat Enkelin Laure einen etwas anderen Blick:
"Die Präzision und die Schönheit der Formen begeistern mich. Schokolade wird geformt, um bald gegessen zu werden. Da ist es schier unglaublich, mit wie viel Liebe und Geschmack die Formen hergestellt werden. Alle Kunst-Stile sind vertreten, vom Jugendstil, Art-déco und Expressionismus bis hin zur Karikatur und zu Science-Fiction. Manchmal denke ich: 'Wie konnten die Leute so schöne Schokoladenstücke aufessen!' Dabei waren diese Schmuckstücke Werkzeuge. Ich finde es phantastisch, wie sorgfältig sie gestaltet sind."
Nicht nur alle Kunststile sind vertreten, auch alle Themen kommen vor: Vom ABC bis zu Heiligenfiguren, vom Fernsehapparat bis zum Kamasutra. Und natürlich Belgien, das Mekka der Pralinenkünstler:
"Eine ganze Reihe von Formen stellen Angehörige unserer königlichen Familie dar, zum Beispiel König Albert I. und Königin Elisabeth, ihren Sohn König Leopold III. und seine Gemahlin Astrid. Das ist typisch belgisch - und natürlich die Brüsseler Brunnenfigur 'Manneken Pis', den gibt's nackt oder kostümiert, als Soldat, als Ludwig XV. Ich habe auch eine Form mit König Leopold II., der den Kongo kolonialisiert hat. Neben seinem Konterfei steht: Kongo. Auch wilde Tiere wie Elefanten, Tiger, Löwen erinnern an die Kolonie."
Laure Dorchy blättert in ihrem Buch und zeigt eine abstrakte Schokoladen-Skulptur nach der anderen:
"Die heute gängigen Kunststoff-Formen sind nicht originell. Viele belgische 'Chocolatiers', die ihre Pralinen noch von Hand herstellen, benutzen deshalb alte Formen. Einer, der Brüsseler Frank Duval, übertrifft sie alle. Er sucht nicht ständig neue Geschmacksnuancen, sondern kümmert sich zuerst um die Form seiner Pralinen. Für ihn sollte vor allem die Form den Pralinenliebhaber reizen. Jahrelang hat er mit der Herstellung von neuen Kunststoff-Formen experimentiert, zusammen mit Designern, Juwelieren, Bildhauern, um ganz originell geformte Pralinen zu entwickeln. Hier zum Beispiel eine überraschende 'Manon', eigentlich eine dicke Buttercreme-Praline, die hier aber eher einer abstrahierten Fliegenden Untertasse ähnelt. Frank Duval ist der einzige, der neue Formen sucht und kreiert. Dabei leiden die 'Chocolatiers' unter der heutigen Langeweile, alle trauern der Vergangenheit und der früheren Kreativität nach."