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Trügerischer Frieden

Kaum mehr als ein Jahr vor der Eröffnung der Fußball-WM in Brasilien gelten die unzähligen Armenviertel des Landes weiterhin als Hort von Gewalt und Verbrechen. Unter dem Rubrum der Befriedung soll manche Favela gleich ganz verschwinden – und nebenbei Platz machen für schicke neue Hotels.

Von Pauline Tillmann |
    Mit der Seilbahn geht es nach oben. Nach 15 Minuten hat man vier Stationen passiert und ist im Herzen von "Complexo do Alemao", eine der größten Favelas in Rio de Janeiro. Mehr als 300.000 Menschen leben hier. Früher hat man sich nicht getraut, einen Fuß dorthin zu setzen.

    "Abgesehen von der Bevölkerung waren die Polizisten früher die Einzigen, die überhaupt Zutritt zu diesen Favelas hatten. Sie kamen – und gingen gleich wieder. Jetzt sprechen wir davon, dass wir das Gebiet besetzt haben und das beschreibt exakt das, was passiert. Denn wir sind gekommen, um zu bleiben."

    Sagt der 31-jährige Michell Oliviera. Der Leutnant hat mehr als 300 Polizisten unter sich. In einem mehrtägigen Besetzungskampf haben viele seiner Kollegen die ehemaligen Drogenbarone Ende 2011 überwältigt – und damit dauerhaft verjagt.

    "Für mich persönlich ist die Veränderung massiv spürbar. Ich wohne nur wenige Minuten von Complexo do Alemao entfernt. Früher habe ich diesen Bereich immer weiträumig gemieden, weil es nicht selten zu Schießereien gekommen ist. Jetzt kann man sich hier frei bewegen."

    Die Polizisten sprechen von Besetzung und von Befriedung. Wichtig sei, betont Michell Oliviera, dass die Lebensqualität der Menschen gestiegen sei. Eine Bewohnerin namens Inia bestätigt das:

    "Es ist auf jeden Fall besser geworden, seit die Friedenspolizei in unserer Favela ist – die Gewalt hat insgesamt abgenommen. Und ich glaube daran, dass dieser Trend anhält. Zumindest gibt es keinen von "denen" mehr, die mit Waffen durch die Gegend laufen."
    Mit "denen" meint Inia die Drogenbarone – und ihre Handlager. Sie selber arbeitet als Haushälterin und ist vor 26 Jahren nach Rio de Janeiro gekommen. In Rio gibt es Arbeit. Deshalb strömen so viele Menschen in die Stadt am Zuckerhut. Doch gerade in der Sechsmillionen-Metropole haben sich die Favelas, die Armenviertel, seuchenartig ausgebreitet.

    Wenn man durch Complexo do Alemao geht, wird man als Europäer angestarrt, wenn man – im Gegensatz zu den meisten Brasilianern – hellhäutig ist. Aber man fühlt sich gleichzeitig einigermaßen sicher. Und das ist wichtig, wenn man an Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft im kommenden Jahr denkt. Von hunderten Favelas sind gut 30 befriedet. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, möchte man meinen, aber es ist immerhin ein Anfang. Lange hat man tatenlos zugesehen wie sich die Armenviertel wie Kletterpflanzen ausbreiten und die Bevölkerung von Drogenbaronen wie dem "Roten Kommando" unterjocht worden ist. Doch auch heute haben die Menschen Angst.

    "Die Friedenspolizei kommt jeden Tag, ich sehe sie hier entlangfahren. Es gibt also eine gewisse Präsenz. Aber ich rede nicht mit ihnen, weil die Banditen im Hintergrund immer noch da sind – und sie bis heute Menschen umbringen."

    Aber keine Touristen, versichert man mir. Denn die sollen ja nach Rio kommen, vor allem während der WM und später, 2016, auch zu den Olympischen Sommerspielen, die in Rio ausgetragen werden. Und dafür sollen schicke neue Hotels gebaut werden. Doch für neue Hotels braucht man Platz.

    Platz, den man in Rio eigentlich nicht hat. Eigentlich, denn um Platz zu schaffen, werden kurzerhand Häuser abgerissen, erklärt dieser Favelabewohner:

    "Diese Gegend war schon immer dicht besiedelt und nun hat man beschlossen, ihr eine völlig neue Funktion zu geben. Es handelt sich dabei um eine besonders konservative Stadtentwicklung, die auf bestimmte Gruppen im Bereich Industrie, Kultur und Immobilien ausgerichtet ist. Aber die Menschen, die hier schon lange leben, werden dabei überhaupt nicht berücksichtigt."

    Deshalb stellt sich die zentrale Frage: Wem gehört die Stadt? Die Stadtverwaltung weiß, dass Favelabewohner wenig Geld haben. Deshalb versucht man, sie mit Entschädigungssummen zu ködern. Das Problem ist, dass man sich von dem Geld nichts Adäquates im Zentrum von Rio leisten kann. Viele Menschen wohnen im Speckgürtel der Stadt und fahren jeden Tag bis zu vier Stunden zur Arbeit. Die 38-jährige Luciana, Mutter von zwei Kindern, will das nicht – deshalb wehrt sie sich gegen die Abrisspläne.

    "Ich möchte in meinem Haus wohnen bleiben. Offiziell heißt es, das Haus sei baufällig – deshalb nennt man es "Risikohaus" – aber was weißt schon Risiko? Man müsste es mal renovieren, aber weg will ich nicht, denn wir wohnen hier sehr zentral."
    Luciana wohnt in der ältesten Favela von Brasilien, in Providencia. Sie wurde im 19. Jahrhundert von Hafenarbeitern gegründet – und passenderweise sieht man vor hier aus den Hafen von Rio de Janeiro. Mehr Zentrum geht kaum.

    "Ich bin mir absolut sicher, dass das alles nur wegen der WM und der Olympiade passiert. Vorher hat sich auch niemand um uns gekümmert. Da war es den Behörden egal, ob wir in einem so genannten 'Risikohaus' wohnen oder nicht. Das alles wird nur wegen der Touristen gemacht, aber sobald die Großereignisse vorbei sind, interessiert sich wieder keiner mehr für uns."

    Insgesamt sind 600 Familien von den Umsiedlungsplänen der Regierung betroffen. Die meisten geben nach und nach resigniert auf, doch einige Wenige kämpfen erbittert für ihr Recht – neben Luciana auch der 23-jährige Cosme Felippsen. Auch sein Haus wurde vor zwei Jahren mit einer blauen Spraydose markiert.

    "Ich finde es gut, dass die Fußball-WM in Brasilien ausgetragen wird, weil das Land dadurch noch bekannter wird. Außerdem entstehen viele Arbeitsplätze und es gibt eine Menge Handel – das alles hilft unserer Wirtschaft. Aber die Menschen, die ohnehin schon immer benachteiligt waren, bleiben benachteiligt. Und man benachteiligt die Menschen in den Favelas eher als die in angesagten Stadtvierteln wie Copacabana oder Ipanema. Dort würde man mit den Menschen so nicht umgehen."

    Auch Providencia ist befriedet, das heißt die Friedenspolizei ist präsent. Sie vermittelt einen Eindruck von Sicherheit, aber was heißt das schon? In den unbefriedeten Favelas herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, aber auch in den befriedeten Stadtteilen ist die Kriminalität immer noch erschreckend hoch. Für die Fußballweltmeisterschaft 2014 wird das das größte Problem sein, das es gilt, in den Griff zu bekommen. Denn momentan wirkt der Frieden vor allem: trügerisch.
    Favela Complexo do Alemano in Rio - VERWENDUNG NUR FÜR SONNTAGSSPAZIERGANG VOM 19.05.13!
    Mehr als 300.000 Menschen leben in der "Complexo do Alemao" - eine der größten Favelas in Rio de Janeiro. (Pauline Tillmann)