Nahezu kampflos haben die Taliban in überraschender Geschwindigkeit die Macht in Afghanistan erobert. Das bisherige, vom Westen mühsam mit aufgebaute politische System bricht wieder zusammen. Der Präsident ist geflohen, Diplomaten und Angehörige westlicher Hilfsorganisationen verlassen das Land. Zurück bleiben viele Menschen, die in den vergangenen Jahren versucht haben, eine moderne Zivilgesellschaft in ihrer Heimat aufzubauen. Viele Ortskräfte werden nicht in Sicherheit gebracht werden können. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas hatten gestern Fehler eingeräumt und erklärt, die internationale Gemeinschaft habe die Lage in Afghanistan unterschätzt und ihre Ziele bei dem Einsatz nicht erreicht.
Die Bundesregierung müsse nun erklären, warum sie die Lage bis zuletzt falsch eingeschätzt und erst spät gehandelt habe, sagte Johann David Wadephul im Deutschlandfunk. Es sei schon zuvor anhand von Geheimdienstberichten klar gewesen, dass die Taliban perfekt für die Machtübernahme vorbereitet gewesen seien. Zwar liefen die Evakuierungen der Bundesregierung in Afghanistan nun hochprofessionell ab, doch viele Ortskräfte könnten wahrscheinlich nicht mehr gerettet werden, so Wadephul.
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Als Reaktion auf die aktuelle Entwicklung in Afghanistan haben auch Sie eine kritische Aufarbeitung der Vorgänge angekündigt. Welche Fragen werden Sie in den nächsten Tagen Ihrer Parteifreundin, der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer stellen?
Johann Wadephul: Na ja. Die Ministerin wie die gesamte Bundesregierung müssen natürlich erklären, warum auch Deutschland - galt natürlich für andere auch - nicht in der Lage waren abzusehen, dass es doch so schnell gehen würde. Wir wussten – und darüber hatten wir auch im Parlament hinreichende Informationen aus den Nachrichtendiensten -, dass die Taliban militärisch, organisatorisch perfekt vorbereitet waren auf eine Machtübernahme, und nachdem die US-Administration auch unter Präsident Biden sich entschlossen hatte, den Einsatz zu beenden, und zwar nicht konditioniert zu beenden, sondern jetzt mit einer Frist einfach hinauszugehen, war natürlich von vornherein klar, dass es früher oder später zu einer Machtübernahme der Taliban kommen würde. Und in der Tat stellt sich die Frage, natürlich an die Afghanen selber, warum haben sie praktisch die Flinte ins Korn geworfen – sie waren zahlenmäßig überlegen, materiell besser ausgestattet -, aber warum hat das niemand so vorhergesehen.
Ich finde nicht, dass der gesamte Einsatz so kritisch zu betrachten ist, wie das einige jetzt tun, aber dieses hastige Ende, was uns vieles nicht mehr erlaubt, was natürlich wünschenswert gewesen wäre, nämlich die Evakuierung vieler, vieler Menschen, das muss schon hinterfragt werden, vollkommen klar.
"Evakuierung läuft hochprofessionell ab"
Heinlein: Nun hat Heiko Maas und auch die Kanzlerin Fehleinschätzungen eingeräumt. Warum gibt es diese klaren Worte bislang noch nicht von Annegret Kramp-Karrenbauer?
Wadephul: Die Bundeskanzlerin gehört der CDU an und hat für die CDU gesprochen. In diesen Minuten äußert sich Annegret Kramp-Karrenbauer dazu und sieht die Sache ganz genauso wie ihr Ministerkollege Maas und auch die Bundeskanzlerin. Das ist eine einheitliche Auffassung der Bundesregierung und wir werden dazu auch Sitzungen des Verteidigungs-, des Auswärtigen Ausschusses am Mittwoch haben. Die Verteidigungsministerin kümmert sich natürlich jetzt darum, dass dieser gefährliche, schwierige Einsatz der Bundeswehr durchgeführt wird, und ich möchte an der Stelle sagen, das läuft hoch professionell ab. Es ist eine erste Maschine gelandet und gestartet. Wir haben Kräfte vor Ort bringen können und schaffen jetzt hoffentlich die militärischen Voraussetzungen dafür, dass nicht nur die Evakuierung deutscher Staatsbürger, sondern auch von Ortskräften stattfinden kann.
Heinlein: Wenn jetzt die Opposition, aber auch Teile Ihrer Partei Heiko Maas als schlechtesten Außenminister aller Zeiten bezeichnet, das ist Wahlkampf. Und Sie plädieren dafür, verstehe ich Sie da richtig, das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten?
Wadephul: Nein! Zum Wahlkampf gehört jede Auseinandersetzung. Ich will und kann und würde auch nicht irgendjemandem raten wollen, solche Fragen nicht zu diskutieren. Nur wissen Sie, wir sind jetzt mitten in einem der gefährlichsten Einsätze der Bundeswehr. Das, was gestern oder heute Nacht stattgefunden hat, die Landung und der Start der A400M-Maschine der Luftwaffe, das Ausbringen von Soldatinnen und Soldaten, von Spezialkräften, von Sanitätern, die sich jetzt ein Lagebild machen, die sind in einer außerordentlich schwierigen Situation.
"Es wird das Außerordentliche getan, um möglichst viele Menschen in Sicherheit zu bringen"
Heinlein: Schwierig aber auch deswegen, Herr Wadephul, weil dieser Rettungs- und Evakuierungseinsatz so spät eingesetzt worden ist, im Unterschied etwa zu den Tschechen, zu den Briten, zu den Schweden?
Wadephul: Na ja. Wir haben, das möchte ich auch noch mal dazu sagen, schon - das hat die Bundeskanzlerin auch gestern gesagt - etwa 1.900 Ortskräfte in Deutschland. Die sind schon in den letzten Wochen hinausgebracht worden. Dass dort gar nichts geschehen ist, das ist falsch!
Wir fangen jetzt an und ich möchte auch klarstellen, weil gesagt worden ist, da sind nur sieben Personen jetzt an der ersten Maschine, das stimmt! Es sind nur sieben. Wir hatten nur einen ganz kurzen Slot von 30 Minuten für die Maschine und wir konnten nur die mitnehmen, die jetzt da waren. Es wäre auch unverantwortlich gewesen, weil gar nicht sicher war, dass die Maschine landen konnte, mehr dort jetzt schon zum Flughafen zu bringen.
Der wesentliche Zweck der ersten Landung war, wie gesagt, robuste Kräfte an Land zu bringen, zum Flughafen, damit wir ein Lagebild bekommen, und damit diese Soldatinnen und Soldaten die Voraussetzungen dafür schaffen können, dass weitere Maschinen landen und starten können.
Heinlein: Herr Wadephul, das klingt alles sehr bürokratisch, sehr technisch, wenn jetzt sieben Personen ausgeflogen wurden. In der ersten US-Maschine saßen über 970 Afghanen, die ausgeflogen wurden.
Wadephul: Ja, vollkommen richtig. Ich finde, das klingt nicht technisch oder bürokratisch. Wenn Sie an Bord dieser Maschine sind, dann finden Sie das gar nicht technisch und bürokratisch. Ich versuche, es nüchtern darzustellen. Aber das, was unsere Soldaten dort zurzeit leisten, das sind Spitzenleistungen, und ich glaube, wir beide, Herr Heinlein, würden nicht tauschen wollen, denn es ist außerordentlich gefährlich. Dazu ist dieses Personal ausgebildet.
Wir haben im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten bisher keine Bodentruppen mehr dort gehabt. Die haben wir jetzt dort hingebracht und deswegen ist der erste Flug so abgelaufen, wie er abgelaufen ist. Wir sind dankbar, dass wir überhaupt landen und starten konnten, und es geht jetzt weiter. Wir haben, wie Sie wissen, drei derartige Maschinen dort stationiert und die sollen jetzt pendeln. Gerade in dieser Zeit, in diesen Minuten, in diesen Stunden werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das gelingt. Es werden jetzt weitere zu evakuierende Personen, Deutsche und Afghanen, zum Flughafen gebracht. Auch das ist keine leichte Übung. Das soll nicht technisch klingen. Ich bin dabei, ehrlich gesagt, emotional berührt, auch weil ich viel Angst habe und Sorge habe um diese Leute, und es wird das Außerordentliche getan, um hier möglichst viele Menschen auch in Sicherheit zu bringen.
Heinlein: Ist Ihr Appell, sollte das die deutsche Linie sein, dass man vor Ort in Kabul angesichts dieser chaotischen Lage am Flughafen dann auch unbürokratisch schnell und großzügig die Menschen, die Ortskräfte und ihre Familien einlädt, um evakuiert zu werden aus Kabul?
Wadephul: Ja, selbstverständlich. Wir werden jetzt natürlich in Kabul kein aufwendiges Visum-Verfahren durchführen können. Das ist auch übrigens, möchte ich klarstellen, in der Vergangenheit nicht gemacht worden, sondern es sind Visa on arrival erstellt worden. Das heißt, bei Ankunft in Deutschland haben diese Personen ein Visum bekommen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir jeden und jede mitnehmen können, aber wir und unser Personal, unsere Diplomaten, die Soldaten kennen …
Heinlein: Wer entscheidet, wer mitgenommen wird und wer nicht?
Wadephul: Das ist eine Fachfrage, die ich jetzt als Parlamentarier nicht abschließend beantworten kann. Ich denke, dass wir Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes haben, die in Zusammenarbeit mit den Soldaten dort Listen haben und das durchaus entscheiden können. Ich muss sagen, über diese Frage ist ja nun lange diskutiert worden. Und das auch zur Diskussion hier in Deutschland: Es ist immer einhellige Meinung der demokratischen Fraktionen mindestens im Deutschen Bundestag gewesen, auch der Koalition, dass diese Ortskräfte rausgebracht werden sollten. Das ist nicht nur die Meinung der Opposition gewesen, die im Übrigen schon lange Afghanistan-Einsätze abgelehnt hat und vielleicht jetzt nicht die erste Kritik äußern sollte, sondern es war der klare Auftrag an die Bundesregierung, die Ortskräfte rauszubringen. Und insofern gehe ich davon aus, dass unsere Leute gut vorbereitet sind und die Personen auch identifizieren können.
Bundeswehreinsatz sinnvoll - aber möglicherweise zu lang
Heinlein: Herr Wadephul, Ihnen war sehr wichtig, dass man in unserem Gespräch die besondere Lage für die deutschen Bundeswehrsoldaten in der aktuellen Lagebeurteilung berücksichtigt. Können Sie verstehen, dass nicht nur deutsche Afghanistan-Veteranen, sondern die deutschen Soldaten insgesamt sich fragen, wofür sind meine Kameraden in Afghanistan gestorben?
Wadephul: Selbstverständlich. Diese Frage wird im Übrigen ja auch schon lange gestellt. Ehrlich gesagt ringen wir in der Politik in allen Fraktionen schon lange damit, ob und wann dieser Afghanistan-Einsatz beendet werden soll. Er dauerte 20 Jahre und ich bin auch schon bei den letzten Debatten wie meine ganze Fraktion dafür eingetreten, dass wir das auch rückblickend noch einmal analysieren müssen, übrigens auch für laufende Einsätze in anderen Ländern wie etwa in Mali. Natürlich kann man diese Frage oder muss man diese Frage stellen. Wir müssen sie auch besprechen.
Es gibt auch keine ganz glasklare Antwort. Ich meine aber doch erstens: Es hat eine Bekämpfung von Terrorismus gegeben. Zweitens: Wir haben 20 Jahre Frieden geschaffen in diesem Land. Wir haben den Aufbau einer Gesellschaft erreicht. Wir haben insbesondere Frauenrechte, Kinderrechte großenteils wiederhergestellt und ein schreckliches Taliban-Regime beendet. Die Taliban, die jetzt sagen, sie sind anders – ich weiß mindestens, dass große Teile der afghanischen Gesellschaft anders sind, weiter sind, sich wehren werden und dass sie insofern auch gewisse Voraussetzungen haben zu verhindern, dass es wieder eine Gesellschaft und einen Staat gibt, in dem sie unterdrückt werden wie vor 20 Jahren. Dafür haben wir schon einiges geleistet und dafür war der Bundeswehreinsatz sicherlich sinnvoll. Ob er 20 Jahre hätte dauern können, darüber kann man mit Fug und Recht streiten.
Zukünftig eher keine Terrorstrukturen wie in der Vergangenheit
Heinlein: Aber jetzt muss die deutsche Sicherheit nicht mehr am Hindukusch verteidigt werden?
Wadephul: Das war eine richtige Aussage des verstorbenen Verteidigungsministers Peter Struck in den 10er-Jahren. Das war eindeutig richtig zur damaligen Zeit. Aber natürlich sind die terroristischen Strukturen, ist El-Kaida dort bekämpft worden und gefährdet die Sicherheit Deutschlands und des Westens nicht mehr in der Weise, dass ein Einsatz gerechtfertigt wäre.
Heinlein: Das glauben Sie, dass dies auch in Zukunft so bleibt, dass Afghanistan nicht zur Heimstätte des internationalen Terrors wird wie in der Vergangenheit – jetzt, wo die Taliban wieder an der Macht sind?
!!Nein! Ich glaube, dass die Voraussetzungen gut sind. Ich glaube im Übrigen, dass auch andere Länder in der Nachbarschaft daran kein Interesse haben. Dazu gehört Russland, dazu gehört China, dazu gehört die Türkei. Außerdem hat Präsident Biden gestern in seiner Fernsehansprache klargemacht, dass auch die Vereinigten Staaten von Amerika eine derartige Entwicklung jederzeit militärisch auch verhindern würden. Die Voraussetzungen dafür sind gut. Garantien kann man in der Außenpolitik nie abgeben, aber alles sieht so aus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.