"Der Mann ist offensichtlich völlig außer Kontrolle geraten", sagte Merz im Deutschlandfunk, anders könne man die Bemerkung nicht kommentieren. Merz ist Vorsitzender der "Atlantikbrücke", einem Verein zum Austausch zwischen den USA und Deutschland.
In Amerika gebe es seit vielen Jahren eine zunehmende Zahl von Verschwörungstheorien mit einer großen Zahl von Anhängern, so Merz weiter – Verschwörungstheorien gegen die Medien, die Wall Street, das gesamte Establishment, gegen die Banken und gegen viele Institutionen des US-Staates. "Diese Stimmung macht sich Trump zunutze", sagte Merz, und fördere sie auch in seiner eigenen Umgebung. "Er sucht heute schon die Schuldigen für seine mögliche und möglicherweise auch absehbare Wahlniederlage."
Merz zeigte sich erschüttert über Trumps Aussagen in der TV-Debatte. Die Demokratie sei aber trotzdem stark genug, das auszuhalten. Er sei optimistisch, dass nach dem hässlichem Wahlkampf die Demokratie stark bleibe.
"Unbeliebteste Kandidaten aller Zeiten"
"Wir haben es mit den beiden ältesten und mit den beiden unbeliebtesten Kandidaten aller Zeiten zu tun", sagte der frühere CDU-Politiker im Deutschlandfunk. "Das gesame politische System in Amerika wird erschüttert von diesem Wahlkampf." Nach der Wahl am 8. November und der Amtseinführung am 20. Januar würden die parteipolitischen und ideologisierten Auseinandersetzungen in Amerika sicher nicht aufhören.
Merz sagte, die künftige Zusammenarbeit zwischen den USA und der EU bleibe schwierig. Die Politik werde nach der Präsidentschaftswahl im November erst mal sehr stark nach innen gewendet sein. Es sei immer schon schwierig gewesen, in Regierung und Kongress genug Außen- und Sicherheitspolitiker zu finden, die sich mit den EU-Staaten beschäftigen würden. Das werde sicher nicht einfacher – ganz gleich, ob Clinton oder Trump Präsident werde. Wichtig sei es, gegenüber den USA geschlossen aufzutreten, so Merz. Die Amerikaner würden die EU zurecht als häufig sehr zerstritten ansehen.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Friedrich Merz. Er war CDU-Politiker und ist heute Vorsitzender der Atlantikbrücke, einem überparteilichen Verein führender Transatlantiker, die sich für die deutsch-amerikanische Freundschaft einsetzen. Guten Morgen, Herr Merz.
Friedrich Merz: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Die drei Fernsehduelle liegen inzwischen hinter uns. Die berühmte Glaskugelfrage an Sie: Wer wird die Wahl am 8. November gewinnen?
"Die amerikanischen Wahlen sind nicht entschieden"
Merz: Na ja. Man ist ja geneigt zu sagen, Gott sei Dank liegen sie hinter uns, denn so richtig angenehme und überzeugende Veranstaltungen waren das nicht. Aber so wie es jetzt aussieht, drei Wochen vor der Wahl, liegt Hillary Clinton ziemlich eindeutig vorne, aber die amerikanischen Wahlen sind nicht entschieden.
Dobovisek: Nicht überzeugend von beiden Seiten?
Merz: Wir haben es mit den beiden ältesten und mit den beiden unbeliebtesten Kandidaten aller Zeiten zu tun. Das gesamte politische System in Amerika wird erschüttert von diesem Wahlkampf. Aber so viel man vielleicht aus heutiger Sicht sagen kann: Es wird nach dem 8. November, dem Tag der Wahl, und nach dem 20. Januar, dem Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten, sicherlich nicht aufhören mit dieser parteipolitischen und ideologisierten Auseinandersetzung in Amerika. Keine besonders guten Zeichen für die Bundespolitik.
Dobovisek: Was bedeutet das für Transatlantiker wie Sie?
Merz: Die amerikanische Politik wird zunächst einmal sehr stark nach innen gewendet sein. Wir werden eine Fortsetzung auch der innenpolitischen Auseinandersetzungen in Amerika erleben. Es war immer schon schwierig, eine genügend große Anzahl von Außen- und Sicherheitspolitikern etwa in der amerikanischen Regierung oder im amerikanischen Kongress zu finden, die bereit waren, sich auch den Staaten etwa in Europa mit der genügenden Aufmerksamkeit zuzuwenden. Also es wird auch in der Außen- und Sicherheitspolitik sicher nicht einfacher, und zwar ganz unabhängig davon, ob Donald Trump oder ob Hillary Clinton der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird.
"Europa wird in Amerika als ein sehr kompliziertes Gebilde gesehen"
Dobovisek: Bush Junior sprach einst vom "old Europe". Obama wandte sich mit seiner "Pivot to Asia" von Europa ab. Jetzt sprechen Sie die künftigen Schwierigkeiten an. Ist Europa einfach kein zuverlässiger Partner mehr für die USA?
Merz: Europa wird in Amerika - und ich meine nicht ganz zu Unrecht - als ein sehr kompliziertes Gebilde und auch als eine häufig sehr zerstrittene Staatengemeinschaft gesehen. Die Amerikaner verstehen …
Dobovisek: Das ist ja eine Analyse, die durchaus zutrifft.
Merz: Ja. Deswegen sage ich, nicht ganz zu Unrecht. Die Amerikaner verstehen Europa in ihrem Verfassungsgefüge nicht und die Amerikaner verstehen auch nicht, wie so eine Währungsunion eigentlich funktionieren kann von souveränen Staaten, die große Teile ihrer Kompetenzen nicht auf diese Währungsebene übertragen haben. Aber wir müssen auch umgekehrt sagen: Wir beschäftigen uns auch zu wenig mit den politischen Themen, die Amerika und Europa gemeinsam betreffen. Da sind die großen Herausforderungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, da bleiben aber auch die großen Herausforderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Europäische Glaubwürdigkeit steigt mit seiner Einigkeit
Dobovisek: Muss sich Europa erst mal an die eigene Nase fassen, bevor wir mit bangem Blick nach Washington blicken?
Merz: Banger Blick ist die falsche Perspektive. An die eigene Nase fassen ist insoweit richtig, als dass wir in Europa so geschlossen wie möglich auftreten müssen, um auch den Amerikanern hin und wieder zu sagen, dass wir anderer Meinung sind. Unsere Glaubwürdigkeit ist umso größer, je geschlossener wir auf der europäischen Seite sind, und wenn wir der Meinung sind, und wir können es durchaus sein, dass in der amerikanischen Politik manches anders sein sollte, oder in unserer gemeinsamen Politik auf diesem Globus manches anders sein sollte, dann müssen wir auf dieser Seite des Atlantiks geschlossen auftreten. Dann wird es uns auch mit den Amerikanern zusammen gelingen, Lösungen zu finden.
Dobovisek: Kommen wir zurück zu den beiden Spitzenkandidaten in den USA, zu den Auftritten. Kommen wir zurück zu Donald Trump. Frei von allen Fesseln, wie er selbst sagt über sich: I’m your voice, ich bin eure Stimme. Make America great again, zu Größe will er seinem Land wieder verhelfen. Er deutet an, Hillary Clinton einsperren lassen zu wollen, will seine Anhänger die Wahllokale überwachen lassen und die korrupten Medien in die Schranken weisen. Eins kommt noch heute hinzu: Er stellt jetzt schon mehr oder weniger das Wahlergebnis infrage, behält sich vor, es überhaupt anerkennen zu wollen. Wonach klingt das alles für Sie?
Trump "sucht heute schon die Schuldigen für seine Wahlniederlage"
Merz: Diese Formulierung, frei von allen Fesseln, hat er vor zehn Tagen gewählt, als Paul Ryan, der Mehrheitsführer im Kongress, sich von ihm abgewandt hat und ihm die weitere Wahlkampfunterstützung versagt hat. Mittlerweile muss man sagen, der Mann ist offensichtlich völlig außer Kontrolle geraten. Anders kann man diese Bemerkung von heute Nacht nicht interpretieren. Das ist einmalig in der Geschichte der amerikanischen Wahlkämpfe, dass ein Spitzenkandidat - und da hat Hillary Clinton richtig formuliert - einer großen amerikanischen Partei sich weigert, das Wahlergebnis anzuerkennen.
Nun muss man folgendes sehen: In Amerika gibt es seit vielen, vielen Jahren eine zunehmende Zahl von Verschwörungstheorien, die eine große Zahl von Anhängern haben. Das gilt einmal gegen die Medien, das gilt gegen die Wall Street, das gilt gegen das gesamte Establishment in Washington, das gilt gegen die Banken und gegen viele Institutionen des amerikanischen Staates. Diese Stimmung macht sich Trump zunutze. Er fördert sie auch, auch in seiner eigenen Umgebung. Insofern ist das keine wirkliche Überraschung, dass so etwas kommt. Er hat das in den letzten Tagen schon mehrfach gesagt, dass er große Zweifel daran hat, ob diese Wahl ordnungsgemäß abläuft. Man kann es im Grunde auf einen Nenner bringen: Er sucht heute schon die Schuldigen für seine mögliche und möglicherweise auch absehbare Wahlniederlage.
Eine stabile Basis zwischen Republikanern und Demokraten
Dobovisek: Und stellt damit die Grundlage der US-Demokratie infrage.
Merz: Das sehe ich auch so. Ich finde es erschütternd, was da heute Nacht passiert ist, aus seinem Mund gesagt worden ist. Diese amerikanische Demokratie ist - und das wird Sie überraschen, wenn ich das jetzt sage - trotzdem stark genug, so etwas auszuhalten. Ich bin in der letzten Woche das letzte Mal in den USA gewesen und ich habe mir mal den Wahlkampf in einem der Staaten im mittleren Westen angeguckt, also da, wo Amerika wirklich real ist, nicht Washington, nicht New York, nicht San Francisco und Los Angeles, mitten in Amerika. Und dort habe ich etwas Überraschendes und vielleicht auch etwas Ermutigendes festgestellt: Es gibt auf der lokalen und auf der Staatenebene doch immer noch eine relativ stabile Basis der Kooperation zwischen den Republikanern und den Demokraten. Auch hier ist die Auseinandersetzung härter geworden, schärfer geworden, teilweise auch durch die radikalisierte Basis schärfer geworden. Aber diejenigen, die in den Ämtern sind, die Bürgermeister, die Gouverneure, die Senatoren auf der staatlichen Ebene, diese Abgeordneten und Politiker bemühen sich schon sehr darum, auch im Dienste des Landes das Richtige zu tun und diese Demokratie auch weiter zu stärken. Ich bleibe zuversichtlich, dass nach diesem hässlichen Wahlkampf - und er ist hoffentlich dann in drei Wochen endlich vorbei -, aber dass nach diesem hässlichen Wahlkampf die amerikanische Demokratie auch stark bleibt. Ich gebe Ihnen zu: Das ist eine Hoffnung.
"Hoffen, dass Trump eine Episode dieser Partei bleibt"
Dobovisek: Aber trotzdem müssen wir festhalten, Herr Merz, dass momentan nach dem Stand der ersten Blitzumfragen fast 40 Prozent aller Zuschauer, aller Amerikaner, die dem TV-Duell heute gefolgt sind, Trump als Sieger sehen. Das heißt, die haben kein Problem damit, dass die Grundfesten der Demokratie angezweifelt werden von Trump? Das hat ja auch Bedeutung für die Zukunft.
Merz: Das hat ohne Zweifel Bedeutung für die Zukunft und trotzdem sind es 60 Prozent, die es anders sehen ganz offensichtlich, und Hillary Clinton hat heute Nacht auch sicherlich ihren Vorsprung noch einmal ein Stück weit ausbauen können. Die Republikaner sind im Übrigen für eine Woche nach der Wahl mit allen 33 Gouverneuren, die sie in 50 Staaten stellen, 33 von 50 sind republikanische Gouverneure, verabredet, um sich darüber zu unterhalten, wie die republikanische Partei nach dieser absehbaren Wahlniederlage um das Präsidentenamt - nicht im Senat, nicht im Kongress, dort wird ja auch gewählt, dort werden die Republikaner voraussichtlich ihre Mehrheit behalten -, wie sie die republikanische Partei danach wieder aufstellen können. Insofern kann man vielleicht aus der heutigen Perspektive hoffen, dass Trump eine Episode dieser Partei bleibt, eine hässliche, aber hoffentlich eine Episode.
Dobovisek: Das Prinzip Hoffnung ist im Fall des Brexits ja auch irgendwie schiefgegangen aus europäischer Sicht. Sollten sich, kurz zum Schluss gefragt, Politiker in Europa doch auf einen Trump einstellen, sich zumindest darauf vorbereiten?
Merz: Na ja, klug genug sind wir ja Gott sei Dank. Das Auswärtige Amt hat ja auch einen entsprechenden Stab eingerichtet: Wen kennt man da eigentlich aus seiner Umgebung und was sind die zukünftigen potenziellen Kabinettsmitglieder. Ja, das muss man tun. Aber es wird hoffentlich nur eine theoretische Übung bleiben. Hillary Clinton ist eine sehr erfahrene Politikerin, mit allen Ecken und Kanten, die sie hat, und insofern dürfen wir wohl auch nach dieser Nacht davon ausgehen, dass Hillary Clinton die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika am 8. November wird.
Dobovisek: Friedrich Merz war CDU-Politiker und ist Vorsitzender der Atlantikbrücke. Ich danke Ihnen für das Interview.
Merz: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.