Es ist halb acht am Morgen, und Schenja, der Reiseleiter, macht einen Scherz: "Trinkt ruhig noch ein paar Bier, denn trinken ist nicht erlaubt in der Zone. Eigentlich ist dort gar nichts erlaubt. Willkommen in Nordkorea, kann ich nur sagen! Nur Atmen ist erlaubt."
Von Kiew nach Tschernobyl sind es etwa 100 Kilometer, immer Richtung Norden. Unter den Reisegästen im Kleinbus sind heute auch Chris und Ian, zwei Fluglotsen aus London. Sie haben die englischsprachige Tour gewählt, die knapp 100 Euro kostet. Angst hat der 52-jährige Chris nicht, obwohl er schon als Kind erfuhr, wie gefährlich Radioaktivität sein kann.
"Mein Vater hat für die Regierung Wasser getestet. Und da gab es ein Atomkraftwerk an der Westküste, nördlich von Liverpool. Die Wasserproben lagen immer weit über der Norm für Strahlenbelastung. Mein Vater hat mir verboten, in der Irischen See zu schwimmen. Die Krebse dort hätten die Strahlung gespeichert, hat er gesagt."
Spaziergang in einem verlassenen Dorf
Am Schlagbaum der 30-Kilometer-Zone rund um das Kraftwerk müssen die Fahrgäste ihren Pass zeigen. Dann geht es durch einsame Birken- und Kieferwälder, die hier - laut Schenja - kaum verstrahlt wurden. Die Bewohner mussten diese Zone dennoch verlassen. Tausende kamen zurück, illegal, vor allem die Älteren, aber heute leben nur noch etwa 140 von ihnen. Ohne Strom und ohne fließendes Wasser.
Die Gruppe darf in einem verlassenen Dorf herumspazieren. Schenja führt sie über die morschen und teils zerbrochenen Dielen im ehemaligen Kulturhaus. Im Kindergarten fotografieren die Touristen verrostete Bettgestelle, auf dem Boden im Dreck liegen Kinderschuhe und Bilderbücher. Auch José aus Mexiko macht hier Selfies, der 32-Jährige hat sich auf seinen Osteuropa-Urlaub vorbereitet:
"Ich habe das Tschernobyl-Buch von Swetlana Alexijewitsch gelesen, der Nobelpreis-Gewinnerin. Es erzählt die Geschichten der Menschen, die hier gelebt haben und ihre Häuser verlassen mussten. Ein Kind, das evakuiert wurde, wurde in seiner neuen Klasse ausgegrenzt. Die anderen hatten Angst, sich mit Strahlung anzustecken. Es erzählt auch die Geschichte der Liquidatoren, die hierher gekommen sind, um die Welt zu retten."
Brennelemente wurden nie entfernt
Die vergessenen Helden, die ihr Leben einsetzten, um den Brand im Block Nummer 4 zu bändigen. Sie verhinderten, dass noch mehr hochradioaktive Partikel in die Atmosphäre gelangten. Schon Zigtausende von ihnen sind gestorben. Bei wie vielen die Strahlung Todesursache war, darüber streiten die Wissenschaftler.
Endlich in der Zehn-Kilometer-Zone um das Kraftwerk lässt Schenja den Fahrer an "Hotspots" anhalten. So nennt er Stellen, an denen die Geigerzähler besonders heftig ausschlagen. Keiner aus der Gruppe zögert, sein geliehenes Gerät auszuprobieren. "6,5 Mikrosievert" liest einer vom Display ab. Ein unbedenklicher Wert, meint Schenja. Schließlich, schon nach Mittag, tauchen rechts die Reaktorblöcke auf:
"Sehen Sie das Gebäude rechts, auf dem Dach dort sind die ersten Feuerwehrmänner angekommen, die den Brand im Block 4 löschen sollten. Sie sind alle ganz sicher tot, denn sie haben nur Gummistiefel und ihre normale Uniform getragen."
Über den Unglücksblock 4 ist noch immer der sogenannte Sarkophag gestülpt, den zigtausende Arbeiter in den Monaten nach der Katastrophe errichteten. Eine Konstruktion aus Stahl und Beton, kleinteilig und doch riesig, man sieht ihr an, dass sie in Windeseile entworfen wurde. Das Innere ist noch immer verseucht und hochgefährlich, die Brennelemente wurden ja nie entfernt.
Der alte Sarkophag ist brüchig
Daneben steht schon die neue, über 100 Meter hohe Schutzhülle, sie mutet beinahe elegant an. Kosten der Konstruktion: zwei Milliarden Euro, die von internationalen Geldgebern stammen. Die Hülle soll im Herbst über den alten, brüchigen Sarkophag geschoben werden. Die Geigerzähler zeigen hier schon acht Mikrosievert - Ian ist ein bisschen nachdenklich geworden:
"Da wird dir schon klar, mit was für einem gefährlichen Ding wir da spielen. Als Europäer aus dem Westen denkt man ja: Atomenergie ist sauber und sicher. Aber wenn etwas schiefläuft, haben die Verantwortlichen keinen Plan, was sie tun sollen. Das wäre in Sellafield oder in Deutschland oder Frankreich doch wahrscheinlich das gleiche. Ich war eigentlich für Atomenergie, bis heute..."
Nach einem späten Mittagessen in der Kantine für die Sarkophag-Arbeiter geht es noch nach Prypjat, in die ehemalige Stadt der Kraftwerksbediensteten, heute eine Geisterstadt. Die Kommunisten wollten die Arbeiter hier verwöhnen: Riesenrad und Autoscooter stehen verlassen da, sie waren noch gar nicht eröffnet, als die über 40.000 Bewohner evakuiert wurde. Anders das Stadion und das große Hallenbad. Alles rostet, verwittert, verfällt.
Angeblich kaum Strahlenbelastung
Trotzdem führt Schenja die Gruppe in einen verlassenen 16-stöckigen Plattenbau, über die schmale Treppe sogar bis aufs Dach - mit Blick auf zugewachsene Wohnhäuser und in der anderen Richtung auf endlose Waldflächen. Über sie hinweg, nach Weißrussland, zog vor 30 Jahren die erste und größte radioaktive Wolke. Das damals so plötzlich zerstörte Leben lässt die Fantasie wandern, auch beim Mexikaner José: "Hast du vorhin das Klavier gesehen in dem einen Zimmer? Der Besitzer hat bestimmt gut gespielt. Daneben das Kinderzimmer mit der Puppe, wo wahrscheinlich seine Tochter gelebt hat."
Beim Verlassen der 30-Kilometer-Zone müssen alle durch eine Schleuse. Die Hände werden auf Metallflächen gelegt, und ein Lämpchen zeigt grün: keine erhöhte Radioaktivität. Schenja meint: Die Strahlenbelastung, die jeder Teilnehmer heute abbekommen habe, sei nicht mehr als auf einem Flug von Kiew nach Paris.