Einen Platz im Schatten hat sich Karol Sidon gesucht im kleinen Straßencafé, die Sonne brennt vom Himmel auf die Prager Altstadt hinab. Sidon ist hier Stammgast.
Ob er ein Bier wolle, fragt die Kellnerin, aber er winkt ab und bestellt einen Kaffee. In Gedanken weilt er in der Vergangenheit, ein halbes Jahrhundert zurück, als er 26 Jahre alt war.
"Im Jahr 1968 haben wir uns in der Gemeinde getroffen, das war eine tolle Truppe von jungen jüdischen Leuten. Es gab Vorlesungen über die Religion, das war auf einmal möglich. Aber vor allem ging es bei diesen Treffen um die Kontakte. Freundschaften entstanden da, Liebesgeschichten, all sowas. Aber es sollte bald darauf für viele Jahre vorbei sein."
Karol Sidon ist heute ein Mann von 76 Jahren. Er hat eine stämmige Figur, trägt Vollbart im Gesicht mit den humorvoll blitzenden Augen, auf dem Kopf eine Kippa. Er ist Oberrabbiner und hat eine Geschichte hinter sich, die für mehrere Leben reichen würde: Ein Freund des früheren Staatspräsidenten Vaclav Havel war er, während des Kommunismus im Widerstand aktiv, dann lange Jahre im Exil. Und vor allem ein Spätberufener in Sachen Religion.
"Nicht nur die Shoa"
"Ich war damals ein junger Schriftsteller, und das Judentum war für mich nichts anderes als mein persönlicher Hintergrund. Erst nach dem Ende des Prager Frühlings habe ich mir bewusst gemacht, dass das Judentum nicht nur die Shoa ist, nicht nur die Konzentrationslager, sondern dass dahinter auch eine sehr, sehr alte Tradition des Denkens steht."
Für Karol Sidon war das politische Tauwetter während des Prager Frühlings, aber vor allem seine gewaltsame Niederschlagung ein Erweckungserlebnis – politisch und auch religiös.
"Ich wusste damals nicht viel darüber, aber ich merkte, dass die Bibel ein Buch der Wahrheit ist. Sie spricht sehr viel schärfer und wahrhaftiger über die Welt als es jene Illusionen konnten, denen wir uns damals hingegeben haben – diese sozialistischen Träumereien, wie schön sich die Welt und die Menschheit entwickelt und welches großartige Morgen wir vor uns haben. Diese Erkenntnis war für mich sicherlich so etwas wie eine Aktivierung. Es hat noch zehn weitere Jahre gebraucht, bis ich mir bewusst gemacht habe: Wenn ich im Judentum die Wahrheit finde, dann sollte ich es auch praktizieren."
"Entwicklung im Linkstrend"
Prag im Jahr 1945, gerade ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Bis hierhin muss man zurückgehen, um die jüdischen Seiten des Prager Frühlings zu erkennen. Ein Mann, der im Prager Frühling eine prägende Rolle spielen sollte, kam damals nach einigen Jahren im britischen Exil zurück in die Tschechoslowakei, Jude – und überzeugter Kommunist der ersten Stunde. Eduard Goldstücker war sein Name, und in seiner Autobiographie erinnerte er sich viele Jahrzehnte später an die Stimmung nach Kriegsende.
"Da sich die tschechische Gesellschaft in der neuesten Zeit von unten her etabliert und gerade eine Epoche der Unterdrückung – bis an die Schwelle zur Vernichtung – hinter sich hatte, kulminierte die Entwicklung in einem massiven Linkstrend, der auch solche Menschen mitriss, die mit dieser Ideologie ursprünglich sehr wenig im Sinn hatten."
"Große emotionale Motivation"
1948 dann wurde die Tschechoslowakei ein kommunistisches Land, ein Teil des Ostblocks, der sich neu formierte. Tomas Kraus hat diese Zeit genau studiert. Er ist Generalsekretär der Föderation der Jüdischen Gemeinden und vor allem Chronist der jüngeren jüdischen Vergangenheit.
"Viele Männer aus der Staatsführung waren Juden, aber das war nur die Spitze des Eisbergs. Alle Bezirkssekretäre der kommunistischen Partei waren Überlebende des Holocausts. Das kommunistische Regime wusste, dass die jüdische Gemeinschaft loyal sein würde, weil sie den Faschismus als größten Feind betrachtete. Die Juden hatten eine große emotionale Motivation."
Fast zeitgleich mit der tschechoslowakischen Staatsgründung entstand auch der Staat Israel. Beide Ereignisse hingen enger miteinander zusammen, als viele es wohl vermuten würden, sagt Tomas Kraus.
"Israel als Gegengewicht zum britischen Imperialismus"
"Der Zionismus war eine linksgerichtete Bewegung, und in Moskau gab es deshalb Vorstellungen, dass Israel das Gegengewicht zum britischen Imperialismus werden könnte. Prag wurde, nicht zuletzt auf Geheiß Moskaus, zum Unterstützer von Israel. Bei den Vereinten Nationen zählten die Tschechen zu den größten Lobbyisten eines jüdischen Staates. Aus Tschechien kamen Waffenlieferungen nach Israel – Waffen, ohne die sich der israelische Staat in der ersten Phase wohl nicht hätte behaupten können."
Dass noch heute der israelische Präsident Benjamin Netanjahu ausgerechnet die Tschechen als "wichtigsten Verbündeten Israels in Europa" bezeichnet – auch das hat seine Wurzeln in dieser Phase. Dann aber veränderte sich die Lage grundlegend; auch für die Juden in der damaligen Tschechoslowakei. Tomas Kraus:
Hinrichtungen von Juden
"Als sich zeigte, dass aus Israel kein sozialistischer Staat werden würde und Stalin seine Paranoia bekam, ordnete er an, in Prag die Staatsführung zu liquidieren. Jeder Jude in diesem Land stand damit wieder vor einer Situation ähnlich wie im Nationalsozialismus. Anfangs ging es tatsächlich ums nackte Überleben, dann in den 1950er Jahren – nach Stalins Tod – um die Karriere, um Bildung für die Kinder und solche Dinge."
Tatsächlich wurden nach groß angelegten Schauprozessen mehrere Funktionäre der kommunistischen Partei hingerichtet, fast alle Juden. An ihrer Spitze stand Rudolf Slansky, Generalsekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei. Eduard Goldstücker, der der erste Botschafter der Tschechoslowakei in Israel war, schreibt in seiner Biographie, wie knapp er selbst damals den Henkern entkommen sei.
Proarabische Neuorientierung
"Zu den durch barbarische Justizmorde verfolgten Zielen trat nun die Absicht hinzu, die proarabische Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik eindringlich, gleichsam mit Menschenopfern zu bestätigen, vorwiegend jüdischen aus dem Lande, das auf Geheiß Moskaus an der Entstehung des Staats Israel einen beträchtlichen Anteil gehabt hatte."
Die Reaktion vieler Juden, ob mit hochrangiger Funktion oder ohne: Sie verhielten sich möglichst unauffällig. Tomas Kraus, der heutige Generalsekretär der Jüdischen Gemeinden:
"Gottesdienste gab es die ganze Zeit über. Es war aber so, dass sich das Regime bemühte, die Kontrolle über die Juden zu behalten. Meistens setzten sie an die Schaltstellen der Gemeinden Personen, die die Geheimpolizei irgendwie kontrollieren konnte."
Privater Glaube - öffentliche Angelegenheit
Politik und Religion ließen sich nicht trennen zur Zeit des Kommunismus: Den privaten Glauben betrachtete die Staatssicherheit als öffentliche Angelegenheit. Auch den christlichen Kirchen machte sie das Leben schwer, aber für die Juden gab es ein eigenes Referat: Die Zuständigkeit reichte vom "Zionismus" bis zu den Gottesdiensten der jüdischen Gemeinden. Und in diese Gemengelage fiel dann in den 1960er Jahren unverhofft das Tauwetter, das zuerst die kommunistische Partei ergriff und dann auch das jüdische Leben. Eduard Goldstücker formuliert das pathetisch in der Sprache der damaligen Zeit:
"Vieles schien daraufhinzuweisen, daß es vielleicht doch möglich sein würde, den humanen Gehalt der Ideen des Sozialismus zu retten, ihn von den Deformationen, die er in Rußland erfahren hatte, zu befreien."
Kafka-Konferenz und Regimekritik
Goldstücker war damals schon renommierter Germanistik-Professor und Präsident des Schriftsteller-Verbandes in der Tschechoslowakei. Auf dessen Sitzungen wurde immer offener das Regime kritisiert, und manchen gilt eine internationale Wissenschaftler-Konferenz über Franz Kafka als eigentlicher Ausgangspunkt des Prager Frühlings. Goldstücker veranstaltete sie im Jahr 1963.
Kafka wurde vom Staat offiziell als jüdisch-bourgoiser Schriftsteller tituliert und war geächtet. Dass jetzt Wissenschaftler aus aller Welt ausgerechnet in die Tschechoslowakei kamen, um über ihn zu diskutieren; dass sie sogar offen der vorherrschenden Lesart widersprachen – das nahmen in der aufgeheizten Gesellschaft sogar diejenigen wahr, denen Kafka ansonsten herzlich egal war. Man konnte sich wieder mehr herausnehmen, das Regime wurde toleranter; diese Botschaft ging von der Kafka-Konferenz aus.
Im Prager Straßencafé erzählt Karol Sidon, der Oberrabbiner: Er war damals 26 Jahre alt und hatte mit dem Judentum noch nichts am Hut. Trotzdem: Die jüdische Gemeinde, in die er damals neugierig hineinschnupperte, sei für ihn so etwas wie eine zweite Heimat geworden.
"Das lief ganz selbstverständlich. Die jungen Leute haben sich zusammengetan. Wir haben uns vor allem im Speisesaal in der Gemeinde getroffen, und es war auch eine Zeit der Informationen, an die wir vorher nicht drankamen."
Die meisten gingen ins Exil
Am 21. August 1968 endete diese kurze Andeutung eines jüdischen Lebens in der Tschechoslowakei, bevor es sich überhaupt entfalten konnte. Die Warschauer-Pakt-Truppen rückten mit Panzern in Prag ein und beendeten den Versuch, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen, wie damals das Schlagwort lautete. Die meisten von Karol Sidons jüdischen Altersgenossen gingen ins Exil, zwischen 6.000 und 10.000 – vor allem jene, die dem jüdischen Leben neue Impulse hätten geben können. Und diejenigen, die in Prag blieben, reagierten oft mit Trotz, erinnert sich Karol Sidon.
"Wir haben hebräisch gelernt, und der Mann, der uns lehrte, hat gern gesungen. Also hat er uns Lieder beigebracht, alte jüdische Weisen. Für mich war das eine Rückkehr zu etwas Verschollenem, von dem ich nichts wusste. Diese Lieder, diese Melodien sprachen mich an."
"Woher nimmt man die Kraft, dem Druck zu widerstehen?"
Für Karol Sidon begann der Weg, der ihn später zum Studium der Thora führte und in sein Amt als Rabbiner. Ausgerechnet die brutale Zeit nach dem Prager Frühling, als das Regime jede Individualität, jedes freie Wort unterdrückte, brachte ihn zum Glauben.
"Wir hatten die Leute von der Stasi ausgelacht, wir Dissidenten und Unterzeichner der Charta 77. Aber faktisch hatten sie uns in der Hand. Man musste sich die Frage stellen: Woher nimmt man die Kraft, diesem Druck zu widerstehen? Die Menschen, die in Not waren und verfolgt wurden, fanden etwas Tragendes in der Religion, ob es nun diese Religion war oder eine andere."
Sein persönlicher Glaube ist für Karol Sidon das Vermächtnis des Prager Frühlings – ein Vermächtnis, das auch heute noch Bestand hat, 50 Jahre nach dem Einmarsch der sowjetischen Soldaten.