Für Abdulahi änderte sich sein ganzes Leben innerhalb weniger Minuten. Der 15jährige stammt aus Baga, ein Dorf im Nordosten Nigerias. Als Baga von Kämpfern der Terrormiliz Boko Haram überfallen wird, rennt Abdulahi in Panik weg. So erzählt er es Mitarbeitern der Hilfsorganisation World Vision. Jetzt sitzt er in einem Dorf im Süden des Nachbarstaates Niger – dort endete seine Flucht vorerst:
"Ich weiß nicht, wo meine Eltern sind. Ich bin einfach nach Norden gerannt. Ich habe vier Brüder und eine Schwester. Ich weiß nicht, ob sie noch leben oder tot sind."
Millionen Menschen in der Region um den Tschadsee geht es ähnlich. Nigeria, Tschad, Kamerun und Niger sind von Kämpfen gegen die Terrormiliz Boko Haram betroffen. Vertreibung, Flucht und Hunger sind die Folge. Aber Graziano da Silva, Direktor der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen FAO, sagt, die Kämpfe sind es nicht allein.
Humanitäre Hilfe reicht nicht aus
"Das ist nicht nur eine humanitäre Krise", sagt da Silva. "Es ist auch eine ökologische Krise!" Der Tschadsee ist die größte Wasserquelle in der Region. Aber der See ist seit den 60er Jahren um 90 Prozent geschrumpft. Das hat gravierende Auswirkungen auf Landwirtschaft, Viehzucht und Zugang zu Wasser. Deshalb mahnt der FAO-Direktor: Humanitäre Hilfe in der akuten Hungerkrise reicht bei weitem nicht aus:
"Stellen Sie sich eine komplett abgehängte Region vor: Keine Investitionen, keine Präsenz der jeweiligen Regierung. Das nährt den Konflikt dort. Es ist ein Konflikt gegen Hunger und Armut in ländlichen Gebieten Afrikas."
4,7 Millionen Menschen leiden extremen Hunger
Die FAO, das Welternährungsprogramm, Caritas international: Viele Hilfsorganisationen warnen. Elisabeth Bryant vom Welternährungsprogramm schildert das Ausmaß der Not allein im Nordosten von Nigeria: "Die Lage ist alarmierend. Etwa 4,7 Millionen Menschen im Nordosten Nigerias leiden extrem unter Hunger."
Dafür gibt es ein ganzes Bündel von Gründen: Die Kämpfe zwischen Armee und Boko Haram haben Millionen Menschen vertrieben. Es sind Bauern und Viehzüchter, die seit mittlerweile drei Jahren nicht anpflanzen oder ernten konnten. Die Viehherden sind dezimiert. Und die Sicherheitslage erschwert jede Hilfeleistung. Die Situation in der Tschadsee-Region könnte zu einer dauerhaften Hungerkrise werden.
Hilfe dringt kaum durch
Gernot Ritthaler von Caritas International war gerade in den am meisten betroffenen Bundesstaaten im Nordosten Nigerias unterwegs: "Neu war für mich, dass es große Gegenden gibt, die bisher wenig erreicht werden von Hilfe."
Die Gebiete, in denen sich Armee und Terrormiliz Kämpfe liefern. Gernot Ritthaler verweist aber auch noch auf eine ganze andere Not: Die der traumatisierten Opfer.
"Eine Frau hat mir ihre Tochter vorgestellt. Die saß da auf dem Boden, ein kleines Baby auf dem Schoß, gerade zurückgekommen aus der Gefangenschaft von Boko Haram. Das Kind – man kann sich vorstellen, wie das gezeugt wurde. Die ist jetzt wieder in der Familie: Was hat die Tochter miterlebt, was hat die Familie mit erlebt und wie sollen die sich wieder zurückfinden in ein normales Leben? Wenn man das sieht, dann wird man sich erst der Größe der Herausforderung bewusst."